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So schnell wird aus einem „nein“ ein „ja“: Gerade noch warb die CDU im Wahlkampf für die Schuldenbremse, nun hat sie gemeinsam mit SPD und Grünen ihre Reform durch den Bundestag gebracht. Nun ist der Weg frei für 500 Milliarden zusätzlicher Schulden.
Schon vorher war die Debatte, ob Deutschland mehr Schulden braucht oder nicht, aufgeheizt. Gefühlt hat schon lange jeder eine Meinung dazu. Dabei gibt es viele Missverständnisse über grundlegende Mechanik von Staatsschulden. In diesem Text habe ich mich deshalb fünf Mythen über Staatsverschuldung gewidmet. Es geht um einen gelungenen Sklavenaufstand in Haiti und was passieren würde, wenn alle Staaten ihre Schulden zurückzahlen würden.
Starten wir mit einem der größten Missverständnisse zu Staatsschulden:
Mythos Nr. 1: Es wäre super, wenn Staaten ihre Schulden komplett zurückzahlen würden
Für Teilbeträge mag das stimmen. Aber wenn alle Staaten ihre Schulden zurückzahlen würden, bekämen wir ein echtes Problem. Denn unsere Finanzmärkte würden ohne Staatsschulden kaum funktionieren.
Amerikanische Staatsanleihen bilden das Rückgrat der Finanzmärkte. Der Grund: Sie gelten als extrem sicher und anders als Aktien schwanken ihre Werte kaum. Das macht sie zu einem Puffer, den jede Bank und jeder Pensionsfonds braucht. Die Ökonomin Barbara Fritz von der Freien Universität Berlin sagt: „Je stabiler und damit unauffälliger Staatsanleihen sind, desto besser.“ Also so lange, wie Anleger in die Wertpapiere vertrauen. Jeder Pensionsfonds hat Staatsschulden in seinem Portfolio, weil sie ein langfristiges sicheres Investment sind. Banken verwenden Staatsanleihen als Sicherheiten, wenn sie sich gegenseitig kurzfristig Geld leihen. Würden alle Staaten ihre Schulden zurückzahlen, müssten die Finanzmärkte einen Ersatz finden, einen, der genauso sicher und zuverlässig ist. Zunächst einmal wären Finanzmärkte aber viel unsicherer als ohnehin schon.
Neben ihrer Rolle als Puffer auf den Finanzmärkten haben Staatsschulden noch eine andere zentrale Funktion: Die Zentralbanken nutzen Staatsanleihen für ihre Geldpolitik. Sie kaufen oder verkaufen Staatsanleihen bei der sogenannten Offenmarktpolitik, je nachdem, ob sie die Geldmenge erhöhen oder senken wollen. Dadurch beeinflussen sie die Inflation. Während der Staatsschuldenkrise 2012 und zu Beginn der Coronapandemie kaufte die EZB Staatsanleihen in gigantischem Ausmaß, um so die wirtschaftlichen Folgen abzufangen – das war zwar politisch umstritten, aber in der Praxis erfolgreich. Nachdem der damalige EZB-Präsident Mario Draghi ankündigte, so viele Staatsanleihen zu kaufen, wie nötig sei, um die Märkte zu beruhigen („whatever it takes“), entspannte sich die Staatsschuldenkrise. Zwar war das Ausmaß der Verschuldung von Staaten wie Griechenland ein Problem. Aber wären sie überhaupt nicht verschuldet gewesen, hätte die EZB nicht eingreifen können.
Das bringt uns einem zweiten Glaubenssatz:
Mythos Nr. 2: Staaten zahlen ihre Schulden irgendwann zurück
Das passiert tatsächlich fast nie.
Um das zu verstehen, müssen wir uns kurz anschauen, was Staatsschulden sind: Entschließt sich die Bundesregierung, Schulden aufzunehmen, ist die Finanzagentur zuständig. Sie gibt Schuldscheine raus, die Bundeswertpapiere genannt werden und bietet diese einer bestimmten Gruppe von Banken in Auktionen an. Diese Banken kaufen der Finanzagentur die Schuldscheine ab und können sie auch weiterverkaufen. Die Zinsen auf Staatsanleihen muss die Regierung bezahlen.
Je nach Wertpapier kann die Laufzeit unterschiedlich sein, 30 Jahre oder 12 Monate betragen.
Läuft diese Frist ab, muss das Geld zurückgezahlt werden. Eigentlich. Stattdessen nimmt der Staat Schulden auf, mit denen sie die ursprünglichen Schulden begleicht. Die Finanzagentur gibt neue Bundesanleihen aus, mit neuen Zinsen. So steigt die Summe der Staatsverschuldung auf immer schwindelerregendere Höhen. Daran erinnert uns der Bund der Steuerzahler gerne. Im Jahr 2023 hatte Deutschland 2,45 Billionen Euro Schulden.
Weil Staaten potentiell unsterblich sind, ist die Gesamtverschuldung so lange kein Problem, wie Investoren Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit eines Landes haben. Für dieses Vertrauen ist nicht entscheidend, um wie viele Milliarden Euro Deutschland verschuldet ist, sondern ob es die Zinsen für seine Staatsanleihen in Zukunft zahlen kann. Weil das auch von der wirtschaftlichen Stabilität des Landes abhängt, wird Staatsverschuldung oft durchs BIP geteilt, um eine grobe Kenngröße zu bekommen. Die nennt man Staatsschuldenquote, aktuell liegt die deutsche etwa bei knapp 64 Prozent.
Weil Staatsschulden relativ zum BIP betrachtet werden, kann der Schuldenstand sinken, wenn die Wirtschaft wächst. Denn dann wird der Nenner größer. Ein Beispiel: Die USA mussten viel Geld ausgeben, um den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. 1945 lag die Staatsverschuldung bei 116 Prozent des BIP. 30 Jahre später war sie auf 33 Prozent gesunken. Die US-Präsidenten hatten aber kein umfangreiches Schuldenrückzahl-Programm aufgelegt, sondern die Wirtschaft des Landes florierte. Das soll nicht heißen, es sei egal, wie hoch sich ein Land verschuldet. Aber ob 500 Milliarden Dollar neue Schulden eine Bedrohung für die nächste Generation werden, weil sie unter der Zinslast leidet, hängt davon ab, in welchem Zustand.
Mythos Nr. 3: Bei Staatsschulden gibt es keine Klassenunterschiede zwischen Ländern
Nur anderthalb Jahre nach dem Ende der Französischen Revolution 1799 begehrten in Haiti Sklav:innen gegen ihre französischen Kolonisatoren auf – und gewannen. 1804 erklärte sich Haiti unabhängig. Diese Unabhängigkeit hatte einen Preis: Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich verlangte Reparationszahlungen, die drei Mal so hoch waren wie das damalige Bruttoinlandsprodukt des Landes. Dafür nahm das Land Schulden auf, die es fast 150 Jahre lang abbezahlte. Statt wie andere Staaten Schulden aufzunehmen, um Straßen oder Schulen zu bauen, musste Haiti für seine Unabhängigkeit bezahlen. Bis heute ist das Land eines der ärmsten der Welt. Das ist ein besonders plakatives Beispiel, wie ungerecht Staatsschulden sein können – und international eine Ausnahme. Nur wenige ehemalige Kolonien mussten solche Reparationszahlungen leisten.
Trotzdem bedeuten Staatsschulden für die USA etwas anderes als für Argentinien.
Barbara Fritz sagt, dass es eine Hierarchie zwischen Währungen gibt. Sie hat die Form einer steilen Pyramide. Auf welcher Stufe der Hierarchie sich die Währung eines Landes befindet, beeinflusst, wie stark sich dieser Staat verschulden kann. An der Spitze stehen die USA, die mit dem Dollar die Leitwährung stellen. Das bedeutet: Der Dollar wird weltweit zum Handeln genutzt, etwa bei Rohstoffen wie Öl. Und die US-Staatsanleihen gelten auch heute noch als krisensicher, viele Zentralbanken auf der ganzen Welt halten deshalb US-Staatsanleihen.
Gleichzeitig importieren die USA sehr viel aus der ganzen Welt. Weil deshalb die Nachfrage nach Dollars groß ist, können sich die USA viel mehr Geld zu niedrigen Zinsen leihen als andere Staaten. Das wird auch als das „exorbitante Privileg“ der USA bezeichnet.
In den letzten Jahrzehnten kam es zu vielen Verschiebungen. Die Leitwährung ist in einem instabilen Zustand und wird von Trump weiter unter Druck gesetzt. Einen Überblick über Vorteile und Schwierigkeiten vom Dollar als Leitwährung hat der Deutschlandfunk.
Allerdings lässt sich eine Leitwährung nicht einfach mal schnell ändern, weil das ganze aktuelle Finanzsystem darum gebaut ist.
Am unteren Ende der Pyramide befinden sich Länder des globalen Südens, wie Haiti. Auch wenn die meisten ehemaligen Kolonien mit der Unabhängigkeit keine Staatsschulden aufgedrückt bekamen, mussten sie sich doch verschulden, um einen funktionierenden Staat aufzubauen. So weit, so gewöhnlich. Weil niemand ihre noch völlig unsichere Währung wollte, mussten sie dafür auf ausländisches Geld zurückgreifen. Bis heute müssen sich die meisten Länder des globalen Südens in Dollar verschulden.
Dadurch sind sie viel stärker von der Bewertung ausländischer Investoren abhängig. Wenn etwa Argentinien Schwierigkeiten hat, Dollar aufzutreiben, um neue Schuldscheine auszugeben, verunsichert das Investoren, die ihr Kapital abziehen. Die Folge: Der Pesos wird abgewertet, für den argentinischen Staat wird es also noch teurer, Dollar zu kaufen. Das führt zu einer Abwärtsspirale, die im Extremfall zur Staatspleite führen kann – wie etwa in Argentinien in diesem Jahrhundert schon drei Mal.
Im Gegensatz dazu haben wir in Deutschland und der Euro-Zone einen großen Vorteil, der den meisten gar nicht klar sein dürfte: Wir können uns in Euro verschulden und müssen uns weniger Sorgen um Wechselkurse machen. Der Euro befindet sich in der Währungshierarchie oben, wenn auch hinter dem Dollar.
Mythos Nr. 4: Ein Blick aufs BIP reicht, um Schulden zu bemessen
Bulgariens Staatsverschuldung liegt bei rund 24 Prozent des BIPs, die von Japan bei 250 Prozent. Obwohl die japanische Schuldenquote zehn Mal höher ist, gelten japanische Staatsanleihen trotzdem als attraktiver als bulgarische. Nur zwei Beispiele: Die Rendite auf zehnjährige japanische Staatsanleihen liegt deutlich niedriger als bei den äquivalenten bulgarischen. Und die Ratingagentur Fitch bewertet japanische Staatsanleihen sicherer als bulgarische.
Das Beispiel zeigt: Neben der Staatsschuldenquote gibt es andere Faktoren, von denen abhängt, ob ein Land sich weiter verschulden kann. Dafür ist einerseits die Stärke der Wirtschaft wichtig. Japan ist das Land der Megacitys, der Schnellzüge, in dem Roboter Menschen im Alltag unterstützen, Bulgarien nicht. Aber auch: Japan hat eine international angesehene Währung, Bulgariens Lew ist fest an den Euro gekoppelt, dem es bald beitreten möchte. Und einen großen Teil der japanischen Staatsschulden halten kleinere japanische Kreditgeber. Die hauen nicht so schnell ab wie ausländische Großinvestoren. Gerade, weil Länder so unterschiedlich sind, reicht es nicht, auf die Staatsschuldenquote zu starren. Selbst wenn Haiti zu 25 Prozent verschuldet ist, bleibt es instabiler als Deutschland mit 70 Prozent des BIP. Barbara Fritz sagt: „Ich glaube nicht, dass wir allgemeine Indikatoren entwickeln können, ab wann Staatsverschuldung problematisch wird.“ Trotzdem hilft die Schuldenstandsquote als grober Maßstab, um einzuschätzen, wie problematisch die Verschuldung eines Landes ist, sagt der Ökonom Paul Steger.
Ein Faktor ist aber immer gleich: Staatsschulden werden dann gefährlich, wenn die Zinsen auf sie massiv steigen. So musste die griechische Regierung Anfang 2012 auf 10-Jahres-Anleihen Zinsen von 30 Prozent zahlen. Zinsen fraßen einen immer größeren Teil des griechischen Haushaltes auf – und nahmen den Politiker:innen die Spielräume, ihr Land zu gestalten.
Mythos Nr. 5: Die Maastricht-Kriterien sind ökonomisch durchdacht
Als ich zur Schule ging, war die Staatsschuldenkrise gerade am Toben. Vielleicht kann ich mich deshalb so gut an die Maßstäbe für Staatsverschuldung erinnern, die wir im Wirtschaftsunterricht lernten: Die Obergrenze für Staatsverschuldung von Euro-Staaten soll fix bei 60 Prozent liegen und Staaten dürfen sich nicht um mehr als drei Prozent in einem Jahr neu verschulden. Viele Euro-Länder überschreiten diese Werte – aber trotzdem sind sie wichtig. Denn in der politischen Diskussion wird immer wieder auf sie verwiesen. Sie ist die Zielmarke. Wer sie nicht einhält, bekommt Ärger von der EU.
Tatsächlich sind die sogenannten Maastricht-Kriterien willkürlich entstanden. Ein Mitarbeiter im französischen Finanzministerium kam auf die Idee mit der 3-Prozent-Neuverschuldung – und das vor allem aus innenpolitischen Gründen, wie die FAZ schreibt. Auch der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer erklärte der FAZ, dass es keine gute ökonomische Begründung für die 3-Prozent-Grenze gäbe. Er muss es wissen, Tietmeyer war bei den Verhandlungen dabei. Tietmeyer scheint darin allerdings kein Problem zu sehen, für ihn war es entscheidend, sich auf Zahlen zu einigen.
Auch für die 60 Prozent Maximalverschuldung gibt es keine fundierte wissenschaftliche Grundlage. Sie entsprachen damals dem Durchschnitt, auf welcher Höhe die damaligen Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft verschuldet waren. Das ist nur ein Beispiel, dass diese scheinbar neutralen Zahlen tatsächlich politisch verhandelt sind – Wissenschaft spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Das muss nicht schlecht sein, sagt der Ökonom Paul Steger: „Ein Vorteil an den Maastricht-Kriterien ist, dass sie leicht verständlich sind. Es braucht Regeln, die dazu führen, dass ganz unterschiedliche Länder an einem Strang ziehen.“
Auch Barbara Fritz sagt: „Gerade in der Eurozone ist es sinnvoll, dass es gemeinsame Verschuldungsgrenzen gibt, weil wir eine Währung teilen, aber keinen Staatshaushalt. Aber solche Regeln sind immer auch Kinder ihrer Zeit.“
Die SPD hätte wohl nie die Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben, wäre da nicht die Finanzkrise gewesen. Auch Zahlen der Staatsverschuldung hängen also von den politischen Umständen ab – und werden durch psychologische Faktoren beeinflusst.
Nachtrag: in einer vorherigen Version hieß es, Bulgarien sei ein Euro-Land. Richtig ist: Bulgarien möchte Euro-Land werden und seine Währung ist fest an den Euro gekoppelt. Wir haben das korrigiert.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Lars Lindauer, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert