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Wie geht es dem Islam in Deutschland, Thorsten?
Wie es „dem Islam“ geht…? Da fängt es schon an. Wen sollte man denn fragen, wenn man wissen will, wie es „dem Islam“ geht? Das ist das große Grundsatzproblem, was wir immer bei der Debatte haben. Es gibt niemanden, der sagen kann, was mit dem Islam in irgendeiner Form zu tun hat. Denn der Islam ist einfach ganz anders aufgebaut, als wir das so vom Christentum, insbesondere von der katholischen Kirche, her kennen.
Es wird häufig darauf reduziert, dass man sagt: Wir brauchen einen Papst, einen muslimischen Papst. Jemanden, den man fragen kann, der dann sagt: So und so ist das im Islam. Das gibt es aber nicht! Wenn ich wissen will, wie das im Islam ist, dann habe ich 50.000, vielleicht sogar 500.000 Stimmen, die alle irgendwie unterschiedlich sind und die alle irgendwie Islam sind. Also die Frage „Wie geht es dem Islam in Deutschland?“ kann ich nicht beantworten. Ich kann vielleicht sagen, oder ich kann vermuten, dass es vielen Muslimen in Deutschland nicht so sonderlich gut geht.
Warum?
Weil dauernd über ihre Religion, dauernd mit gewissen Vorurteile behaftet über sie gesprochen wird. Und sie sich permanent damit auseinandersetzen müssen. Völlig egal, was sie zum Beispiel beruflich machen. Wenn jemand Jurist oder Mediziner ist und gleichzeitig Muslim, muss er oft trotzdem – sei es im privaten Umfeld, aber sei es auch auf der Straße, in Interviews, in Umfragen oder so – erklären, wie das denn so im Islam ist und wie man das denn so sieht. Das kennt man so bei Christen oder anderen Religionsgruppen nicht, dass man permanent gefragt wird.
Wenn es mal einen Terroranschlag gibt mit einem Islam-Hintergrund, kommt genau so etwas…
Ganz genau. Es passiert irgendwo etwas, und dann wird von vielen verlangt, sie sollen sich jetzt mal dazu positionieren. Und das ist halt etwas Neues. Das hat man so vorher oder früher nicht gehabt, dass man sich zu irgendeinem Anschlag, der „am Ende der Welt“ stattfindet, hier in Deutschland positionieren muss. Das ist das Eine. Man kann das natürlich kritisieren, aber man kann es natürlich auch umgekehrt sehen. Und das möchte ich gar nicht abtun. Es ist nun mal so, dass im Namen des Islam aktuell auch sehr viel Terror verübt wird. Die IS ist nur im Moment das aktuellste Beispiel dafür. Wir haben das über Jahrzehnte. Dass sich Leute Gedanken darüber machen, dass Leute auch Sorgen haben, das muss man verstehen. Das heißt, man kann das einerseits kritisieren, dass man sich als Muslim permanent distanzieren oder sich erklären muss, aber man kann es auch nachvollziehen, wenn wir als Gesellschaft Fragen an Muslime haben. Ja, das ist ein bisschen schwierig.
Gibt es denn Fragen, die quasi aus gesellschaftlicher Sicht legitim sind, die über den Islam zu stellen sind? Und was sind Fragen, die man eigentlich gar nicht stellen sollte, weil die unsinnig sind?
Fragen sind natürlich immer legitim. Die darf man auch immer stellen. Nur wenn Fragen nicht mehr Fragen sind, sondern wenn Fragen im Grunde schon bestimmte Botschaften transportieren wollen, wird es immer kritisch. Wenn ich den Leuten nicht erklären will oder kein Wissen vermitteln will. Sondern wenn ich eigentlich sagen will „Der Islam ist böse und jetzt erkläre mir mal, warum das so ist…“
Das heißt, ich versuche den Leuten Vorurteile unterzuschieben durch Fragen, die ich stelle. Das passiert häufig in Vorträgen oder wenn ich irgendwo auf Podiumsdiskussionen sitze, dass genau diese Fragen kommen, die eigentlich gar keine Fragen sind. Klassiker auch: Der Koran wird aufgeschlagen und „Hier steht das und das drin. Was soll das? Wie ist das zu verstehen?“
Den Leuten geht es im Grunde nicht darum, wie das wirklich zu verstehen ist. Sondern das ist so eine bestimmte Strategie, mit der sie immer wieder auftreten. Dass sie die Koranverse nehmen und sagen, da steht das und das an Gewalttaten drin. Und dann schalten sie im Grunde ab. Die Botschaft „Im Koran steht etwas Schlechtes drin“ reicht ihnen. Die Antwort darauf wollen sie gar nicht mehr hören. Und dann ist Fragen stellen natürlich etwas schwierig.
Das, was immer aus dem Koran zitiert wird, das kannst du auch mit der Bibel machen, oder?
Jeder, der mal in diese Texte hineingeguckt hat, der wird das sehen, dass man das kann. Gerade religiöse Texte – egal aus welchem Kulturkreis sie kommen – bedürfen immer der Auslegung, immer der Exegese. Die meisten Texte sind uralt! Tausende Jahre alt, hunderte Jahre alt. Sie sind alle in einer Zeit entstanden, wo wir als Menschheit noch ganz anders gedacht haben, wo wir viele Dinge gar nicht kannten, wo philosophische Fortschritte in der Erziehungswissenschaft, im Umgang, in der Psychologie, wo wir all diese Kenntnisse noch überhaupt nicht hatten! Wir waren noch auf einem völlig anderen Standpunkt.
In dieser Zeit sind bestimmte Religionen, bestimmte religiöse Texte entstanden. Und wenn ich hingehe und diese Texte einfach so, wie sie damals waren, nach heute hole und sage „So ist das!“, funktioniert das nicht. Das muss man Fundamentalisten sagen. Das muss man aber genauso gut auch Islamhassern, Islamkritikern oder schärfsten Religionskritikern sagen, dass das nicht funktioniert. Das funktioniert nur im Weg der Übertragung. Beispielweise eben durch Auslegung, durch Exegese. Ich muss mir angucken, was habe ich an Quellmaterial, wie wurde das damals verstanden und was bedeutet das für das Heute, für das Hier und Jetzt? Das muss ich immer tun. Das muss ich in 100 Jahren tun, das muss ich in 500 Jahren tun, das musste ich vor 100 Jahren tun und vor 500 Jahren musste ich das auch tun. Das ist ein fortwährender Prozess.
Was bei Fundamentalisten, die den Koran so auslegen, wie es da drin steht, kritisiert wird, machen Leute auf der anderen Seite dann auch, indem sie quasi fundamentalistisch herangehen und sagen: Guck mal, da steht doch das und das…?
Genau. Der Witz an der Sache ist eigentlich, dass Fundamentalisten oder Salafisten und Islamhasser genau dasselbe machen. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Die gehen mit denselben Prinzipien an die Texte heran, nur dass die einen das so auslegen, die anderen das so auslegen.
Die einen zu ihrem Vorteil, die anderen zu ihrem Nachteil.
Genau.
Was heißt Islamismus, Thorsten?
Islamismus ist eigentlich eine politische Ideologie – nicht mehr und nicht weniger. Damit kann man sich das am einfachsten merken. Islamismus ist eigentlich eine politische Ideologie, die sich die Religion des Islams zunutze macht.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagen?
Wenn man es mal kurzfassen will, nicht. Ich könnte natürlich noch ganz viel dazu sagen, weil es ganz viele unterschiedliche Strömungen des Islamismus gibt. Aber die wichtigste Unterscheidung, glaube ich, ist erst einmal, sich zu vergegenwärtigen: Das eine ist eine politische Ideologie und das andere ist eine Religion.
Gibt es da ein christliches Pendant zu?
Natürlich gibt es das. Man kann zum Beispiel hingehen und sich die CSU angucken. Die CSU und die CDU verfolgen auch eine politische Strategie, eine politische Ideologie, und berufen sich dabei aufs Christentum. Jetzt werden viele sagen: Was macht der da, setzt die CSU gleich mit den Islamisten? So einfach geht das natürlich nicht! Da müssen wir differenzieren. Denn der Islamismus unterteilt sich natürlich in ganz viele Strömungen. Ganz viele. Nur was wir hier in der Diskussion immer präsent haben, ist die absolut radikale Variante, die mit Gewalt, Tod und fürchterlich barbarischen Akten, wie wir sie gerade in Syrien und Irak, wie wir sie bei den Taliban in Afghanistan, wie wir sie bei Boko Haram in Nigeria erleben – damit wird es in der Regel verbunden, das Wort Islamismus.
Es gibt natürlich auch islamistische Parteien, die überhaupt keine Gewaltanwendung propagieren und sich auch gegen Gewalt aussprechen. Und wenn man sich die anguckt, kommen diese schon näher an Parteien wie die CSU. Das heißt, wir vergleichen jetzt nicht CSU und Taliban. Gucken wir zum Beispiel nach Nordafrika. Dort gibt es durchaus islamistische Parteien, die sich selbstverständlich an die demokratischen Regeln halten, sofern die demokratischen Regeln dort existieren. Die aber sich definitiv nicht hinstellen und einen Dschihad propagieren. Sie wollen eine Gesellschaft bauen unter Berufung auf islamische Regeln, die aber dazu keine Gewaltanwendung anwenden wollen.
Du hast gerade Dschihad gesagt. Was ist der Unterschied zwischen Islamismus und Dschihadismus?
Dschihadismus ist im Grunde eine Form des Islamismus, die sich aber gezielt für Gewalt ausspricht und auch gezielt für den Einsatz von Gewalt ist – und zwar wiederum unter Berufung auf religiöse Quellen. Das heißt, Dschihadisten wollen auch die Gesellschaft verändern. Sie wollen auch eine neue Gesellschaft formen.
Nur mit Gewalt?
Aber mit Gewalt, genau.
Gibt es ein deutsches Pendant zu, also irgendwie in der deutschen Geschichte?
In der klassischen Form nicht. Man kann natürlich vieles konstruieren. Wenn man in Europa bleibt, wenn man sich die Kreuzzüge anguckt beispielsweise, oder die Kreuzritter, da gibt es auch Überlegungen, wo eben eine religiöse Überzeugung mit Gewalt kombiniert wurde. Nur gibt es dafür nicht so Schlagworte, wie wir es eben mit dem Islam haben. Im Übrigen auch ganz schön: Wir sprechen immer von Islamismus, aber nicht von Christentumismus oder…
Christianismus?
Christianismus hört man selten.
Weil es den nicht gibt?
Doch gibt es. Aber dann nennen wir es christlichen Fundamentalismus, beispielsweise. Oder wir nennen ihn… Ja, wie nennen wir ihn eigentlich? Radikale Evangelikale oder so etwas. Ich weiß es nicht…
Gibt es in Amerika.
Ja, in Amerika. Das ist auch nochmal ein Unterschied: Die meisten wenden natürlich keine Gewalt an, wie es ISIS oder Boko Haram oder die Taliban machen. Aber natürlich gibt es unter denen auch Gewaltbereite. Die Strömung ist nur nicht so präsent. Aber von der Denke, von der fundamentalistischen Herangehensweise an die Religion, gibt es natürlich schon einige Überschneidungen beim Thema Islam. Wir müssen auch sehen: Nicht jeder Fundamentalist, selbst wenn er die Religion sehr streng auslegt, ist gleich auch gewaltbereit. Es gibt auch schon Überschneidungen oder zumindest Ähnlichkeiten zwischen den Entwicklungen im Christentum und den Entwicklungen im Islam. Fundamentalismus ist übrigens auch ein christlicher… Kommt aus dem christlichen Kontext.
Das Einzige, was die CDU, die CSU und die bibeltreuen Christen gemeinsam haben, ist, dass sie sich christlich nennen und irgendwie auf einer christlichen Wertebasis Politik machen wollen?
Genau. Also zumindest das in ihre Politik miteinbeziehen wollen. Dabei haben sie natürlich auch unterschiedliche Herangehensweisen. Die Partei der bibeltreuen Christen geht natürlich anders an das Christentum heran, als es die CSU beispielweise macht. Da gibt es auch feine Unterschiede. Aber grundsätzlich, vom Prinzip her, ist es das Gleiche.
Warum wird dann immer von „dem Islamismus“ gesprochen, wenn es da hunderte Beispiele gibt?
Weil Differenzierung doof ist. Die Leute wollen keine Differenzierung. Auch wir Medienleute wollen wenig Differenzierung.
Ach so.
Wir wollen möglichst alles einfach machen. Das lernt jeder. Du hast das auch gelernt: Wenn du Journalismus betreiben willst, musst du etwas Schwieriges in einfache Worte übersetzen und es den Leuten darbieten oder darbringen. Was grundsätzlich auch richtig ist. Das hat aber den negativen Effekt, dass manchmal zu stark verkürzt wird. Und manchmal zu wenig Wert auf die Wortwahl gelegt wird.
Es gibt natürlich bei den Journalisten unterschiedliche Herangehensweisen. Wir haben Leute, die das auf einem eher seriösen Weg machen. Und wir haben Leute, die es eher auf einem boulevardesken Weg machen. Und wenn sich der eine hinstellt und kämpft und versucht, diese Differenzierung durchzuhalten, dann kommen zwei, drei Sendungen im Fernsehen oder wo auch immer, wo das alles wieder über den Haufen geschmissen wird. Das ist eine Sisyphusarbeit und fängt man wieder von vorn an. Und irgendwann gibt man schlicht auf.
Woran erkennt man einen boulevardesken Ansatz?
Indem eben zu stark vereinfacht wird. In dem ich zum Beispiel sage: Islamismus gleich ISIS, gleich Taliban. Punkt.
Das ist falsch?
Ja. Ich habe ich gerade versucht zu erklären, dass das nur ein Teilbereich ist. Zwar in unserer Wahrnehmung, durch unsere Medienberichterstattung, der prägende Bereich, aber: Wir reden immer von 1,5 Milliarden Muslime in der Welt. Das darf man nicht vergessen. Wir reden über eine Weltreligion. Und selbst unter diesen 1,5 Milliarden sind die Gewaltbereiten, die bei uns hier im Westen so fest im Kopf verankert sind, natürlich auch wiederum nur ein kleiner Teil. Aber das wollen wir nicht sehen. Wir wollen übrigens auch nicht sehen, dass die meisten Muslime… Wo leben die? Nicht in der arabischen Welt. Auch nicht in der Türkei.
Asien?
Genau. Indonesien. Das interessiert hier aber keinen Menschen. Wenn wir über Islam oder Islamismus reden, gucken und zeigen wir immer nur auf die arabische Welt. Sehen ganz viel, was kaputt ist in der arabischen Welt. Vereinfachen wiederum und sagen: Das hat alles mit dem Islam zu tun. Was natürlich völliger Blödsinn ist. Warum sollte eine gesellschaftliche politische Entwicklung in einer großen Region nur eine Ursache, nämlich die religiöse, haben? Warum? Völlig unerklärlich.
Gesellschaftliche Entwicklungen mit einem einzigen Grund, mit einer einzigen Ursache zu erklären, ist so gut wie unmöglich. Menschen sind so unterschiedlich, sind so vielfältig, haben so viele Facetten, haben so unterschiedliche Blickrichtungen auf einen einzelnen Gegenstand, auf ein einzelnes Objekt, dass es völlig unmöglich ist, es mit einer Sache zu erklären. Machen wir aber nicht. Wir vereinfachen. Und da sind wir wieder beim Thema: Wenn wir zu stark vereinfachen, führt das im Grunde auch dazu, dass wir heute viele Probleme einfach nur mit dem Schlagwort Islam erklären. Ehrenmord, Krieg, Terror.
Scharia.
Ja.
Hat die Scharia irgendetwas mit Islamismus zu tun?
Scharia hat auch etwas mit Islamismus zu tun.
Was?
Das Dumme an der Scharia ist nämlich genau das, was ich vorher über den Islam gesagt habe: Es gibt nicht die Scharia.
Auch nicht? Mist.
Nein. Und es gibt auch niemanden, der dir sagen kann: Das ist die Scharia und das steht da drin. Und trotzdem haben alle die Vorstellung, die Scharia ist so etwas wie das BGB, das Bürgerliche Gesetzbuch.
Wie die Zehn Gebote, oder wie?
Genau. Aufschlagen, gucken, Paragraph 1, das und das. Geht nicht! Warum geht es nicht? Weil wir keinen Papst haben unter den Muslimen, der sagen kann, das und das muss da drin stehen. Sondern ganz viele Päpste haben wir. Das ist mitunter auch ein Problem.
Kann ich auch ein Papst werden?
Du kannst auch Papst werden. Guck dir zum Beispiel die Salafisten an. Pierre Vogel. Pierre Vogel ist auch so eine Art Papst. Für manche jedenfalls. In dem Sinne, dass er den Leuten sagt, wie sie den Islam zu verstehen haben. Geh hin, studiere, mache dich wichtig als Muslim. Und gucke, dass dir ein paar Leute hinterherlaufen und dass dir ein paar Leute vertrauen und sagen: Das, was der Mann macht, ist richtig, kann man glauben. Dann wirst du auch ein kleiner Papst, kannst du auch deine Scharia bauen.
Was ist Salafismus?
Salafismus ist eine Form von Fundamentalismus. Also eine strenge Auslegung der islamischen Quellen.
Warum nennt man das nicht Fundamentalismus?
Weil es wiederum unterschiedliche Formen von Fundamentalismus gibt. Salafismus geht zum Beispiel auf eine bestimmte Denkrichtung zurück, die sich streng daran orientiert, was in den ersten drei Generationen nach dem Propheten Mohammed passiert ist. Also was die Leute der ersten drei Generationen nach dem Propheten Mohammed gedacht und gesagt haben.
Wann war das?
Im siebten Jahrhundert.
Die wollen wissen, was in den 50 Jahren vor 1.400 Jahren gewesen ist?
Richtig. Erzähl du mir mal, wie die Leute im Jahr 1890 gedacht haben… Oder was Bismarck gesagt hat.
Ist auf Youtube, wahrscheinlich…
Du kannst Youtube nutzen. Die konnten das früher in den letzten Jahrhunderten nicht. Aber genau das ist natürlich die Krux: Die Salafisten sagen, was die Jungs vor allen Dingen, im siebten Jahrhundert gedacht haben über den Islam…
Woher wollen die das wissen?
Das ist der Punkt. Warte… Aber das ist das Richtige, so musst du den Islam verstehen, sagen sie. Und um das zu wissen, da sind ja 1.400 Jahre, wie du richtig gerechnet hast, ungefähr dazwischen, und was in diesen 1.400 Jahren passiert ist, das erklärt mir, was davor, um das Jahr 622 und vorher passiert ist. Das erklären mir sozusagen diese Texte, die ich über 1.400 Jahre sozusagen bekommen habe im Laufe der Geschichte. Ich such mir als Salafist nun bestimmte Texte heraus und sage: Denen glaube ich. Die sagen mir, was bei den Prophetengenossen, wie sie heißen, was die gesagt haben, was die gedacht haben. Die anderen Texte, die mir überliefert wurden in diesen 1.400 Jahren, die interessieren mich nicht.
Warum nicht?
Weil ich die für blöd halte. Weil ich die für falsch halte. Weil die, wie es bei denen heißt, eine Neuerung sind. Die haben etwas dazu gedichtet. Die haben etwas in die Religion hineingetragen, was vom Koran und vom Propheten Mohammed so nicht angedacht war.
Ist das wie im Christentum mit der katholischen Kirche? Die hat sich auch den Papst hinzugedacht.
Da würde ich mich jetzt mal enthalten. So tief bin ich nämlich mit der christlichen Theologie nicht vertraut. Aber man kann zumindest in diese Richtung denken. Der Gedanke ist, glaube ich, nicht falsch. Aber wie das im Einzelnen zusammenhängt, da müsstest du mit einem christlichen Theologen sprechen.
Wir waren in Israel. Da gibt es orthodoxe Juden, die richten ihr ganzes Leben danach aus, was in der Thora steht und lesen das den ganzen Tag und ziehen sich auch sehr Old School an. Sind Salafisten quasi eine muslimische Version davon? Sind das orthodoxe Muslime?
Jein. Diese Vergleiche sind einerseits hilfreich, aber andererseits führen sie immer auch auf eine falsche Fährte. Im Grundsatz, sage ich mal, ist das das Gleiche. Im Grundsatz geht es bei Fundamentalisten oder Orthodoxen oder Strenggläubigen oder Konservativen, Strengkonservativen eben immer darum, möglichst nah an der ursprünglichen Religion zu sein. Sprich: Ursprünglich nah an der Zeit, in der diese Religion, an die ich jetzt glaube, entstanden ist.
Warum machen Menschen das?
Das hat meines Erachtens auch mit dem Unmut der Menschheit zu tun zu differenzieren, sich selbst Gedanken zu machen oder sich selbst über eine Sache Klarheit zu verschaffen. Die meisten haben es lieber, wenn alles schön abgepackt, häppchenweise präsentiert wird und ich muss dem Ganzen nur folgen. Ich habe sozusagen eine gewisse Autoritätshörigkeit. Ich brauche jemanden, der mir sagt, was ich tun soll, was ich glauben soll, was richtig und was falsch ist.
Diese Unsicherheit, nicht zu wissen, was richtig und falsch ist, selber entscheiden zu müssen, das macht vielen Menschen Angst. Weil das eine Unsicherheit für die eigene Existenz mit sich bringt: Was ist denn jetzt richtig? Ich will aber wissen, was richtig ist. Ich will nicht immer differenzieren. Das macht vielen Leuten einfach Angst. Das ist auch mit einer Verantwortung oder einem gewissen Engagement verbunden, das ich selber bringen muss. Ich muss mich informieren. Ich muss mir selber Gedanken darüber machen. Ich muss vielleicht nachlesen, ich muss gucken, ich muss forschen, was denn das Richtige ist. Das mach ich natürlich auch nur mit Dingen, die mir wirklich wichtig sind.
Da sind wir wieder beim Thema: Der Islam ist für viele Muslime in Deutschland sehr wichtig, wie Studien, Umfragen permanent belegen. Aber sehr viele Muslime haben einfach noch zu wenig Ahnung von ihrer eigenen Religion. Und dann kommt es eben auch häufig dazu, dass man sich Leuten anschließt, die man entweder durch die religiöse Erziehung zu Hause angeboten bekommt. Sprich: Den Imam in der bestimmten Moschee, die meine Eltern besuchen. Oder eben, dass man sich im Laufe der Entwicklung selber Leute sucht, denen man sich anschließt, weil man sagt: Die klingen für mich überzeugend und so weiter und so fort. Was im Grunde genommen auch okay ist.
Es bedeutet trotzdem, ich muss mir Gedanken darüber machen. Vor allen Dingen über etwas, was mir persönlich wichtig ist oder wovon ich ausgehe, dass es wichtig ist. Das erwarte ich zumindest. Vielleicht ist die Erwartungshaltung auch zu groß. Möglicherweise kann das auch nicht jeder erfüllen. Aber manche Menschen sind sicherlich in der Lage, sich das zu erfüllen und ein gewisses Erkenntnisstreben an den Tag zu legen. Das tun nur wenige.
Ich höre oft: ISIS hat gar nichts mit dem Islam zu tun. Oder: Das sind ja gar keine Muslime. Sind das Muslime?
Ja. Das ist Quatsch, natürlich hat das etwas mit dem Islam zu tun. Die Frage ist nur: Was hat es mit dem Islam zu tun? Und da sind wir an einem entscheidenden Punkt! Ich meine, deutlicher als ISIS kann man es nicht machen: Sie nennen sich selber Muslime, sie bezeichnen sich als die richtigen, als die wahren Muslime, sie berufen sich permanent auf Quellen im Koran. Natürlich hat das was mit Islam zu tun! Und ich glaube aber auch, dass das keiner wirklich in Abrede stellt. Jedenfalls keiner ernsthaft in Abrede stellt.
Das liest man immer wieder.
Man liest es immer wieder. Es wird auch immer so behauptet.
Selbst von Muslimen!
Ja, genau. Muslime und Nicht-Muslime sind auch Menschen. Die machen dieselben Fehler, die machen dasselbe falsch und dasselbe richtig. Das ist nicht der Unterschied. Vielen fehlt es einfach an einer grundsätzlichen Bildung über ihre eigene Religion.
Es gibt so Selbstläufer, die vor allen Dingen durch diese Debatte um Islamfeindlichkeit, die wir immer haben, auch in die Gesellschaft getragen werden. Es fallen dann bestimmte Parolen, die überhaupt nicht mehr in Frage gestellt werden. Wie eben die Polemik, Islam hätte nichts mit Islamismus zu tun. Oder Islamismus hätte nichts mit Islam zu tun. Oder ISIS hätte nichts mit Islam zu tun. Sagt in dem Sinne keiner! Wenn sich Moscheeverbände oder Muslime davon distanzieren, dann sagen sie im Grunde genommen: Das hat mit meinem Verständnis von Religion nichts zu tun. Dann muss ich das akzeptieren. Dann hat das auch nichts mit deren Verständnis zu tun.
Aber mit dem Verständnis von ISIS!
Ja, mit deren Verständnis hat es etwas zu tun. Das ist auch die Aufgabe von Wissenschaftlern, deutlich zu machen, was das mit Islam zu tun hat, dieser ISIS-Terror. Und ich sage: Der Islam ist die Legitimation. Der Islam ist das Vehikel, um Propaganda zu treiben.
Wenn ich mich ohne eine Ideologie hinstelle und Leute erschieße, Leute abschlachte, Gebiete erobere – wer soll mir da hinterherlaufen? Warum? Ich muss die Leute mit irgendetwas locken. Ich muss denen irgendetwas anbieten. Dazu brauche ich eine Ideologie. Davon gab es in der Geschichte unzählige Ideologien. Und in dem Fall ist es die Ideologie des Islamismus, des gewaltbereiten Islamismus, den ich den Leuten anbiete. Und damit stelle ich viele zufrieden.
Warum? Unwissenheit beziehungsweise Einfachheit der Lehre. Die Lehre ist sehr einfach. Man wird mir genau sagen, was ich tun soll, was ich nicht tun soll. Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, ich muss mir nicht das Hirn zermartern, was richtig und was falsch ist. Es wird mir vorgegeben. Ich sagte, einige Leute mögen so etwas. Deswegen sind sie schon mal für so etwas empfänglich. Gilt übrigens auch für Rechtsextremismus. Das sind auch einfache Botschaften wie „Ausländer sind doof“. Da brauch ich mir keine Gedanken darüber zu machen, warum. Die sind einfach so und das ist so, das übernehme ich. Und das machen die Salafisten auch.
Diese Gründe nutzen aber die Leute, die ISIS-Terroristen aus, um ein paar Menschen anzuziehen – im weltweiten Kontext sind es ein paar Menschen, aus unserem Kontext und Horizont sind es vielleicht viele Menschen , die sich der ISIS anschließen. Aber insgesamt sind es ein paar Menschen, die dadurch angezogen werden und die dort kämpfen. In der Regel geht es der ISIS natürlich darum, politische Macht zu gewinnen. Das ist das Hauptziel. Das muss ich nur verpacken, und das verpacke ich mithilfe der Religion.
Diese Verpackung, gibt es die auch in Saudi-Arabien?
Ja, genau.
Da gibt es doch irgendwie den Wah…
Wahhabismus, das ist so etwas Ähnliches. Das ist zum Beispiel etwas, was sehr nah am Salafismus ist. Das ist so eine ähnliche Ideologie, die sich in einigen Details unterscheidet. Aber da ist es genau dasselbe. Die Konvergenz von politischem Machtstreben auf der einen Seite und religiöser Ideologie auf der anderen ist genau dort und zwar schon im 18. Jahrhundert zusammengetroffen. Du hattest einen Stamm, Saud genannt, dessen Mitglieder die arabische Halbinsel unter ihre Kontrolle bringen, die ein Territorium bilden und dort Macht ausüben wollten.
Die wollten erstmal nur Macht haben auf der arabischen Halbinsel. Aber ohne etwas zu tun, ohne etwas anzubieten, funktioniert das nicht. Warum sollen alle diesem Stamm hinterherlaufen? Es gibt noch ganz viele andere Stämme. Warum dem? Und dann haben sie sich gedacht: Wir gucken uns mal um. Und auf der anderen Seite haben sie jemanden gesehen, der hieß Muhammad ibn Abd al-Wahhabs. Der Namensgeber des Wahhabismus. Der wiederum hat die Ideologie angeboten und gesagt: Ich habe eine Islamauslegung, an die ganz viele Menschen glauben und die richtig ist. Wir beide tun uns mal zusammen. Das ist eine „Erfolgsgeschichte“. Diese Verbindung zwischen den Anhängern des Muhammad ibn Abd al-Wahhabs und des Clans der Saud hält bis heute an. Das heutige Königshaus und die heutige Ideologie ist das Ergebnis dessen, was im 18. Jahrhundert passiert ist. Daran kann man es es sehr schön deutlich machen.
Ich möchte zur Islamophobie kommen. Ist Islamophobie das Pendant zum Judenhass, also zum Antisemitismus?
Nein.
Was ist der Unterschied?
Die Geschichte zum Beispiel. Antisemitismus in Deutschland und Europa hat eine 1.700 Jahre alte Geschichte. Und wie wir schon in dem Gespräch festgestellt haben, in Bezug auf den Islam kann das gar nicht möglich sein, weil der Islam ist gerade mal 1.400 Jahre alt. Wir haben hier also eine Vergleichsebene, die völlig auseinandergeht. Das steht auf unterschiedlichen Ebenen. Der Antisemitismus, das ist ein weiterer Unterschied, den man feststellen kann, hat natürlich völlig andere Auswirkungen gehabt. Da muss man nicht unbedingt an den Holocaust denken, in den das Ganze nachher geendet hat beziehungsweise gemündet ist. Sondern die Pogrome, die wir über die Jahrhunderte hatten, die Ausgrenzung, das ist eine Qualität, die wir heute im Bereich der Islamfeindlichkeit natürlich nicht haben. Zum einen muss man deutlich machen, dass das nicht zu vergleichen ist.
Nichtsdestotrotz, und deswegen ist deine Frage nicht komplett unberechtigt, wenn du den Vergleich ziehst, gibt es bestimmte Mechanismen, die durchaus im Antisemitismus auftauchen und die wir in der Islamfeindlichkeit wiederfinden.
Welche?
Zum Beispiel ist man früher hingegangen und hat sich die Thora angeguckt. Und all die bösen Stellen in der Thora oder in den jüdischen Gesetzesbücher angestrichen und gesagt: „Guckt mal, wie böse die Juden sind! Was da alles drinsteht. Die müssen Leute umbringen, die dürfen die töten!“ Und genau das machen wir im Moment – nicht wir, aber bestimmte Leute machen das – auch in Bezug auf den Koran und die anderen islamischen Quellentexte, die es gibt. Sie sagen: „Guck mal, was da drin steht! Die müssen lügen, die dürfen betrügen, die dürfen Leute umbringen. Die sind böse.“ Man guckt quasi in die religiösen Quellentexte rein, leitet daraus ab: Juden sind böse, Muslime sind böse. Ein Prinzip, ein Mechanismus.
Gibt es noch einen Mechanismus?
Es gibt noch ganz viele verschiedene Sachen, die man auftun kann. Zum Beispiel: Das, was heute auch immer als Unterschied deutlich gemacht wird, nämlich dass Juden tatsächlich unterstellt wurde, dass sie bestimmte politische Machtbestreben haben. Genau das macht man, das unterstellt man Muslimen auch. Die wollen Weltherrschaft, die wollen Macht über alle ausüben. Nun, bevor irgendwelche schlauen Leute sagen: Halt, da gibt es aber auch noch einen Unterschied… Ja, da gibt es noch einen Unterschied! Den Juden wurde das wirklich in erster Linie unterstellt.
Nun gibt es auch viele, die sagen: „Ich bin gar nicht islamophob und fremdenfeindlich. Ich sage einfach nur, dass es Fakt ist, dass im Islam die meiste Gewalt herrscht!“
Auf Seiten der Muslime gibt es nun mal definitiv mehr Leute, die das vermeintlich belegen wollen. Oder die das vermeintlich belegen, nämlich diese dschihadistischen Kräfte, von denen wir sprechen. Das gab es natürlich vergleichsweise nicht in den Zeiten des Antisemitismus, weil die Juden, wie wir auch wissen, bis zur Staatsgründung Israels ein Volk waren, was gar kein eigenes Territorium hatte, was überall ausgegrenzt war. Die Muslime wiederum haben ein großes Gebiet, wo sie leben, was sie beherrschen. Das ist nochmal ein Unterschied. Aber auch da zieht letztlich wieder etwas, was wir aus dem Antisemitismus kennen, nämlich dass Antisemitismus keine Juden braucht. Ein Antisemit braucht keine Juden, um judenfeindlich zu werden. Und ein Islamhasser braucht keine Muslime, um den Islam zu hassen oder um Muslime zu hassen.
Das ist genau die Krux. Das ist genau der Unterschied, der Islamfeindlichkeit von vielen anderen Formen der Menschenfeindlichkeit abhebt: Nämlich diese tatsächlich vorhandene Gewalt unter Berufung auf den Islam gibt natürlich Islamhassern ein Argument an die Hand, hinter dem sie sich immer perfekt verstecken können. Wenn du dich islamfeindlich äußerst, sagst du: Wieso bin ich ein Islamfeind? Ich bin kein Islamfeind! Guck dir das doch an, ich kritisiere doch nur das, was ISIS macht, ich kritisiere nur das, was die Taliban machen oder das, was Boko Haram macht. Das ist doch nicht islamfeindlich… Das ist doch selbstverständlich, dass man das kritisiert.
Hier sage ich: Natürlich ist das selbstverständlich. Aber du pauschalisierst. Du sagst, das was sie machen beispielsweise trifft auf alle Muslime zu. Die Ursache dessen, die Ursache von ISIS ist nur der Islam. Deswegen ist der Islam – Analogieschluss – böse. Aber ich hatte vorhin versucht zu erklären, dass eben die Ursache für ISIS nicht nur der Islam sein kann, sondern im Gegenteil: Die Ursache ist gar nicht mal der Islam, sondern die Ursache sind die politischen, soziologischen, gesellschaftlichen Bedingungen in der Region, in der die ISIS sich gerade aufhält.
Und der Islam ist das Marketingtool?
Ganz genau.
Zum Schluss: Was ist der Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten?
Stell es dir so vor wie Protestanten und Katholiken.
So einfach?
Würde ich sagen, ja. Es sind einfach zwei unterschiedliche Konfessionen.
Sind die bei ISIS zum Beispiel auch entweder schiitisch oder sunnitisch?
Die ISIS, da ist es wichtig, sind Sunniten. Und die meisten Opfer der ISIS sind Schiiten. Es gibt eine sehr große Konfrontation zwischen beiden Glaubensgruppen, die sich im Irak besonders manifestiert, weil ganz viele Schiiten in diesem Staat leben und auch ganz viele Sunniten dort leben. Oder wir hatten Saudi-Arabien, das Pendant dazu ist Iran. Saudi-Arabien und Iran stehen nicht wirklich gut zueinander. Eine Ursache dessen ist - mal abgesehen davon, dass es bei beiden auch um Machtstreben in der Region geht, wer den größten Einfluss in der Region hat - dass die Iraner Schiiten und die Saudi-Araber Sunniten sind.
Ich höre oft: Die Katholiken und die Protestanten haben das auch mal ausgefochten.
Genau.
Und nun müssten die das auch mal machen.
…dass wir nochmal einen Religionskrieg haben, das können wir, glaube ich, alle nicht hoffen.
Aber das meinen manche ernsthaft: Wir sollten uns da gar nicht einmischen.
Ja, aber die verkennen etwas: Wir haben das im 17. Jahrhundert gehabt. Mit einer Waffentechnologie, die mit der heutigen nicht wirklich vergleichbar ist. Und wenn ich solche Kämpfe, wie wir die vor 400 Jahren hatten, heute nochmal beschwöre oder haben will, bewegen wir uns vielleicht wieder bei der Bedrohung, mit der Angst, die wir im Kalten Krieg erlebt haben. Nämlich dass ein totaler Konflikt eben auch zu totaler Zerstörung führen kann. Und deswegen kann man auch diese Vergleiche nicht so ohne weiteres ziehen. Von daher sollten wir besser darauf achten, dass es eben solche Kriege und solche kriegerischen Konflikte nicht gibt beziehungsweise dass es nicht dazu kommt.
Thorsten Gerald Schneiders, Jahrgang 1975, ist promovierter Islamwissenschaftler und Nachrichtenredakteur beim Deutschlandfunk. Er hat zahlreiche Bücher zum Thema veröffentlicht, zuletzt im Oktober 2014 das von ihm herausgegebene Buch „Salafismus in Deutschland“.