Der Herr Bürgermeister und ich
Geld und Wirtschaft

Der Herr Bürgermeister und ich

Nach 32 Jahren Macht lässt man nicht leicht los. Selbst wenn es nur Waldkirch im Schwarzwald ist. Unser Autor wurde dort im Jahr vor Richard Leibingers Amtsantritt geboren und macht sich auf eine Spurensuche in seiner Heimatstadt.

Profilbild von Friedemann Karig

„Die Frau Schill, das weiß fast keiner mehr, die war zweimal deutsche Vize-Meisterin im Ringen! Ist ein bisschen her, aber wahr!“ So erzählt es Bürgermeister Leibinger, als wir uns verabschieden. Lachend kommt die Bäckerin aus der Backstube zum Händeschütteln. Ihr Personal putzt schon die Konditorei, in der wir bis eben saßen. Spät ist es geworden. Erst Kaffee, dann Kuchen, dann ein Viertele Gutedel. „Das weiß außer Ihnen wirklich niemand mehr“, sagt die ehemalige Ringerin. “Machen Sie´s gut, Herr Bürgermeister!“ „Wiedersehen, Frau Schill“, sagt der Bürgermeister. “Wiedersehen.“

Dann treten wir hinaus in die Stadt, die seit 32 Jahren seine ist. Aber nicht mehr lange.

Am 10. Juni wird Richard Leibinger den letzten Tag Oberbürgermeister von Waldkirch sein. 1983 wurde er das erste Mal gewählt; 1991, 1999 und 2007 im ersten Wahlgang wiedergewählt. 2015 ist er mit 65 Jahren zu alt, das Höchstalter bei einer Wahl beträgt 64. Also hört er auf, nach 32 Jahren am Stück. Als zweitdienstältester Oberbürgermeister der Republik. Als der „Leibi”, wie die Waldkircher ihn nennen. Als ewiger Oberbürgermeister Leibinger.

Ein halbes Menschenleben auf einem Posten, an einem Fleck. Wie schafft man das?

Der Ort dieser Geschichte ist überschaubar: Waldkirch im Breisgau. Große Kreisstadt, 274 Meter über dem Meeresspiegel, 16 Kilometer nordöstlich von Freiburg das Elztal hoch. Exakt 21.141 Einwohner in den fünf Stadtteilen Kollnau, Buchholz, Siensbach, Suggental und Waldkirch, ein Hausberg mit drei Skiliften, ein Fluss namens Elz, ein Orgelmuseum, eine Vergangenheit als Orgelbauermetropole. Der SV Waldkirch spielt derzeit Verbandsliga.

Meine Geburtsstadt.

Waldkirch im Breisgau

Waldkirch im Breisgau Foto: Malte Wandel

Waldkirch im Breisgau, wo ich 2002, mit 19 Jahren, beim Bürgermeister saß, um mich zu entschuldigen. Ein nicht mehr identifizierbarer Mitschüler, volltrunken am Rande einer verfrühten Abi-Feier, hatte ihn eine “besoffene Sau“ genannt. Und selbst der lockere Leibi ließ so etwas nicht auf sich sitzen. Beschwerde beim Rektor. Standpauke für uns. Aus Angst vor dem Entzug der Stadthalle für die offizielle Abiturfeier beschloss man eine persönliche Entschuldigung des Stufensprechers auf dem Rathaus.

Der Sprecher war ich.

„Herr Bürgermeister Leibinger“, fing ich also an, in der Hand einen von der gesamten Stufe unterschriebenen Brief. „In aller Form möchte ich mich…“ Er unterbrach mich: „Wissen Sie, ich ging ja damals auf eine reine Jungenschule. Und manchmal kletterten wir über die Mauer zur Mädchenschule. Aber erwischt haben sie uns nie.“ Aus seinen kleinen Augen blitzte er mich an. Wie um abzuschätzen, ob ich den Witz verstanden hatte. Ich lächelte. „Verstehe“, sagte ich unsicher.

Dann erzählte der Bürgermeister eine halbe Stunde Geschichten aus seiner Schulzeit. Auf den Grund meines Besuchs ging er nicht ein. Ich verließ sein Amtszimmer mit einem Grinsen. Und einer unschlagbaren Story für die nächste Hofpause.

Zur offiziellen Abiturfeier zwei Wochen danach kam er zu spät. Alle drehten sich um, Gemurmel, es wurde unruhig. Dann grüßte ich den Leibi von der Bühne: „Schön, dass Sie da sind, Herr Bürgermeister, dann können wir ja anfangen!“ Der gesamte Abiturjahrgang stand auf und klatschte.

Das war einer seiner Zaubertricks und fast ein Waldkircher Naturgesetz: Der Bürgermeister hatte die Stimmung immer im Rücken.


Schon als Richard Leibinger 1982 anfing, in Waldkirch wahlzukämpfen, hatte er die Jugend auf seiner Seite. Er verkörperte den frischen Wind, den sie sich im engen Tal wünschte. Fotos von damals zeigen einen jungen Schnauzbartträger, immer im Gespräch mit mehreren Menschen, gestikulierend, erklärend. Ein Jahr zuvor hatte er in Oberkirch kandidiert, ein bisschen weiter nördlich. Es war Zufall, er hatte den Sommerurlaub schon gebucht, aber dann traf er einen alten Juso-Spezel. „Du könnsch kandidiere in Oberkirch“, sagte der, “brauchsch kei Angschd habe, wirsch eh ned gwählt.“

Also trat er an, kam in den zweiten Wahlgang gegen den CDU-Kandidaten. “Dieser zweite Wahlgang war eine Sensation, ein super Wahlergebnis. Danach kamen viele Anfragen aus anderen Städten“, erzählt Leibinger.

Der Beruf des Bürgermeisters beginnt als Vertreter in eigener Sache. Wer nicht in einer Stadt aufwächst, in der er was werden kann, muss auf den Ruf der Parteifreunde warten, von irgendwoher. Dann muss er dorthin und in kürzester Zeit die Stadt für sich gewinnen. Als politisches Ein-Mann-Kommando. Als Zuhörer, aber auch als Macher. Leibinger ist genau so einer: verbindlich von der ersten Sekunde an. Engagiert, ohne beflissen zu wirken. Und ehrgeizig: „Nach Oberkirch hab ich gesagt: Einmal noch.“ Also kam er im August 1982 nach Waldkirch, wo der CDU-Kandidat für viele schon als gewählt galt. Seit dem Krieg hatte es keinen SPD-Bürgermeister mehr gegeben.

„Ich kannte niemanden hier. Also haben mir einige Stadträte wichtige öffentliche Sitzungsprotokolle zur Verfügung gestellt. Ich habe alles gelesen, dann die 30 größten Betriebe besucht, mir die Stadt erarbeitet.“ Im ersten Wahlgang liegt Leibinger 3,9 Prozentpunkte zurück. Stichwahl.

Eine Jungwählerinitiative sammelt 250 Unterschriften für ihn, so etwas gab es noch nie. „Der Wahltag lag schweinisch, direkt nach Ostern, wir konnten nicht mehr viel machen.“ Aber Leibinger beschließt zu kämpfen.

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Die letzten drei Tage macht er Hausbesuche in den Hochhäusern der Stadt: klingeln, warten, sprechen, klingeln. Er kann das Klingeln nicht mehr hören, egal, weiter klingeln, immer die Kärtchen dabei, vorgeschrieben, „Konnte Sie nicht erreichen“, mit Datum und Uhrzeit. Damit die Leute merken: Der kümmert sich. Der Mitbewerber schmeißt massenweise Broschüren in Briefkästen, unpersönlich. Ein Fehler.

Im zweiten Wahlgang schafft Leibinger, der Neue, der Underdog, knapp 47 Prozent. Weil ein dritter Kandidat mit gut zehn Prozent dabei bleibt, reicht das. Er ist Bürgermeister. Oder wie man auf Badisch sagt: Burgermeischda.


“Ich hätte nie im Traum daran gedacht, dass das hier 32 Jahre lang geht“, erklärt Leibinger heute und hustet. Die vier mal acht Jahre, die sieht man ihm an, sagen die Leute. Dabei hat er sich gut gehalten, die angegrauten Haare noch voll, nur die Stimme ist manchmal etwas brüchig vom vielen Schwätzen.

Manchmal, in der Konditorei, macht er mitten in einem Satz Pausen. Scheint nachzudenken. Sich zu sammeln. Vielleicht wartet er auch einfach. Er hat ja Zeit.

Dann wieder ist er blitzschnell, analysiert die diffusen Stimmungen im Städtle genau: “Ein paar Mal wollten sie mich auch weg ekeln. Abstimmungen versauen, von denen sie wussten, wie wichtig sie mir waren. Aber wenn dann die Arme hochgingen, haben sie blöd geschaut“, sagt er. Mehrheiten herzaubern konnte er wie kein anderer.

Partisanentaktik nennt er seinen Trick, schwierige Beschlüsse gegen Ende einer Sitzung zu legen, wenn alle müde sind. Oder zu bluffen, etwas könne durchaus mehr Geld kosten, als man bisher annimmt. Er lächelt, wenn er sich an besonders heikle Abstimmung erinnert: „Hinterher haben sie sich oft gewundert, wo ich die Stimmen her hatte.“

Vielleicht braucht es vor allem genau das: Timing. Ein Gespür für Menschen. Und Nehmerqualitäten.


Noch vor seinem Abitur 1968 in Offenburg gewann er den zweiten Preis eines Wettbewerbs: „Land und Wasser, goldener Boden“, ausgeschrieben im Offenburger Tageblatt. Die Professoren in der Jury wollten ihm den ersten Preis geben, aber das ging nicht, weil sein Vater SPD-Mitglied war. Es gewann die Tochter des CDU-Fraktionsvorsitzenden.

Es ist eine der Geschichten, die ihn geprägt haben: Da will jemand etwas gestalten, und man lässt ihn nicht. Also muss man sich vorher kümmern, dass man gelassen wird.

Leibinger studierte danach Raumplanung, bekam die Zusage für eine Stelle in Nürnberg vor seiner Diplomarbeit. Heute ist er Chef von 330 Mitarbeitern, 240 davon in Vollzeit. Die Stadt hat ein Budget von 50 Millionen und eine ganze Reihe von Eigenbetrieben, die Stadtwerke, eine Arbeitsvermittlung – es ist ein mittelständisches Unternehmen, das er führt. Ohne das jemals geplant zu haben.

„Ich wollte immer an die Fachhochschule gehen. Für eine akademische Karriere mit Praxisbezug. Und als Hobby: Kommunalpolitik.“

Ehrlich? Nie etwas Verrücktes gewollt? Nie ausgebrochen?

„Doch, eigentlich wollte ich Kunstgeschichte und Publizistik studieren. Aber mein Lehrer sagte zu mir: Bub, lass es bleiben, da studierst du Arbeitslosigkeit.“

Ein Träumer war er nie.


Umzingelt von Aktenstapeln

Umzingelt von Aktenstapeln Foto: Malte Wandel

Wir gehen ins Rathaus, um seinen Stabschef zu treffen: Herr Fliegner, Vorname Stephan, drei Jahre vor mir Abitur. Damals kannten wir uns. Er hat gesungen, ich spielte Gitarre, kurz auch zusammen in einer Band: Heavy Metal, Megadeth, Slayer. Er konnte kreischen wie die Großen.

„Singst Du noch?“, frage ich ihn. “Nur noch vorm Gemeinderat.” Alle lachen, der Bürgermeister, der Stabschef, ich.

Fliegner hatte keine Ambitionen auf Leibingers Nachfolge. Dazu müsse man schon geboren sein, meint er, und dass er ja beim Chef sehe, wie einen dieser Job auszehre.
„So lange an einem Ort, mit der Stadt verheiratet. Für mich wäre das nichts.“

Als ich aus dem Rathaus komme, laufe ich in das Mädchen, das ich damals zum ersten Mal küsste. Sie schiebt einen Kinderwagen, erkennt mich sogar und grüßt. Ich grüße reflexhaft zurück. Erst später fällt mir ein, wer sie war. Ist lange her.


Gemeinderatssitzung in der Mehrzweckhalle

Gemeinderatssitzung in der Mehrzweckhalle Foto: Malte Wandel

Am nächsten Abend ist Gemeinderatssitzung, in einer Mehrzweckhalle im Ortsteil Buchholz. Der eigentliche Ratssaal wird gerade renoviert, Stichwort barrierefreies Rathaus.

Es versammelt sich das Parlament der Stadt. Könnte aber auch ein der 30. Jahrestag eines Abiturtreffens sein: Wohlstandsbäuche, getönte Haare, Funktionskleidung. Eine fitte Rentnerin trägt Gesundheitslatschen. Nur der Bürgermeister und sein Stabsleiter sind im Anzug erschienen.

Nach und nach tröpfeln die Neuankömmlinge, viele Frauen, noch mehr Männer, in die kleine Halle, die ein Rechteck aus Tischen dominiert. Dann wird buchstäblich die Runde gemacht: Händeschütteln, Küsschen, lange nicht mehr gesehen. Fraktionen oder Feindschaften sind nicht zu erkennen. Man kennt sich, man schätzt sich. Zusammen kümmert man sich um die Stadt.

Der Bürgermeister ist durch den Seiteneingang gekommen, einen Blumenstrauß in der Hand. „Thomas“, winkt er den Hausmeister her, „besorg doch schnell noch Wasser“.

Eine langjährige Kollegin wird verabschiedet. Sie ist woanders Bürgermeisterin geworden. Glückwünsche, Fotos für die Presse. Leibinger freut sich für sie. Dabei weiß er, was sie erwartet.

„Oberbürgermeister klingt so toll, aber oft ist er auch Fußabtreter vom ganzen Städtle. Muss sich Samstag auf dem Markt anmachen lassen wegen irgendwas“, erzählt der Hausmeister, der als Vorsitzender vom Fanfarenzug stolz ist auf 32 Jahre guter Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister. „Dabei könnte er vom Intellekt auch Minister in Berlin sein.“ Dieses Gerücht ging immer: Der Leibinger, der bleibt nicht mehr lange, der will mehr.

Nur logisch, wenn jemand keinen Namen und kein Gesicht vergisst, aus dem Stehgreif geschliffene Reden hält, als „Workaholic“ gilt, wie der Hausmeister versichert. „Ich bin gebürtiger Waldkircher, aber er kennt die Verwandtschaftsverhältnisse hier besser“, sagt er. Dass der Leibinger eigentlich zu gut sei für die Kleinstadt, dass er auf dem Sprung sei, versuchten ihm seine Gegner immer wieder anzukreiden.

Einmal wollte er wirklich weg, 1993, zum Städtetag als Dezernent für Umwelt und Wirtschaft. „Aber da war ich auch grade zu Hause rausgeflogen“, erzählt er, die Scheidung von seiner Frau lief, es zog ihn „an die frische Luft“. Er hat kein Problem, heute davon zu erzählen, dass er gegangen wäre, wäre er in der SPD-internen Vorabstimmung nicht mit einer Stimme unterlegen.

„Ich hätte auch für den Bundestag kandidieren können, aber das wollte ich nicht. Hier hat man mehr Gestaltungsspielräume, wenn man bereit ist, in den vorhandenen gesetzlichen Grenzen zu arbeiten.“

Und das tat er: Schon 1998 gründete die Stadt die Stadtwerke und übernahm die Versorgung fortan wieder selbst, als erste Gemeinde in Deutschland. Über 35 Millionen Euro investierte man in Leibingers Zeit in Schulen, in Neubauten und Generalsanierungen, sparte einen Großteil Energie ein, als „Energieffizienz“ noch kein bundesweites Schlagwort war. Und sanierte die halbe Innenstadt.

So funktioniert das hier: Bevor man Neues aus dem Boden stampft, baut man eher bestehendes um. Statt neue Gesetze zu fordern, reizt man alte aus. Neue Flächen versiegeln? Dem Schwarzwald, der 66 Prozent der Fläche Waldkirchs einnimmt, Baugrund abtrotzen? Nein. Lieber schauen, was da ist und noch lange da sein wird. Bescheiden sein. Nach vorne schauen.

Man könnte das auch Nachhaltigkeit nennen, dieses Wort aus den Folien der Unternehmensberater. Das Kleine schaffen, statt nach dem Großen zu schielen – das musste und konnte Leibinger hier. Vielleicht hat ihn auch nie wirklich jemand gefragt, ob er etwas anderes will. Vielleicht wusste er immer, dass das Sprichwort stimmt: Dass der erste auf dem Dorf besser dran ist als der zweite in der Stadt.


Vielleicht kommen daher auch die Geschichten. Leibinger saß gern bis nachts an den Stammtischen, hörte zu, erklärte. Trank mit. Und schlief manchmal über seinem Glas ein. Das sah nicht immer gut aus.

„Manchmal hat er sich die Stadt sicher auch schöngetrunken“, sagt jemand, der ihn von Anfang an kennt. Dass der Abiturient Leibinger „besoffen“ nannte, war damals pikant, denn Gelegenheiten zum Feiern gibt es in Waldkirch genug, auch und besonders für den Burgermeischda. Wie an der Fasnet, der badischen fünften Jahreszeit. Jedes Jahr musste Leibinger dem Narrenvogt Michael Behringer, zufällig als CDU-Fraktionsvorsitzender auch Leibingers Stellvertreter, den Schlüssel des Rathauses übergeben. „Der Bürgermeister war immer da“, sagt Behringer, „nur am Dienstag, zur Verbrennung der Fasnet, hat er manchmal Stellvertreter geschickt.“ Dazwischen traf man ihn in den Kneipen, als Narr verkleidet wie jeder andere auch. Das gehört doch hier dazu, sagen die Leute. „Aber man muss es auch wollen“, sagt der Bürgermeister.


Statt Berlin also Buchholz, statt Bundestag der Gemeinderat. Man ist angelangt bei Sitzungspunkt 2.8, Seite 278 des Haushalts: ein geplantes Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus, konkret die von einem Waldkircher in Litauen ermordeten Juden. Planungskosten für 2015: 15.000 Euro. Die Dachsanierung der Sporthallen, die Lärmbelästigung durch Jugendliche an einem Spielplatz, der Zuschussantrag für den Kanu Club Elzwelle, für die Stadtmusik und für die Sozialstation sind da schon besprochen.

Einer der wenigen Besucher gähnt herzhaft.

„Vergnügungssteuerpflichtig ist das hier nicht“, sagt Stabschef Fliegner.

„Also, das Mahnmal“, sagt Leibinger. Es ist ihm wichtig, das spürt man. Er hat lange für die Aufarbeitung der dunklen Zeit auch hier gestritten. Aber er will sich nicht in den Vordergrund drängen. Erst mal die anderen kommen lassen, das bringt oft mehr.

„Wir sollten das Geld lieber in die Zukunft statt in die Vergangenheit investieren“, sagt jemand von der CDU, „in Sprachkurse für Flüchtlinge zum Beispiel.“

Plötzlich wird es unruhig im Saal, es entbrennt eine hitzige Debatte: „Die Flüchtlinge können doch froh sein, in Waldkirch gelandet zu sein.“

„Mit so einem Mahnmal holt man sich Klientel in die Stadt, das man nicht haben will.“

„Das kann man so nicht stehen lassen!”

Für einige Minuten ist alles da, in dieser Mehrzweckhalle im Badischen: das Flüchtlingsdrama, der Holocaust, die Ungerechtigkeiten und Verbrechen dieser Welt. Die großen Fragen. Man bemüht sich um Hochdeutsch und Haltung.

Dann schaltet sich Leibinger ein und schlägt einen Kompromiss vor: erst einmal die Stelen des Mahnmals genauer planen, dann weitersehen. Gemurmel der Räte. Leibinger wippt mit dem rechten Fuß. Man hört ihn atmen, dann fragt er: „Können wir dann?“

„Wie viel denn jetzt?“

Leibinger berät sich kurz mit dem zuständigen Ingenieur aus der Verwaltung, dann sagt er: „10.000, ist das ein Kompromiss?“ Die Arme gehen hoch. „Damit ist das beschlossen.“ Jemand aus der Verwaltung hat nicht zugehört: „Wieviel?“

„Das zieh ich Ihnen alles vom Gehalt ab“, sagt Leibinger. 32 Jahren übersteht man hier ohne Ironie nicht.

Die Arme gehen hoch.

Die Arme gehen hoch. Foto: Malte Wandel


Als wir am nächsten Tag durch seine Stadt gehen, für die Fotos, kommen wir keine zehn Meter, schon ruft jemand: Herr Burgermeischda! Er bleibt stehen, lässt sich verwickeln und verwickelt selbst in Gespräche über die Sanierung der Innenstadt oder über die durchschnittliche Verkaufsfläche des Einzelhandels.

Mindestens aber sagt er „Schönen Abend noch“ und den Namen des Bürgers, der Bürgerin. Wie bei einem Ratespiel schafft er die volle Punktzahl, kennt jeden. Ich kenne fast niemanden mehr.

Auf ein letztes Bier ins Wirtshaus. Noch einmal erzählt er: „Schlafstadt“ habe man nie sein wollen, auf eine vernünftige Entwicklung gesetzt, als erste Gemeinde die Stadtwerke zurückgekauft, Beispielhaftes geschaffen. Er kann zwei Stunden spannend von Gemarkungen und Bebauungsplänen erzählen, von Windrädern, die zu laut sind, und sturen Minderheiten dagegen, die besser leise wären.

Aber was macht er danach?

„Eigentlich war mal vorgesehen, dass am letzten Arbeitstag der Möbelwagen dasteht.“ Doch dann heiratete er vor neun Jahren noch mal, kaufte ein Haus nahe der Elz. Ihm wurde klar: Der Leibi wird bleiben. “Bei mir stehen dutzende Bilder ungerahmt, ich komme einfach nicht dazu.”

Um die will er sich kümmern und um das Georg-Scholz-Haus, benannt nach Waldkirchs berühmtesten Bürger, Maler und erstem Bürgermeister nach dem Krieg. Von Leibinger als Museum installiert, von seinen Feinden immer wieder torpediert, ist das Kunsthaus sein Vermächtnis. Auch beim neuen Bürgermeister wird er um Unterstützung dafür werben müssen. Und der wird ihn um Rat fragen.

„Ob er die Fäden loslassen kann“, sagt Stellvertreter Behringer, „werden wir erst noch sehen.“

Als Nachfolger stellte sich im März erst nur ein Kandidat zur Wahl. Dann doch noch zwei. Gewählt wurde der SPDler, Roman Götzmann. Mit 33 Jahren genauso alt wie Leibinger bei seinem Antritt. Ob der Neue auch hat, was es hier braucht? Die Fähigkeiten, es ganz woanders zu schaffen. Die Bescheidenheit zu bleiben?

„Der wird seinen Weg gehen“, sagt Leibinger. Wenn er noch einmal 33 wäre, würde er es dann noch einmal machen? „Sicher. Ich habe Waldkirch nie bereut.“

Wir gehen. Leibinger grüßt noch einmal den halben Schankraum. „Wiedersehen“, sagt der Bürgermeister immer wieder. „Auf Wiedersehen.“

Es klingt wie ein Versprechen.


Aufmacherfoto: Malte Wandel