Alles Gute kommt von oben, hat Amazon-Chef Jeff Bezos vor knapp anderthalb Jahren versprochen und kürzlich bekräftigt. Höchste Zeit, um mal nachfragen, wann es endlich soweit ist. Anruf beim Amazon-Kundenservice: Kann ich mir meine Bestellung auch per Drohne liefern lassen? „Ääähm, das ist noch in der Testphase“, antwortet die Mitarbeiterin am anderen Ende der Leitung. Es sei schon mal ein Beitrag bei RTL dazu gelaufen, den sie gesehen habe. „Aber uns liegen noch keine Informationen vor, wann es losgehen soll.“ Wenn man den Techniknerds und Marketingfachleuten im Internet glauben kann, muss es aber jeden Moment soweit sein.
Selten ist öffentlich so euphorisch über die Zustellung von Paketen diskutiert worden wie seit der Ankündigung von Amazon und (in Deutschland) DHL, ferngesteuerte Miniflugobjekte zu testen, die Bestellungen von A nach B bringen können.
Weil es so praktisch wäre, die bei Zalando bestellten Schuhe künftig einfach auf dem Balkon landen zu lassen, wenn man nicht zu Hause ist! (Oder zumindest amüsant, sich vorzustellen, wie gehetzte Drohnen beim Nachbarn im Erdgeschoss klingeln, damit der das hergeflogene Online-Schnäppchen annehmen kann.)
Die tatsächliche Zukunft der Paketlogistik ist deutlich unspektakulärer, verfügt aber über einen entscheidenden Vorteil: sofortige Einsatzbereitschaft. Sie hat drei Gummireifen, ein kleines Dach überm Sattel, dahinter eine Art Schrank auf dem Gepäckträger, der in Tokio als Ein-Zimmer-Wohnung durchginge, und steht im Erdgeschossbüro von Martin Seißler. Das ist gleichzeitig eine Garage und liegt mitten im Berliner Stadtteil Kreuzberg am Kottbusser Tor.
Auf jedem Gehweg parkt ein Lieferwagen
Von hier aus möchte der 38-Jährige mit einem kleinen Team die Transportbranche auf den Kopf stellen. Mit Fahrrädern, die so viel schleppen können wie kleine Robben-und-Wientjes-Laster (für Nicht-Berliner: Miet-Sprinter).
„Wir haben keine Kosten für Benzin, Versicherungen sind viel günstiger und Reparaturen sind im Vergleich zum Auto sehr gering“, sagt Seißler. Mit dem Start-up Velogista will etwas hinbekommen, das in vielen europäischen Ländern schon funktioniert: Lastentransport in der Stadt mit dem Fahrrad. Und mit fairen Löhnen für die Fahrer. „Wir sind ein soziales Unternehmen. Unser gesellschaftliches Ziel ist es, Fahrradlogistik in Deutschland zu etwas Selbstverständlichem zu machen und unsere Mitarbeiter so zu bezahlen, dass sie davon leben können.“ Was in der Branche keineswegs selbstverständlich ist.
Bevor er Gründer wurde, hat Seißler zum Thema Klimaschutz und erneuerbare Energien in Ost- und Südost-Asien gearbeitet. „Irgendwann war mir das zu weit weg. Ich hatte das Gefühl: Es gibt viele Themen, die ich auch in Deutschland aktiv angehen kann.“ Zum Beispiel die Frage, warum in der Großstadt permanent Gehwege und Straßen mit Lieferfahrzeugen zugeparkt sind.
Wer sagt eigentlich, dass man das Rad nicht neu erfinden kann? Mit einem Stuttgarter Fahrradhersteller hat Seißler genau das getan und den Velogista-Dreiradtransporter samt Aufsatz konstruiert, in den eine ganze Palette reinpasst. Vor zwei Jahren hat er seinen festen Job gekündigt und die ersten Kunden gesucht. Heute liefert Velogista mit drei Elektro-Lastenfahrrädern Bio-Obst und Gemüsekisten aus und fährt Touren für kleine Händler. Privatleute können die Fahrer samt Rad für kleine Umzüge mieten.
Klingt nicht gerade so, als müssten DHL, Hermes und DPD demnächst zu zittern anfangen. Aber es ist ein Anfang, der dringend nötig ist, wenn wir vermeiden wollen, dass unsere Städte demnächst im Verkehr ersticken.
Zu viel Platz im Lkw
Die Zustellbranche beteuert zwar, den CO2-Ausstoß durch modernere Fahrzeugtechnik zu senken. (Der Bundesverband Paket und Expresslogistik BIEK beglückwünschte sich kürzlich per Studie selbst dazu, so nachhaltigkeitsverrückte Mitglieder zu haben.) Aber das hilft wenig, wenn insgesamt mehr Laster auf der Straße sind, weil die Zahl der zu transportierenden Pakete drastisch ansteigt. Die Managementberatung Oliver Wyman hat vor zwei Jahren errechnet, dass viele Lkw, die Geschäfte und Einrichtungen wie Krankenhäuser in der Stadt beliefern, zu Beginn ihrer Tour oft nur zu 40 bis 50 Prozent ausgelastet seien, manchmal sogar weniger. Grund dafür ist, dass Sendungen nicht gebündelt werden und mehrere Lieferanten an einem Tag dasselbe Ziel anfahren.
Durch den Boom der Online-Händler verschärft sich die Situation. Die Wagen der Lieferdienste versperren sich gegenseitig den Platz in den Straßen. Neue Zustellformen wie die taggleiche Lieferung mögen für Kunden bequem sein, sorgen aber für noch mehr Verkehr, weil die Händler kurzfristiger planen müssen und Fahrzeuge nicht mehr voll kriegen. Bei der Vorstellung der Studie „Trends in der Handelslogistik 2015“ in Kooperation mit dem Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik stellte das EHI Retail Institute kürzlich fest: „Die immer kürzeren Transportzeiten und flexibleren Liefermengen sind nicht unbedingt förderlich für eine bessere Transportauslastung der Lieferfahrzeuge.“
„Eigentlich müssen wir davon wegkommen, dass immer mehr Anbieter mit eigenen Fahrzeugen immer weiter voneinander entfernte Punkte beliefern. Das ist wahnsinnig ineffizient und kostet mehr, als es müsste“, sagt Seißler. Aber so funktioniert das System gerade nicht.
Für immer „Pilotprojekt“?
Im Gegenteil. „Viele Leute sind mit den Paketdiensten nicht zufrieden, weil das Serviceversprechen gar nicht eingehalten wird.“ Manche Boten klingeln gar nicht erst, geben Sendungen sowieso beim Nachbarn oder im Paketshop ab – „weil sie die Arbeit gar nicht schaffen können“, sagt Seißler. „Mein Appell an die Händler ist immer: Gebt keine Preise inklusive Versandkosten an! Sagt den Kunden, was es kostet, das Paket zu versenden.“ Weil das eben nicht kostenlos ist, sondern bloß von jemand anderem bezahlt wird.
Wenn die Kunden hingegen eine Vorstellung von konkreten Preisen hätten, sei es möglich, für alternative Zustellmöglichkeiten zu werben, meint Seißler: „Dann könnten wir sagen: Bei uns kostet es zum Beispiel einen Euro mehr, dafür versprechen wir, wirklich zu klingeln oder motivierte Fahrer zu haben, die langfristig von ihrer Arbeit leben können.“
Dass Händler wie Zalando sich mit Kostenlosretouren etabliert haben und die Preise für die Zustellung permanent unter Druck sind, sind Gründe, warum in der Transportbranche so wenig Spielraum ist, um Neues auszuprobieren. Dabei hat Hermes schon vor Jahren die Zustellung mit Lastenfahrrädern getestet – und wieder aufgegeben. Inzwischen hat sich die Technik weiterentwickelt, Räder werden durch effektivere E-Bike-Motoren unterstützt, Smartphones erleichtern Routenplanung und Auftragsannahme.
Der Marktführer DHL testet gerade in Berlin und Frankfurt am Main die Express-Zustellung von kleineren Paketen per Lastenrad, aber wieder bloß in einem „Pilotprojekt“. Für größere Lieferungen sind die Räder nicht geeignet.
Fragt man Seißler, warum er nicht mit den großen Anbietern zusammenarbeite, sagt er: „Das geht nicht. Für so wenig Geld können wir nicht arbeiten.“ Wenn an Sub-Subunternehmer 50 bis 80 Cent für die Auslieferung eines Pakets bezahlt würden, sei das „nicht machbar“. „Viele [reguläre] Transportfahrzeuge sind derartig abgenutzt und haben so geringe Grundkosten, dass sich die Fahrer erst dadurch überhaupt erlauben können, zu so niedrigen Tarifen ihre Transporte anzubieten.“ Lediglich im Express-Bereich würden noch bessere Preise gezahlt.
„Logistik ist nicht sexy“
Auch deshalb konzentriert sich Velogista derzeit auf Gewerbekunden. Seißler sagt: „Unser Ziel ist es, die Flotte zu vergrößern.“ Dazu bräuchte es mehr Fahrräder, die sich Velogista erst leisten kann, wenn entsprechend Aufträge da sind, die für eine Auslastung sorgen. Wer die Idee gut findet, kann Mitglied in der Velogista-Genossenschaft werden und helfen, das notwendige Stammkapital aufzubringen, um den Betrieb am Laufen zu halten. Bislang bekommen die Fahrer Mindestlohn, das Organisationsteam im Hintergrund arbeitet noch ohne Bezahlung.
Im vergangenen Jahr sollte ein Crowdfunding für zusätzlichen Schub sorgen. Aber trotz zahlreicher Werbeaktionen ist das notwendige Geld nicht zusammengekommen. „Das ist zwar schade und die Zeit danach war erstmal hart, weil wir das Kerngeschäft zurückgestellt haben und das erst wieder aufholen mussten. Doch die Anstrengungen waren nicht umsonst.“ Weil die Kampagne immerhin für Aufmerksamkeit gesorgt hat.
Warum hat es dann nicht geklappt? „Logistik ist nicht sexy. Vielleicht sind wir auch daran gescheitert“, sagt der Velogista-Gründer. „Und natürlich fragen die Unterstützer: Wann kommt das bei mir an, wann hab ich was davon?“
In der Tat ist das das größte Problem des jungen Unternehmens. Durch die Konzentration auf Gewerbekunden kommen verhältnismäßig wenige Leute in Kontakt mit Velogista. Händler bieten den alternativen Zustellweg für ihre Kunden (noch) gar nicht an. „Meist fehlt die Möglichkeit, bei Online-Bestellungen eine umweltfreundliche Zustellung auszuwählen“, konstatierte der Verkehrsclub Österreich Ende des vergangenen Jahres in seiner Studie „Weniger Verkehr durch nachhaltigen Konsum“. „Ähnlich der Auswahlmöglichkeit Expresslieferung oder Normallieferung sollte es für die Bestellenden auch die Auswahlmöglichkeit ‘klimafreundliche Zustellung’ geben.“
Europas Städte denken um
Um das zu fördern, könnten Städte und Kommunen mit gutem Beispiel vorangehen, schlägt der VCÖ vor. Die [Stadt Graz](http://blog.holding-graz.at/sauber keit-reinigungsdienst/) setzt zur Straßenreinigung in der Innenstadt beispielsweise auch Lastenräder ein. In anderen Städten kommen die Fahrzeuge bei der Bewässerung städtischer Grünanlagen oder bei der Abholung von Papiermüll zum Einsatz. In Außerdem könne eine Lieferung per Lastenrad bei städtischen Ausschreibungen zur Priorität gemacht werden.
Dass sich dadurch große Lieferkonzerne überreden lassen, ihre Strukturen zu überdenken, ist aber eher unwahrscheinlich. Effektiver wäre eine konkrete Bevorzugung der umweltfreundlichen Lieferalternativen – zum Beispiel bei Nachtzustellungen zwischen 22 und 6 Uhr, über die in der Branche nachgedacht wird, um zu „einer zeitlichen Entzerrung des Anlieferverkehrs“ beizutragen, wie es beim EHI heißt.
Seißler ist überzeugt davon, dass die Politik noch einen Schritt weitergehen muss, indem sie Autos in Städten nicht mehr länger Vorrang vor Menschen einräumt. „Paris und Madrid arbeiten aktiv daran, negative Umwelteinflüsse auf ihre Bürger zu reduzieren, weil sich die Erkenntnis durchsetzt: Leute, die mitten in der Stadt wohnen, haben auch das Recht auf ein schadstofffreies Leben.“ Wenn Städte sich kümmerten, entstehe automatisch Raum, der von neuen Unternehmen, zum Beispiel in der Fahrradlogistik, genutzt werden könne, um Lücken zu füllen.
Sogar in London, das mit seiner Verkehrsdichte wahrlich zum Alptraum für Radfahrer werden kann, scheint das zu funktionieren. Dort kommt das Logistikunternehmen Gnewt (eine Abkürzung für „green new transport“) mit seinen Elektronik-Lastenrädern auf jährlich 1,5 Millionen Lieferungen und wirbt damit, im Stadtverkehr bei ähnlichem Ladevolumen flexibler zu sein als kleine Lkw. Außerdem ließen sich die CO2-Emissionen pro Paket nach eigenen Angaben um 62 Prozent senken. (Allerdings sind auch kleine Elektromobile auf vier Rädern bei der Lieferung im Einsatz.) In Paris hat sich La Petite Reine mit einem vergleichbaren Service etabliert.
„Der Einsatz von Fahrrädern für Logistikzwecke kann das Gesicht der Städte Europas nachhaltig verändern“, ist der VCÖ in seiner Studie überzeugt. Und den Drohnenstau über unseren Dächern, den sparen wir uns auf diese Weise auch.
Aufmacherfoto: Velogista