Stelle dir ein Land in Europa vor, in dem Kinder im Schulunterricht vor Hunger ohnmächtig werden und in denen Lehrer:innen ihre Familie vom Gehalt nicht mehr ernähren können. In dem fast jeder zehnte Obdachlose studiert hat und auf der Straße landete, nachdem er erst seinen Job und dann seine Wohnung verloren hatte. So waren die Zustände in Griechenland 2012, als die Wirtschaft das fünfte Jahr in Folge schrumpfte. Die „Pleite-Griechen“ hatten einen guten Grund, verzweifelt zu sein.
Das zeigt: Wenn die Wirtschaft eines Landes langfristig schrumpft, ist das nicht nur ein Problem für Unternehmensbosse, sondern für alle. Warum ist das so? Das wollte Krautreporter-Mitglied Lisa wissen: „Ich verstehe immer noch nicht ganz, warum der Kapitalismus wachsen muss, um stabil zu bleiben.“
Sie wollte also verstehen, warum es einen Wachstumszwang gibt. Lisa schreibt, sie habe zwar schon einiges darüber gelesen, aber ohne es jemals richtig begriffen zu haben. Ganz ehrlich: So ging es mir auch. Denn geht es um Wirtschaftswachstum, ist die Debatte schnell kompliziert, voraussetzungsvoll und ideologisch aufgeladen.
Dann bin ich bei meiner Recherche auf das Buch „Der Wachstumszwang“ des Ökonomen Mathias Binswanger gestoßen. Dort erklärt er angenehm unideologisch, warum der Kapitalismus wachsen muss und inwiefern das ein Problem ist. Dieses Buch hat meinen Blick auf Wirtschaftswachstum verändert.
Bevor wir zur Theorie kommen, geht es aber erstmal um den Frankfurter Flughafen und um die Frage, warum gerade linke Politiker:innen auf Wirtschaftswachstum angewiesen sind. Und ich erkläre, warum Wachstum erst mit dem Kapitalismus kam und damit auch erst der Wachstumszwang.
Warum der Frankfurter Flughafen immer noch eine neue Landebahn braucht
Eigentlich hat der Wachstumszwang systemische Ursachen. Aber Binswanger betont, dass schon die meisten Unternehmen wachsen müssen. Ein Beispiel hat mir KR-Mitglied Andreas geschrieben. Er wohnt in der Nähe des Frankfurter Flughafens, von dem die meisten Passagiere in Deutschland hin- oder wegfliegen. Andreas schreibt: „Eigentlich steht immer noch ein (weiterer) Ausbau an. Startbahn West, neues Terminal, neue Start- und Landebahn und aktuell schon wieder ein neues Terminal.“
Wenn es Widerstand gibt, kommt immer das gleiche Argument: Wenn der Flughafen nicht weiter wächst, seien Arbeitsplätze gefährdet. „Im internationalen Konkurrenzkampf würden dann Fluglinien an andere Flughäfen abwandern (und der Rhein-Main-Airport könne dann gleich ganz dichtmachen oder so).“ Andreas hat Zweifel, dass diese Argumentation so stimmt.
Tatsächlich befinden sich im Kapitalismus alle Unternehmen einer Branche permanent in einem Wettbewerb miteinander, wer die größten Gewinne einfährt. Verliert ein Unternehmen Marktanteile oder schrumpft sein Umsatz, vertrauen ihm seine Aktionär:innen und Banken weniger. Um das zu verhindern, müssen Unternehmen besonders innovativ sein und immer wieder neue Technologien erfinden oder sich andere Wettbewerbsvorteile erarbeiten. Der Flughafenbetreiber Fraport etwa arbeitet daran mit der Deutschen Bahn zusammen, damit Passagiere bequem vom ICE in die Boeing 737 umsteigen können. Gegenüber schlechter angebundenen Flughäfen ist das ein Wettbewerbsvorteil.
Von diesem Wachstumsdruck mag es Ausnahmen geben, etwa bei kleinen Genossenschaften mit einem gemeinnützigen Zweck. Aber auf der Ebene der Volkswirtschaften gilt: Die meisten Firmen wollen größer werden. Besonders trifft das auf Aktienunternehmen zu, wie den Flughafenbetreiber Fraport (auch wenn der sich größtenteils in staatlicher Hand befindet). Denn die Aktionär:innen wollen, dass der Börsenwert steigt und sie hohe Dividenden, also Gewinnbeteiligungen ausgeschüttet bekommen. Das erhöht den Druck auf Manager:innen, besonders viel zu erwirtschaften und immer weiter zu wachsen.
Gerade linke Politiker:innen sind auf Wirtschaftswachstum angewiesen
Was mich an Binswangers Buch besonders überrascht hat: Auch einige der Lieblingsfreund:innen der Linken verstärken den Wachstumzwang. Gewerkschaften etwa brauchen eine starke Wirtschaft, um höhere Löhne erstreiten zu können. Und wächst die Wirtschaft nicht, gerät der Staat schnell in die Krise. Denn ob viele ihn als legitim erachten, hängt auch davon ab, ob er das Wirtschaftswachstum gewährleisten kann, schreibt Binswanger. Deshalb intervenieren moderne Staaten, sobald die Wirtschaft schwächelt, sei das wegen einer Finanzkrise oder einer Pandemie. Dann gibt es Abwrackprämien oder einen Doppel-Wumms, wie Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 ein 200 Milliarden Euro schweres Entlastungspaket nannte, mit dem die Ampel die gestiegenen Energiepreise abfing.
Eine Folge von solchen Interventionen: Auch der Staat hat in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Schulden gemacht. Solange die Wirtschaft wächst und damit auch die Steuereinnahmen, ist das kein Problem. Dann kann er immer weiter Schulden aufnehmen. Das ändert sich, wenn das Wachstum langfristig ausbleibt und der Staat deshalb mehr Zinsen auf seine Schulden zahlen muss. Dann geht ein immer größerer Teil des Haushaltes an Zinszahlungen drauf, und damit bleibt weniger Geld, um Brücken zu bauen, Bürgergeld zu bezahlen oder die Bundeswehr aufzurüsten. Je mehr Geld der Staat also ausgibt, desto mehr ist auch er auf Wachstum angewiesen.
Dazu kommt: Wenn unsere Wirtschaft nicht wächst, funktionieren unsere Sozialversicherungssysteme nicht mehr so gut. Solange die Wirtschaft wächst, steigt die Geldmenge und damit gibt es mehr Euros, die sich zwischen verschiedenen Parteien verteilen lassen. Bleibt die Geldmenge gleich, muss man einer Gruppe etwas wegnehmen, damit eine andere mehr hat. Das heißt, entweder müssen Arbeitnehmer:innen mehr abgeben, um Rentner:innen oder Arbeitslose mitzufinanzieren. Oder ihre Löhne steigen, dafür sinken dann aber die Gewinne der Unternehmen, wodurch die Wirtschaft in eine Abwärtsspirale geraten kann.
Es ist kein Zufall, dass es ausgerechnet jetzt, also in wirtschaftlich schlechten Zeiten, hitzige Diskussionen um die Höhe des Bürgergeldes gibt. Genauso war das auch Anfang der Nullerjahre, als die Sozialhilfe in das Hartz-IV-System überführt wurde. Wachstum erleichtert also Politiker:innen ihre Arbeit.
Wie der Wachstumszwang in die Welt kam
Aber das alleine kann nicht die komplette Erklärung sein. Denn das Wirtschaftswachstum ist eine relativ neue Erfindung. Jahrtausendelang beackerten Bauern ihre Felder, nähten Schneider Kleider und tischlerten Schreiner Kommoden, ohne dabei immer mehr herstellen zu müssen. Im Mittelalter waren Handwerker:innen sogar verpflichtet, feste Preise zu verlangen.
Binswanger erklärt, wie sich das änderte, als durch die industrielle Revolution der Kapitalismus entstand. Um den Wachstumszwang wirklich zu verstehen, müssen wir uns genauer anschauen, wie der Kapitalismus funktioniert.
Im Kapitalismus gehören die Unternehmen Privatleuten. Und das hauptsächliche Ziel der Firmen ist es, Gewinne zu erwirtschaften. Dabei konkurrieren sie miteinander, und die besten Ideen oder Produkte setzen sich meistens durch.
Bis zur Entstehung des Kapitalismus gab es vor allem zwei Ressourcen, die man brauchte, um Güter herzustellen: die Arbeit der Menschen und den Boden, aus dem die Rohstoffe kamen. Beide hatten ihre natürlichen Grenzen. Auf Feldern wächst kaum noch was, wenn man sie übernutzt. Und Menschen können vor Erschöpfung sogar sterben.
Mit der industriellen Revolution kam ein dritter Produktionsfaktor dazu: das Kapital. Kapital ist alles, was man benutzt, um Dinge herzustellen, außer der Arbeit und eingesetzten Energie selbst – zum Beispiel Maschinen, Werkzeuge oder Gebäude. Neue Maschinen und Werkzeuge revolutionierten die Arbeit.
In der Textilindustrie brauchte es nun viel weniger Arbeiter:innen, um Fäden zu spinnen und Stoffe zu weben. Benötigte man um 1800 noch 77 Spinnereiarbeiter:innen, um tausend Spindeln zu bedienen, waren es 1865 nur noch 14. Weniger Menschen stellten mehr her, schufen mehr Wert. Das legte die Grundlage für das Wirtschaftswachstum der vergangenen 150 Jahre.
Damit sich der Kapitalismus aber entwickeln konnte, brauchte es noch einen zweiten Faktor, der in den Modellen der meisten Ökonom:innen nicht auftaucht: moderne Banken.
Die entstanden im London des 17. Jahrhunderts. Damals begannen Goldschmiede, für ihre Kund:innen Goldbarren aufzubewahren. Als Beleg dafür gaben sie Goldsmith-Notes raus, eine Art Quittungen.
Als die sich als Zahlungsmittel etabliert hatten, begannen die Goldschmiede, auch dann solche Quittungen auszustellen, wenn niemand bei ihnen einen neuen Barren hinterlegt hatte. Sie hatten ja genug im Tresor, um im Zweifelsfall einen Barren rausgeben zu können. Damit brachten sie neues Geld in Umlauf, das es vorher nicht gegeben hatte. Auf einmal konnten Banken also Geld schöpfen. Bis heute erschaffen Geschäftsbanken jedes Mal neues Geld, wenn jemand einen Kredit bei ihnen aufnimmt.
Warum das so zentral ist?
Ohne Kredite hätten die Unternehmer:innen jahrelang sparen müssen, um einen neuen Webstuhl oder eine andere Maschine anzuschaffen – und hätten gleichzeitig weniger ausgeben können. Das ist wichtig, weil irgendjemand die Produkte kaufen muss, die mit den neuen Maschinen hergestellt werden. Oft ist und war dieser jemand eine andere Firma, ein anderer Kapitalist.
Nur weil die Kapitalist:innen ihre Investitionen durch Kredite vorfinanzieren konnten, konnten sie lauter neue Maschinen kaufen. Ich kann es auch nochmal anders formulieren: Kredite erlauben es, Geld auszugeben, das man nicht hat, aber in der Zukunft verdienen wird (hoffentlich). Kredite sind also kleine Zeitmaschinen. Ich kann mir heute kaufen, was ich mir morgen erst leisten kann. Damit aber geht eben auch eine Pflicht einher: Etwas Werthaltiges muss geschaffen werden. Es braucht Wachstum in der Zukunft. Denn sonst kann ich als Unternehmerin meinen Kredit mit den Zinsen nicht zurückzahlen.
Wieso der Kapitalismus Wachstum braucht
Es ist kein Zufall, dass es jahrtausendelang kein Wirtschaftswachstum gab – bis zum Beginn des Kapitalismus. Damit eine kapitalistische Wirtschaft und Gesellschaft stabil bleibt, muss sie wachsen.
Fassen wir die vier Gründe zusammen:
Erstens liegt es daran, dass Unternehmen im Kapitalismus das Ziel haben, möglichst hohe Gewinne zu erwirtschaften. Besonders gilt das für Aktienunternehmen. Für diese Gewinne braucht es einen steten Strom an neuem Geld. Ansonsten würde das bestehende Geld umverteilt werden, würde also an anderer Stelle fehlen. Dieser Geldfluss kommt aus den Bankkrediten, die Unternehmen für Investitionen aufnehmen. Durch sie schaffen Geschäftsbanken neues Geld.
Gewinne sind zweitens auch deshalb so wichtig, weil Unternehmen ihre Investitionen zu einem großen Teil aus Gewinnen finanzieren, die sie nicht ausschütten. Und auch Bankkredite bekommen sie auf Dauer nur, wenn sie zeigen können, dass sie einen Teil ihrer Investitionen selbst finanzieren können.
Drittens konkurrieren im Kapitalismus Unternehmen miteinander. Um ihren Untergang zu verhindern, versuchen Unternehmen möglichst, sich Vorteile gegenüber ihren Wettbewerbern zu schaffen.
Um in diesem Wettbewerb zu bestehen, gibt es viertens im Kapitalismus ständig neue Erfindungen. Unternehmen entwickeln Handys mit besserer Kamera oder besonders leckere Aufbackbrötchen nicht aus Idealismus. Sondern weil sie damit Kund:innen davon überzeugen können, ihr Produkt zu kaufen. Dieser Dynamik haben wir den technischen Fortschritt zu verdanken. Und wer nicht mitläuft, wird schnell abgehängt. So erging es beispielsweise der US-Firma Kodak, die den Umschwung auf Digitalfotos verschlief und 2012 Insolvenz anmelden musste.
Das Zusammenspiel dieser vier Faktoren sorgt dafür, dass die Mehrzahl der Unternehmen in einer Wirtschaft wachsen muss. Das gelingt aber nur, wenn durch Bankkredite immer mehr Geld ins System gepumpt wird.
Wächst eine Volkswirtschaft nicht, rutscht sie schnell in eine Negativspirale. Binswanger sagt mir im Gespräch: „Der Kapitalismus ist durch die Kredite ein auf Zukunft ausgerichtetes System. Und da gibt es eine Dynamik nach oben oder eine nach unten.“ Wenn nun einige große Unternehmen weniger Gewinne machen, kann sich das auf die gesamte Wirtschaft auswirken. Wenn beispielsweise ein niedersächsischer Autobauer namens Volkswagen Werke in Deutschland schließt, bekommen auch dessen Zulieferer weniger Aufträge. Und es braucht weniger Maschinen in Deutschland, mit denen sich Autos bauen lassen. Damit bekommen auch andere Firmen weniger zu tun, schreiben vielleicht rote Zahlen und müssen Leute entlassen. Die nun arbeitslosen Autoingenieur:innen können sich weniger leisten und kaufen deshalb weniger Kleidung und günstigeres Essen. Darunter leiden dann wieder Textilhersteller und Biomarktketten, die vielleicht ebenfalls Leute entlassen müssen. So kommt es zu einer gesamtwirtschaftlichen Abwärtsbewegung, die noch stärker wird, wenn alle befürchten, dass es der Wirtschaft schlecht geht und deshalb mehr sparen und weniger investieren.
Natürlich kommt es immer wieder zu Wirtschaftskrisen, wie etwa in Griechenland. Aber normalerweise interveniert dann der Staat, um sie möglichst schnell einzuhegen.
Ist Wachstum jetzt gut oder schlecht?
Lange Zeit spürten die meisten Menschen gar nicht, dass es im Kapitalismus einen Wachstumszwang gibt. Denn alle wollten, dass die Wirtschaft weiter wächst und es ihnen so immer besser geht. Wir besitzen heute etliche Gegenstände, von denen Könige früherer Epochen nur träumen konnten: Wir tragen ein Gerät in unserer Hosentasche, mit dem wir alle unsere Freund:innen jederzeit erreichen können und das einem (fast) jede Frage beantwortet. Wir essen für ein paar Euro die Speisen ferner Länder und können unsere Wohnungen heizen, ohne dass es nach Feuer stinkt. Wir wissen mehr über den Urknall und weit entfernte Galaxien als jemals zuvor. Sogar Krebs lässt sich heute oft heilen.
Inzwischen ist unsere Gesellschaft aber gesättigt. Unternehmen arbeiten mit lauter Tricks, um uns trotzdem zum Konsumieren anzuregen. Handys bekommen keine Updates mehr, wenn sie zu alt werden und Schuhe sollen gar nicht länger als zwei Jahre halten.
Deshalb wird Wirtschaftswachstum nun auch anders begründet: Wenn die deutsche Wirtschaft nicht wächst, wird der Standort Deutschland unattraktiv, Menschen verlieren ihre Jobs und der Staat kann nicht mehr vernünftig investieren. Das Wachstumsversprechen hat seinen Glanz verloren.
Binswanger bezeichnet sich selbst als Wachstumsagnostiker. Er sieht die Vorteile, die das Wachstum der Menschheit in der Vergangenheit gebracht hat. Aber in reichen Ländern wie Deutschland trägt es nicht mehr zum Glück der Bevölkerung bei und zerstört dafür die Umwelt.
Binswanger schlägt vor, den Wachstumszwang zumindest etwas abzumildern. Dafür will er Aktiengesellschaften reformieren, die er als einen zentralen Wachstumstreiber sieht. Er möchte die Laufzeit von Aktien auf 20 bis 30 Jahre begrenzen. Danach kaufen die Unternehmen die Aktien für das Geld zurück, das sie bei der Ausgabe dafür bekommen haben. Die Folge: Man kann nicht mehr auf Aktienkurse spekulieren, sondern nur noch darauf, wie hoch die Gewinnbeteiligungen in Form von Dividenden sind. Außerdem glaubt er, unsere Wirtschaft bräuchte Genossenschaften statt Aktiengesellschaften, weil die nicht rein gewinnorientiert arbeiten müssen. Das mögen interessante Ansätze sein, aber wie sehr sie den Wachstumszwang tatsächlich abmildern könnten, bleibt fraglich.
Aber das Dilemma ist ja auch groß. Wir befinden uns in einer toxischen Beziehung zum Wachstum. Wir brauchen es, aber viele mögen nicht mehr, was es mit sich bringt: eine drohende Klimakatastrophe für Produkte, die eher schlecher als besser werden. Würden wir aber ganz aussteigen, wären die Folgen unabsehbar.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger