1. Der Begriff Fachkraft ist ungenau – und damit keine gute Grundlage für eine Diskussion.
Vor vier Jahren saß ich in einer Autobahnraststätte im Vogtland kurz vor der bayerischen Grenze und sah Sachsens damaligem Wirtschaftsminister Sven Morlok dabei zu, wie er mit Kuchen versuchte, die deutsche Wirtschaft zu retten. Der FDP-Politiker wollte mit einer PR-Aktion sächsische Berufspendler in ihre Heimat zurücklocken. Es sei jetzt schließlich Fachkräftemangel, und sie könnten deshalb ihre Jobs in Bayern quittieren und lieber wieder in Sachsen mit anpacken. Der Minister servierte öffentlichkeitswirksam das sächsische „Nationalgebäck“ Eierschecke; zwischen den Kuchentellern lagen Listen mit Stellenanzeigen. Die sah ich mir mit großem Interesse an. So viele freie Stellen im Osten? Ein Jobwunder! Mit Erstaunen stellte ich jedoch fest, dass unter anderem auch Bäcker und Friseure gesucht wurden, und dass viele der Angebote von Leiharbeitsfirmen stammten, die bisweilen gerade den Mindestlohn zahlen wollten.
Ich fragte mich: Was ist denn eigentlich eine Fachkraft? „Fachkraft ist jeder, der eine abgeschlossene Berufsausbildung hat“, sagte Minister Morlok. Die Bundesregierung definiert Fachkräfte als Personen mit einer „anerkannten akademischen als auch einer anerkannten anderweitigen mindestens zweijährigen abgeschlossenen Berufsausbildung”.
Fachkraft ist also jeder, der etwas gelernt hat – vom Altenpfleger bis zur Ingenieurin. Fachkräftemangel ist ein entsprechend schwammiger Begriff. Und genau das ist der Geburtsfehler der Debatte: Welche Qualität kann man von einer Diskussion erwarten, die sich um einen so ungenauen Begriff dreht? Worüber beziehungsweise über wen reden wir hier eigentlich?
2. Das Wort „Mangel“ ist genauso präzise wie der Begriff „Fachkraft“ - nämlich überhaupt nicht.
Eine „tickende Zeitbombe“ sei der Mangel, ein „Engpass“ drohe, die deutsche Wirtschaft sei in Gefahr. Wir werden alle sterben! Aber was ist eigentlich Mangel? Wer definiert, wann Mangel an etwas herrscht? Die Bundesagentur für Arbeit sagt: Bewerbermangel ist vorhanden, wenn auf 100 Stellen weniger als 300 passende Bewerber kommen. Klingt jetzt nicht so furchteinflößend. Und die Zahl der als unbesetzt gemeldeten Ingenieursstellen wurde bisher für die Statistik mit dem Faktor sieben multipliziert – da man annimmt, dass nicht jede offene Stelle gemeldet wird. Der Faktor sieben wurde jetzt auf fünf runterkorrigiert.
Das Wort „Mangel“ ist auch noch aus einem anderen Grund problematisch. Ob es an etwas mangelt, das ist mitunter eine Frage der Perspektive: Unternehmen haben teilweise lächerlich realitätsferne Erwartungen an ihre Bewerber, die bitte möglichst jung, zugleich berufserfahren, perfekt ausgebildet und dann auch noch billig sein sollen. Ja, dass es an solch passgenauen Phantasiegestalten mangelt – das bezweifelt wohl niemand.
Also: Wenn an etwas Mangel herrscht – an wem liegt das dann? Und: Wenn etwas nicht ausreichend vorhanden ist, müsste dann der Preis dieses begehrten Produktes nicht logischerweise ansteigen? Müsste Altenpfleger beispielsweise nicht längst einer der bestbezahlten Jobs Deutschlands sein? Selbst der „Fachkräftezuzug“ aus dem östlichen Europa, der den geringen Verdienst erklären könnte, hat die „klaffende Lücke“ noch nicht gestopft.
3. Wir können etwas lernen, wenn wir zugeben: Wir haben uns geirrt.
Ich hätte da eine verrückte Idee. Wenn die Fachkräftemangel-Debatte beendet würde, wäre das die Möglichkeit, ein Exempel zu statuieren: Politiker und Wissenschaftler, die in der Öffentlichkeit darüber reden, dass Prognosen nicht gestimmt haben, unnötige Ängste geschürt wurden, Geld verschwendet wurde – das wäre total abgefahren! Das wäre so abgefahren, dass es Menschen dazu bringen könnte, Politiker wieder ernst zu nehmen.
Möglicherweise könnten wir aus dem Beenden der falschen Debatte mehr lernen als aus der jahrelangen Diskussion um einen dubiosen Begriff. Womöglich könnten wir lernen, wie vermeintliche Fakten eine Eigendynamik entwickeln. Wir könnten lernen, was es heißt, Debatten ergebnisoffen zu führen und die eigene Fehlbarkeit einzukalkulieren. Nur Mut! Scheitern ist doch in den letzten Jahren erst so richtig in Mode gekommen.
Nur wenige Diskussionen unterscheiden sich so sehr von der alltäglichen Wahrnehmung der Bürger, wie das Gejammer über die tollen offenen Stellen, die einfach keiner haben will. Fast jeder kennt arbeitslose Akademiker, ewige Praktikanten, perfekt ausgebildete Langzeitarbeitslose, Menschen, die sich in drei verschiedenen Jobs aufreiben, weil keiner der drei allein die Miete sichert. Viele von uns haben diese Dinge selbst erlebt.
Wieso passt die Fachkräftemangel-Diskussion so wenig zu unserer Alltagserfahrung? Lassen sie uns gern über Ärztemangel sprechen. Lassen sie uns über fehlende Pflegekräfte reden. Aber lassen sie uns das ungenaue Unwort „Fachkräftemangel“ aus der Diskussion verbannen!
Aufmacher-Bild: flickr/horiavarlan/CC BY 2.0