Während ich vor dem Start noch meinen Sicherheitsgurt anlege, hat die Frau auf dem Sitz vor mir bereits ihre International New York Times aufgeblättert. Sie liest einen Artikel mit dem Titel: “A popular and pragmatic Tsipras emerges” (etwa: “Tsipras entpuppt sich als pragmatisch und beliebt”). Ich dagegen habe einen Wunsch: Dass während meiner Reise niemand über Tsipras oder die Rezession oder das Referendum oder Sparprogramme oder Wahlen spricht. Aber das Gegenteil sollte der Fall sein: Fast jeder Einzelne, den ich auf meiner kurzen Reise traf, hat über Griechenland und seine Krise gesprochen. Tatsächlich war es wohl dumm von mir zu denken, es könnte anders sein. Denn als griechischer Journalist aus Athen habe ich in den vergangenen sieben Monaten nichts anderes getan: Ich habe über Griechenland und die Syriza-Regierung berichtet, auch für die ausländische Presse - und zwar so ruhig und so detailliert wie es nur geht. Und deshalb haben mich die Krautreporter eingeladen, die andere Seite der griechischen Saga zu betrachten, die deutsche Seite, der Brüssel nahe ist. Und Athen weit weg.
Im Flugzeug auf meinem Weg zu fast einer Woche in Berlin gehen die Sicherheitsgurt-Zeichen aus. Um mich herum beginnen mehr Passagiere in ihren Zeitungen über Griechenland zu lesen. Wie eine Epidemie verbreitet sich überall im Flugzeug die Beschäftigung mit der Krise meines Landes. Wir Griechen selbst haben nicht wirklich eine Vorstellung davon, wie wichtig die griechische Frage für Europa im Moment ist und das Ausmaß an Aufmerksamkeit, die die griechische Seuche bei unseren Nachbarn auf unserem Kontinent verursacht, denke ich. Die Griechen haben zwar ein Bild von der eigenen Bedeutung in ihren Köpfen, all die alten Klischees von Demokratie und Zivilisation, die Überzeugung, dass “Europa nicht ohne uns kann “. Möglicherweise aber ist auch der Rest der europäischen Bevölkerung tatsächlich an dem interessiert, was wirklich gerade geschieht in Griechenland – weil der Geburtsort der Demokratie der Funke sein könnte, der Europas Zerstörung auslöst. Und das war es, was ich herausfinden wollte.
Das erste, was nach der Landung auffällt: die Preise. Die S-Bahn-Fahrt vom Flughafen nach Berlin Mitte kostet 3,30 Euro. In Athen kostet die gleiche Fahrt 8 Euro. Ich befürchte, das falsche Ticket gekauft zu haben, aber egal: Ich bin auf dem Weg zu meiner ersten Verabredung. Gemeinsam mit Krautreporter-Herausgeber Sebastian Esser treffe ich Marcel Fratzscher, einen großen, breitschultrigen Ökonomen mit einer ruhigen und tiefen Stimme, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), einer der führenden ökonomischen Thinktanks in Europa, außerdem Professor für Makroökonomie und Finanzwissenschaft an Humboldt-Universität Berlin. Zuvor war Fratzscher unter anderem auch Chef der Abteilung Internationale Politikanalyse bei der Europäischen Zentralbank (EZB). Es gibt also jede Menge zu besprechen.
Der DIW-Präsident hat in früheren Interviews Alexis Tsipras als „sehr inkompetent, weltfremd und überheblich“ bezeichnet. Diese Meinung hat er noch immer nicht geändert, sagt er uns, im Gegenteil: Er beurteilt die Leistung des griechischen Ministerpräsidenten inzwischen noch härter. Nach Fratzschers Verständnis sei es die Aufgabe einer Regierung, ihrem Land zu dienen. Tsipras und seine Regierung hätten Griechenland in den vergangenen Monaten enormen wirtschaftlichen Schaden zugefügt: “Am Ende des vergangenen Jahres war die allgemeine Erwartung ein Wachstum von zwei bis drei Prozent für die griechische Wirtschaft. Nun ist sie wahrscheinlich um drei bis vier Prozent geschrumpft, wenn nicht noch mehr. Das ist das gesamte Ausmaß des Schadens, den Tsipras angerichtet hat”, sagt Fratzscher.
„Die griechischen Banken waren beim Stresstest der EZB Ende vergangenen Jahres gesund. Nun müssen sie mit wahrscheinlich 20 bis 25 Milliarden Euro rekapitalisiert werden – das entspricht 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Diese Rechnung zahlen nun die griechischen Steuerzahler.“ Allerdings weist er die Verantwortung für die neuen Schulden nicht der griechischen Regierung allein zu, sondern auch den Europäern, einschließlich der deutschen Regierung: “Wir haben seit 2010 drei große Fehler gemacht: Erstens hätten wir einen Schuldenschnitt machen müssen, in ähnlicher Höhe wie 2012 im Privatsektor. Der zweite Fehler: Das Programm war zu ehrgeizig, was die Fähigkeit und den Willen der beiden vorherigen griechischen Regierungen betrifft, Reformen umzusetzen. Das dritte Element: Die Regierung hätte die Reformen über einen längeren Zeitraum verteilen müssen, um die Haushalte in Ordnung bringen zu können. Dann wäre die Krise nicht so schwer ausgefallen.”
Nun war es aber gerade nicht Tsipras’ Schuld, dass diese Reformen nicht umgesetzt worden sind, wende ich ein. Seitdem das Programm vor fünf Jahren begann, haben die vorherigen Regierungen nichts reformiert. Zuerst sei er optimistisch gewesen und habe eine Syriza-Regierung begrüßt, sagt Fratzscher, weil sich für eine neue Partei mit neuem Personal eine gute Chance für politische Erneuerung geboten hätte. Sie hätte die Chance gehabt, das gravierendste Problem Griechenlands anzugehen: Die Schwäche der öffentlichen Institutionen: “Die Demokratie funktioniert nicht richtig. Politische Parteien sind dominiert von wenigen einflussreichen Familien. Das Steuersystem bevorzugt ein paar Familien und Sektoren.”
Das ist eine Seite der Geschichte, die andere ist: Die griechischen Bürger müssen die harten Sparpläne akzeptieren – Menschen, die immer weniger Geld zum leben haben. Sie haben die Regierung gewählt, um den Sparkurs loszuwerden. Ich frage den Wirtschaftswissenschaftler: Wie lange, denken Sie, ist es möglich in einer Demokratie so weiterzumachen? Wenn die Bevölkerung klar “nein” sagt in einem Referendum – wie kann dann drei Jahre weiter hart gespart werden? Marcel Fratzscher sieht nur drei Möglichkeiten:
- Die griechische Regierung verzichtet auf Hilfe und spart radikal – das würde eine Kürzung aller Staatsausgaben um 50 Prozent bedeuten.
- Die Europäer leihen den Griechen weiter Geld und verlangen als Gegenleistung weiteres Sparen, um möglichst bald wieder selbstständig wirtschaften zu können.
- Die Griechen beschließen per Abstimmung, dass die Europäer – also die französischen und deutschen Steuerzahler – weiter Geld bereitstellen, um die griechischen Haushaltslücken zu schließen.
Über diese Alternativen entspinnt sich nun folgender Dialog zwischen Fratzscher und meinem deutschen Kollegen:
Esser: „Aber der deutsche Finanzminister sagt: ‘Verlasst den Euro’. Ist das nicht eine weitere Möglichkeit?“
Fratzscher: „Ah! Genau! Menschen, die das behaupten, haben von Wirtschaft keine Ahnung.“
Esser: „Der deutsche Finanzminister weiß also nicht, wovon er redet?“
Fratzscher: „Absolut. Ich denke, dass ein ‘vorübergehender Grexit’ aus zwei Gründen Unsinn ist: Es gibt keinen temporären Grexit, genauso wenig, wie es eine temporäre Schwangerschaft gibt. Entweder man ist drinnen oder draußen. Der andere Grund ist, dass ein Grexit fürchterlich wäre für Griechenland. Er wäre zehnmal schlimmer als ein Austritt.“
Fratzscher beschreibt ein düsteres Szenario: Eine Währung, der niemand traut, und die schnell an Wert verlieren würde. Kapitalflucht aus der neuen Drachme, bei der Griechen all ihren Besitz in Euro oder Dollar anlegen. Firmen, die ihre Euro-Schulden nicht mehr bedienen können. Banken-Pleiten, tiefe Rezession und noch mehr Arbeitslosigkeit. „Manche Leute sagen: ‘Das alles gilt nur für eine Übergangszeit, ein oder zwei Jahre, dann gewinnt die griechische Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit zurück und alles ist wieder großartig.’ Das meine ich, wenn ich sage, dass sie nichts von Wirtschaft verstanden haben. Denn das würde nur stimmen, wenn Griechenland tolle Produkte herstellen würde, die es international exportieren könnte. Aber was kann Griechenland exportieren? Nur Tourismus und Landwirtschaft. Ein Grexit würde also absolut nichts bringen, denn er löst nicht die beiden großen Probleme: Schlechte Institutionen und eine Wirtschaftsstruktur, die international nicht wettbewerbsfähig ist.“ Für den DIW-Präsidenten ist die größte Herausforderung, das Vertrauen wiederherzustellen: „Vertrauen, dass Griechenland im Euro bleiben wird, Vertrauen ins Bankensystem.“
Aber der deutsche Finanzminister Schäuble bringt noch immer einen möglichen Grexit ins Spiel, also schadet auch er der Wirtschaft, oder nicht? Fratzscher sagt, die Drohung mit einem vorübergehenden Grexit habe der griechischen Wirtschaft enormen Schaden zugefügt: „Ich hoffe wirklich und appelliere an alle Politiker – Herrn Schäuble eingeschlossen –, dass diese Option vom Tisch ist.“ Fratzscher insistiert: „Das ist keine Mehrheitsmeinung in der deutschen Regierung. Herr Schäuble ist nicht der Kanzler. Frau Merkel hat sich nie so geäußert. Sie hat immer klar gemacht, dass sie Griechenland im Euro behalten will, und auch der Koalitionspartner hat das klar gemacht. Ich bin also auch der Ansicht, dass es Schaden verursacht hat, und falls Herr Schäuble es wiederholt, ist es dennoch keine offizielle Haltung der Regierung. Es ist nur die Meinung des Finanzministers und innerhalb der Regierung gibt es unterschiedliche Meinungen.“
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung feiert in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag – es wurde 1925 gegründet und konzentrierte sich anfangs auf Konjunkturanalyse. In Fratzschers Büro hängt ein riesiges Schwarz-Weiß-Foto von toten Schweinen. Es geht um den Schweinezyklus. Darunter steht „Kaufabschluss per Handschlag – Ein Ferkel wechselt den Besitzer, 1929“.Ich überlege kurz, eine Bemerkung zu dem Begriff P.I.I.G.S. zu machen, der im englischen auch als Abkürzung für die besonders verschuldeten Staaten Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien verwendet wird. Aber das wäre wohl nicht angemessen. Ich verlasse Fratzscher beeindruckt davon, wie gut er über die Lage in Griechenland Bescheid weiß. Andererseits: Warum sollte er das nicht tun?
Am Nachmittag will ich eigentlich zum Oranienplatz in Kreuzberg gehen und eine Veranstaltung mit dem Titel “OXI! Griechenland ist nicht allein!” besuchen. Dort will ich Josephine Witt wieder treffen, die 22-jährige deutsche Aktivistin, die EZB-Präsident Mario Draghi während einer Pressekonferenz am 15. April mit Konfetti beworfen hatte. Seit einigen Monaten lebt sie in Berlin. In Griechenland ist sie sehr beliebt, seit sie Draghi den furchteinflößendsten Blick aller Zeiten zuwarf. Dadurch wurde sie zum Gesicht des Protests gegen die „Dick-tatorship“, eine Diktatur, von der Griechen glauben, sie benutze Banken statt Panzer.Vor ein paar Monaten wurde sie in die griechische Satire-Nachrichtensendung „Al Tsantiri“ eingeladen und wir haben sie mit der Kamera durch Athen begleitet, wie folgendes Video zeigt:
https://www.youtube.com/watch?v=Osu3g3tyFzQ
Wir sprechen über die Solidaritätsbewegung in Berlin. Warum war die Soli-Demo so schlecht besucht? Josephine kennt nicht die gesamte Berliner Griechenland-Solidaritätsszene, aber: “Es stimmt, dass zu Solidaritätsdemonstrationen oder Kundgebungen zu diesem Thema die großen Menschenmassen fernbleiben„, sagt sie. “Das kann mehrere Gründe haben. Zum einen die Planung und Bekanntmachung solcher Veranstaltungen, die nicht viele Menschen erreicht, zum anderen die generelle Unlust der Menschen, an ‘klassischen’ Kundgebungen und Demonstrationen teilzunehmen, und selbstverständlich das Desinteresse der Menschen, sich für dieses Thema zu engagieren. Und mit ihren Worten trägt die Kanzlerin Merkel auch dazu bei, etwaige Betroffenheit an der Situation und Solidaritätsstimmung bei der deutschen Bevölkerung zu bremsen.”
Wir können das auch in Ruhe abwarten. Denn Europa ist stark, viel stärker als vor fünf Jahren zu Beginn der Europäischen Staatsschuldenkrise […].
Angela Merkel im Deutschen Bundestag am 1. Juli 2015
Josephine erklärt: “Auch wenn das Interesse der Menschen an dem Thema besteht, ist es eher zu einem geworden, dass im Boulevard grotesk verzerrt und in Fernsehdebatten bis zur Besinnungslosigkeit immer wieder in gleichen Phrasen abgespult wird, sodass die Reaktionen zu diesem Thema entweder mit Ressentiment unterfütterte Stammtisch- Parolen und/oder aber Langeweile und intellektuelle Kapitulation sind. Wenn die deutschen PolitikerInnen dann Entscheidungen fällen, die als ‘alternativlos’ gelten und den BürgerInnen gleichzeitig vermitteln sollen, Deutschland trüge an der Situation keine Verantwortung, sondern nähme höchstens die Rolle der helfenden Hand ein, so bildet sich keine Solidaritätsstimmung heraus. Die Menschen fühlen sich von der Krise überhaupt nicht tangiert und mit der Problematik nicht konfrontiert. Vielmehr verstärkt sich in der deutschen Bevölkerung der Irrglaube an eine rettende Austeritätspolitik nach dem vermeintlichen Grundsatz: ‘Der Schuldner hat die Schuld’.”
Dafür könnte es aber eine Lösung geben, sind wir uns beide einig. Möglicherweise könnte ein „deutscher Exit“ die griechischen Probleme für ganz Europa lösen. Josephine sagt: „Der deutsche Finanzminister und seine Berater, die wie er ausnahmslos Juristen sind, pochen vehement darauf, dass ‘Griechenland seine Hausaufgaben machen müsse’, meinen damit nichts anderes, als dass durch soziale Kürzungen, Kürzungen im Rentensystem, Mehrwertsteuer-Erhöhungen und Privatisierung die Schulden bei EZB, IWF etc. weiter zurückgezahlt werden. Dieses Vorgehen wird von ihm zwar als eine Lösung aus der Krise präsentiert – ist allerdings nichts weiter als eine Verschleppung der Krise und ein mehr oder weniger schneller Mord an den letzten verbleibenden Zellen griechischer Produktivität. Schäuble verzichtet darauf zu erwähnen, wie sehr der deutsche Finanzhaushalt bei ansteigender Schuldenlast in Griechenland profitiert. Es scheint mir, als hätte er, genauso wie die Institutionen, nicht das geringste Interesse daran, Griechenland tatsächlich zu helfen. Profite, die deutsche Exporte erzielen, werden von den südeuropäischen Ländern als Schulden bezahlt.“
Schäuble scheine einen Grexit in Betracht zu ziehen – da sollte ihm ein Schuldenschnitt eigentlich auch nicht wehtun, sagt Josephine. Und wenn man es bei Einführung ernst gemeinter Investitionsprogramme im gleichen Zuge schaffen würde, die maroden Strukturen der Korruption und Steuerhinterziehung in Kreisen der Oligarchen zu zerschlagen und diese zur Rechenschaft zu ziehen, hätte der Großteil der griechischen Bevölkerung zumindest wieder Luft zu atmen.
Wir vergleichen unsere beiden Städte, und alles beginnt mit dem Wetter. Sie sagt: “In Athen war das Wetter wesentlich besser. Es sind beides europäische Städte mit vielen internationalen jungen Menschen. Bei ihnen habe ich die einzige Hoffnung, dass sie die einstigen europäischen Ideen verstanden haben und mit ihrer Kreativität umsetzen können – wenn sie es denn wollen.”
Tassos Morfis schreibt für das Athener Online-Magazin Popaganda und arbeitet als Journalist für internationale Medien („die zahlen wenigstens“). Als Producer der Foto- und Video-Agentur FOS Photos produziert er Dokumentarfilme, zuletzt für den bekannten britischen Journalisten Paul Mason (Channel Four). Sein englischsprachiges Projekt Athens Live ist eine Art griechischer Krautreporter.
Das Aufmacher-Foto hat Martin Gommel ausgesucht (iStock / aprott)