Sechs Tage bei den Taliban
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Sechs Tage bei den Taliban

Als „embedded journalists“ erleben Kriegsreporter Afghanistan aus der Seitenscheibe eines Panzerwagens. Nagieb Khaja waren die Perspektiven im Gefolge westlicher Streitkräfte zu einseitig. Er schleuste sich stattdessen bei den Taliban ein. Eine Reportage von der anderen Seite.

Profilbild von Reportage von Nagieb Khaja, Afghanistan

Wir saßen auf unserem Sofa, es war Oktober, in wenigen Wochen wollte ich aufbrechen. Ich hatte meiner Frau einige Monate zuvor von meiner geplanten Afghanistanreise erzählt, ohne zu sagen, was ich wirklich vorhatte. Jetzt fragte sie mich zum ersten Mal.

„Was genau wirst du in Afghanistan machen?“

„Ich mache etwas über die Scharia-Gerichte in ländlichen Regionen, nichts Besonderes“, murmelte ich.

Karima hatte mich natürlich durchschaut.

Es gibt da ein seltsames Verständnis zwischen uns und meiner Arbeit. Keiner sagt viel, bevor ich aufbreche. Erst, wenn ich wieder zurück bin, kann ich erzählen, was ich mir vorgenommen hatte. So ist es am besten für uns. Ich erspare ihr den Kummer, und sie bewahrt mich davor, ein schlechtes Gewissen zu haben.

Um weiteres Nachbohren zu vermeiden, nahm ich die Fernbedienung und suchte ein Fußballspiel. Karima gab sich mit meinen knappen Sätzen zufrieden, ich war erleichtert.

Meine Frau weiß, wie sehr ich dafür brenne, das Leben in Krisengegenden zu beschreiben. Sie hat sich damit abgefunden.

Wir haben drei Kinder, sechs und sieben und achtzehn Jahre alt. Wenn ich für eine gefährliche Reise unser Haus verlasse, tut es mir im Herzen weh. Ich kenne das Risiko, ich weiß, dass meine Kinder ihren Vater verlieren könnten. Ich versuche dann, diese Gedanken möglichst weit weg zu tun. Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger Lust macht mir meine Arbeit.

Viele sehen in meinen Reisereportagen zuvörderst eine große Unverantwortlichkeit. Wer mich gern hat, ist nicht einverstanden, wenn ich mich bisweilen unkalkulierbaren Risiken auszusetze. Mir geht es anders: Wenn ich in Phasen versucht habe, mich von Jobs fernzuhalten, die mich gereizt haben, endete es immer damit, dass ich mich fühlte, als wäre ich vor einer zweiten Verantwortung weggelaufen.

Wenn ich selbst zögere und Zweifel an meiner Arbeitsweise habe, stelle ich mir immer die gleiche Frage: Was würde ich fühlen, wenn ich an einem der Höllenorte dieser Erde zu Hause wäre, mit meiner Frau, meinen Kindern, wenn wir dem Rest der Welt egal wären?

Meine Reisen sind meine Antwort. Es geht nicht um Geld. Ich verdiene nicht viel damit. Um Ehre geht es ebenso wenig, denn übermäßig viel Aufmerksamkeit bekommen ich oder meine Geschichten für gewöhnlich nicht. Die wenigsten Menschen möchten sich eingehend mit Aufzeichnungen von Orten beschäftigen, mit denen sie nichts anzufangen wissen.

Im besten Fall kann ich mit meinen Beiträgen die Konflikte in den betroffenen Regionen für einige wenige Menschen interessant aufbereiten. Vor allem für Politiker, für Hilfsorganisationen und andere Akteure, die sich späterhin mit etwas mehr Sachkenntnis Urteile bilden können.

Diesen demokratisierenden Effekt mit dem persönlichen Risiko, mit dem Kummer meiner Familie, meiner Freunde, aufzuwiegen, resultiert naturgemäß in einem Dilemma, das nicht aufzulösen ist.

Ruinen und untergehende Sonne: Grabmal des Königs Adurahman Khan

Ruinen und untergehende Sonne: Grabmal des Königs Adurahman Khan Foto: Hewad Laraway

Geschichten aus Kriegsgebieten können weitreichende Konsequenzen haben, sie können den Einsatz des Militärs begünstigen oder benachteiligen, direkten Einfluss auf das Geschehen vor Ort, auf das Leben der Zivilbevölkerung haben.

In meinem zehnten Jahr als Reporter hat mich der Krieg in Afghanistan mehr beschäftigt als alles andere. Was nicht nur daran liegt, dass meine Eltern afghanische Einwanderer sind.

Meine Arbeit in unruhigen Gegenden Afghanistans hat mich beinahe das Leben gekostet. Drei Reisen haben sich ganz außerordentlich eingebrannt – als ich versuchte, mich den Taliban zu nähern.

Das erste Mal 2007: Ich war beim dänischen Fernsehsender TV2 angestellt, flog aber im Urlaub auf eigene Rechnung an den Hindukusch. Eine meiner Quellen in Pakistan hatte mir Zugang zu einer Talibanmiliz in der ostafghanischen Provinz Kunar verschafft. Ich hatte vor, einen Dokumentarfilm über die Taliban im berüchtigten Korengal-Tal zu drehen.

Wie die Spartaner bei Herodot hatten die Aufständischen im Korengal-Tal mit unbändigem Rachedurst über Jahre hinweg gegen die technisch überlegenen amerikanischen Soldaten ausgehalten. Valley of Death nannten die Amis den Ort, wegen der großen Verluste ihrerseits. Die US-Truppen verbrauchten im Tal des Todes zeitweise mehr Munition als im ganzen übrigen Afghanistan.

In einem der gefährlichsten Länder der Erde wurde das Korengal-Tal aus westlicher Perspektive zum bedrohlichsten Ort. Ich befand mich die ersten Tage in den Bergen bei afghanischen Zivilisten und dachte: Es läuft alles. Was sich am Abend vor meiner Abreise änderte. Das Dorf, in dem ich mich befand, wurde von Taliban-Kriegern belagert, die meine Auslieferung forderten, weil sie gehört hatten, ich sei als westlicher Spion unterwegs, der bei der Lokalbevölkerung Unterschlupf gefunden hatte. Irgendwer hatte mich denunziert. Aber die Mehrheit der stolzen Bewohner betrachteten mich als jemanden, für den sie aus uralten Ehrprinzipien – den Pashtunwali, die gebieten, einen Gast mit dem eigenen Leben zu beschützen – Verantwortung zu übernehmen hätten.

Sie weigerten sich, mich auszuliefern. Warnschüsse und verbale Drohungen flogen durch die Luft, bis den aggressiven Talibankämpfer klar wurde, dass ihre eigenen Führer grünes Licht gegeben hatten für meinen Aufenthalt in der Gegend. Ein kurzer Frieden senkte sich über den Ort, und anstelle einer Auslieferung folgte ich den Taliban freiwillig und gewaltfrei zu ihrem Aufenthaltsort in den Bergen.

Die Angelegenheit führte unterdessen zu dem Gerücht, ein europäischer Journalist wäre gekidnappt worden. Als ich in der Provinzhauptstadt Asadabad ankam, wurde ich von den afghanischen Behörden angehalten, die grundsätzlich nicht viel von Journalisten halten, die Feindkontakt pflegen. Während ich befragt wurde, brach meine Quelle, meine Absicherung gegenüber den Taliban, in Panik aus und spülte die Bänder mit den Aufzeichnungen all meiner Gespräche eine Toilette herunter.

Meine Familie hatte von der Fiktion meiner Entführung gehört und war im Schockzustand. Als ich mit ihnen Kontakt aufnahm und erzählte, ich sei in Sicherheit und befinde mich bereits auf dem Nachhauseweg, konnte ich sie nur schwer davon überzeugen, es sei alles nur falscher Alarm gewesen.

Ein halbes Jahr später half mir der gleiche nervöse Mittelsmann dabei, Kontakt zu einer Talibangruppierung in der Provinz Helmand herzustellen. So reiste ich im Januar 2008 nach Kabul, um einen afghanischen Fotografen zu treffen, der mich begleiten sollte. Wie gedacht, wurden wir von einer kleinen Gruppe Taliban in Kandahar eingesammelt, aber schon am Tag danach überrannten andere bewaffnete Männer „unsere“ Taliban, wir wurden gefesselt und bekamen schwarze Masken über die Köpfe gezogen. Alles deutete darauf hin, dass uns die gleichen Taliban, die eigentlich unsere Sicherheit garantieren sollten, in eine Falle gelockt hatten.

Die nächsten vielen Tage der Entführung waren eine Qual. Einige Male waren wir sicher, dass wir hingerichtet werden sollten. Die schlimmsten Augenblicke waren jene, in denen wir dunkle Säcke über die Köpfe gezogen bekamen und uns befohlen wurde, auf die Knie zu gehen. Mein sehnlichster Wunsch war es, eine Kugel in den Kopf und nicht die Kehle durchgeschnitten zu bekommen. Ich wollte, dass meine Familie meine Leiche in einem Stück wiederbekommt.

Überbleibsel eines Panzers aus den Zeiten der sowjetischen Besatzung in der Provinz Logar

Überbleibsel eines Panzers aus den Zeiten der sowjetischen Besatzung in der Provinz Logar Foto: Hewad Laraway

Die extreme Anspannung und Selbstvergegenwärtigung während der Geiselnahme brachte viele Erinnerungen hervor, zwang mich unmittelbar, Dinge zu gewichten; das unberechenbar nahende Ende machte mich zu einem Hochgeschwindigkeits-Seismografen für das Wesentliche: Mein Leben, mein Tod. In jenen Tagen sah ich beides vor mir, mein innerer Blick, jederzeit wollte alles Klarheit sein, die Gedanken wollten bleiben.

Ich erinnere mich, dass ich mich tagsüber nach den Nächten sehnte, weil sich Gedanken an meine Träume paradoxerweise wie die einzige Möglichkeit anfühlten, Herr meines eigenen Körpers zu sein. Die Taliban versteckten uns andauernd an neuen Plätzen, damit wir nicht vom Militär lokalisiert würden.

An unserem dritten Aufenthaltsort bekamen wir einen neuen Bewacher. Er wirkte sympathischer. Wir hatten den Eindruck, seine Zusammenarbeit mit den Geiselnehmern geschehe widerstrebend, und der Fotograf und ich versuchten, ihn zu überzeugen, uns bei der Flucht zu helfen. Wir boten an, ihn und seine Familie an einen sicheren Ort zu bringen.

Die Entführung endete genauso abrupt und seltsam, wie sie begonnen hatte. Tags darauf erschien wieder eine neue Wache und bedeutete uns, wir seien allein. Was uns überraschte. Denn bis dahin waren wir immer äußerst streng bewacht worden. Die Wache beschaffte einen Minibus, und dann fuhren wir los, mit seiner Frau und ihren sieben Kindern, während unser Horror und der Nawa-Bezirk Helmands langsam im Rückspiegel verschwanden.

Während der Gefangenschaft hatte ich Erniedrigungen erlebt, die ich mir in meinem Leben zuvor nie vorgestellt hatte. Einige Tage später war ich zurück bei meiner Familie in Dänemark, die Rückkehr in diese meine andere Welt war unbeschreiblich.

Die Entführung hat mich verändert. Ich hatte ein ungeheuer schlechtes Gewissen, denn meine Familie war dieses Mal schon am Folgetag meines Verschwindens unterrichtet worden, hatte wochenlanges Bangen durchlitten. Meine Frau, meine Mutter, meine Geschwister und Kollegen fühlten sich machtlos und waren zutiefst beunruhigt. Wenn ich an sie und ihre oft geäußerte Besorgtheit dachte, fühlte ich mich wie der größte Depp der Welt. Zwei dänische Tageszeitungen kommentierten, ich sei naiv gewesen und würde das Leben anderer in Gefahr bringen. Als ich nach meiner Heimkehr davon erfuhr, war dies meinem mentalen Zustand nicht sehr zuträglich. Andere Menschen hatten bestimmt, wann ich wo essen, schlafen und frische Luft bekommen durfte. Sie hatten bestimmt, wann ich Angst und Schmerzen spüren sollte und wann ich mich sicher fühlen durfte. Und jetzt waren es wieder andere, die vernichtend über meine Arbeit urteilten.

Die ersten Tage in Kopenhagen war mir nach Spazierengehen. Meine Frau wollte mich verständlicherweise ganz nah bei sich. Aber ich hatte das Bedürfnis, die neugewonnene Freiheit über mich und meinen Körper eine Weile für mich allein zu haben. Ich bin nie ein großer Freiluftmensch gewesen, aber in diesen Tagen und Wochen ging ich lange Wege nur für mich.

Die Entführung war das bis dato schlimmste Erlebnis in meinem Leben. Und nun, sieben Jahre später, stand ich vor der Entscheidung, mich erneut in die Fänge der Taliban zu begeben. Ich weigerte mich, meine Erfahrungen als Ausschlussgrund für eine erneute Reise anzusehen. Kein Verbrecherpack der Welt sollte mich an meiner Arbeit hindern.

Sie konnten mir allerhöchstens in die Quere kommen, meiner Frau eine hundertprozentig ehrliche Antwort zu geben, wenn sie danach fragte.

II

Nach den Terrorangriffen auf das World Trade Center in New York bekam Afghanistan kurz nach der Jahrtausendwende die Aufmerksamkeit der Welt und einen Krieg, der nicht mehr enden will. Das Attentat vom 11. September 2001 setzte eine Kette von Ereignissen in Gang, die das Leben der Menschen im Land für immer veränderte.

Mit meiner Meinung zum Krieg in Afghanistan war ich immer sehr sparsam, vorsichtig auch mit dem, was Politik, Militär und die Medien an Meinungen über vermeintliches Wissen verbreiteten. In meinen Augen gingen viele Teile des Landes in der journalistischen Berichterstattung unter. Was dazu führte, dass wir im Westen nie wirklich verstehen konnten, was dort eigentlich vor sich ging.

Untypisch für Journalisten in Afghanistan war ich Teilnehmer und Beobachter, mischte mich ein in Diskussionen über den Krieg, weil es in unseren Medien kaum Informationen über Meinungen der Zivilbevölkerung gab. Noch weit weniger wurde einem über den Feind in Helmand mitgeteilt. Fast alle Reportagen entstanden im Gefolge westlicher Soldaten. In meinen Augen fehlte ein Blick hinüber auf die andere Seite so sehr, dass die Debatten in unseren Medien und Parlamenten auf faktisch falschen Prämissen beruhten.

Ich dachte, ich könnte eine balanciertere Perspektive schaffen, weil ich Zugang zu afghanischen, amerikanischen und europäischen Quellen, innerhalb und außerhalb des Militärapparats, hatte. Die Berichterstattung war bis Ende der Nullerjahre derart dominiert vom Blickwinkel der Militärs, dass der Anspruch einer ausgewogenen Recherche, wie ich sie repräsentierte, häufig als rein aktivistisch diffamiert wurde.

In Wahrheit war die Schräglage offensichtlich. Viele Redaktionen weigern sich noch heute, Journalisten zu beschäftigen, die sich ohne Schutz des Militärs in Gefahr begeben. Wenn Journalisten aus dem Westen in betroffenen Regionen Süd- und Ostafghanistans unterwegs waren, dann als sogenannte embedded journalists, die ausschließlich mit dem Heer reisten und von ihm beschützt wurden. Was bedeutet, dass die Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Die journalistische Arbeit wird von restriktiven Sicherheitsauflagen begrenzt. Man kommt einigermaßen dicht an den Krieg heran, unter einigermaßen sicheren Voraussetzungen. Andererseits ist die Perspektive klar festgelegt. Mit den Helmen und schutzsicheren Westen ist man für die Zivilbevölkerung kaum von den Soldaten zu unterscheiden. Überdies sind die afghanischen Quellen, zu denen man Zugang hat, typisch Personen, die mit der Regierung oder den ISAF-Truppen zusammenarbeiten, was natürlich deren Sichtweise beeinflusst.

Auf der nun folgenden Reise war mein Projekt abermals, mich der Wirklichkeit der Mehrheit der Afghanen zu nähern. Viele meiner vorherigen Reportagen waren gefährlich, aber dieses Mal war das Risiko ungleich größer – ich wollte mich bei den Taliban einschleusen. Ich wollte die Kämpfe an ihrer Seite erleben, mich von ihnen beschützen lassen. Mit dem Material wollte ich zwei Dokumentarfilme für Al Jazeera America drehen, in denen es darum gehen sollte herauszufinden, in welche Richtung die Taliban ihr Land in Zukunft steuern wollten – eine Zukunft, in der große Gebiete Afghanistans von ihnen kontrolliert werden würden.

Die meisten amerikanischen und europäischen Truppen wurden abgezogen. Die übriggebliebenen sind überwiegend zu Ausbildungszwecken für afghanische Polizisten und Regierungsmitglieder im Land geblieben. Ein paar Tausend US-Soldaten bleiben zur Reserve.

Obgleich der Krieg in Afghanistan seit dreizehn Jahren andauert und weitrechende Konsequenzen für Menschenleben und Währungsmilliarden hatte, haben sich nur eine Handvoll westlicher Journalisten bei den Taliban embedden lassen. Während meiner Recherche fand ich fünf Fernsehreportagen. Es ist seltsam, dass es von der längsten Militärintervention der jüngeren Geschichte so wenige Schilderungen des Feindes, so wenige Aufzeichnungen über das Leben in den von Taliban kontrollierten Gebieten gibt.

Eine der Ursachen sind die Taliban selbst. Sie haben die Aufmerksamkeit der westlichen Medien nicht gesucht, weil es ihnen im Grunde komplett egal war, was der Westen von ihnen hielt.

Die Miliz hat kein Problem mit ihrem Image. Zielgruppe für die Propaganda der Taliban ist die Landbevölkerung im Süden und im Osten Afghanistans, hier sind der Großteil der Einwohner paschtunische Bauern mit einem traditionell konservativen Islam-Verständnis.

Blick auf einen alten afghanischen Befestigungswall, darunter eine Siedlung

Blick auf einen alten afghanischen Befestigungswall, darunter eine Siedlung Foto: Hewad Laraway

Auf dem Weg raus aus dem Flughafengelände in Kabul kreisten meine Gedanken um die Frage, auf was ich mich dieses Mal eingelassen hatte. Es war mein dritter Versuch, für eine Weile bei den Taliban aufgenommen zu werden. Meine einzige Aufmunterung war der Aberglaube – alle guten Dinge sind drei, sagte ich mir und wiederholte die Worte eine Weile vor mich hin.

Ich nahm ein Taxi zum Haus meines langjährigen Kollegen Ahmad Tasal. Wir wollten die Geschichte zusammen machen. Wie immer begrüßte er mich herzlich.

„Na, bereit, wieder mal gekidnappt zu werden, Nagieb?“, fragte er mit einem großen Lächeln.

„Klar“, antwortete ich und lächelte mit.

Wir waren schon jetzt ungeheuer nervös, und wir wussten es beide.

Ahmad Tassal ist Ende zwanzig. Er ist ein gutaussehender Typ mit großen Lachfalten und der beste Journalist, mit dem ich in Afghanistan zusammen gearbeitet habe. Ich kenne ihn seit 2007. Damals hatte ich ihn für eine Recherche in der Helmand-Provinz angefragt. Helmand ist seine Heimat.

Mit einem Kollegen zu reisen, der sich auskennt, dem du überdies noch tausendprozentig vertrauen kannst, ist das Alpha und Omega bei einer Recherche im Kriegsgebiet. Wenn man an den Falschen gerät, ist das im schlechtesten Fall tödlich. Ahmad Tassal hatte seine Pläne immer gut durchdacht, wir waren bislang sehr umsichtig gewesen.

Ahmad Tassal hatte jemand Drittes für die Vorbereitungen unserer Reise angeheuert. Atiqullah hieß der Mann, der dafür sorgen sollte, dass wir sicher hinein und vor allem wieder aus Talibanland heraus kamen.

Atiqullah war Mitte zwanzig, hatte einen sauber gestutzten Vollbart, Augen, die ganz untypisch für die meisten Afghanen hellblau waren, und einen kleinen runden Gebetshut auf dem Kopf. Er war einer von Ahmad Tassals guten Freunden, und die beiden ärgerten einander ununterbrochen. Mein Journalistenkollege foppte Atiqullah mit seinem etwas unbeholfenem Auftreten, aber der konnte offensichtlich gut damit umgehen, ein wenig aufgezogen zu werden, und er zögerte nicht, es Ahmad Tassal ordentlich heimzuzahlen.

Atiqullah stammte aus einem der Orte, die wir besuchen wollten. Das Gebiet heißt Charkh und liegt in der Logar-Provinz, eine Stunde Fahrt von Kabul entfernt. Es erschien uns absurd, dass die afghanische Regierung nach zwölf Jahren Krieg mit Unterstützung der ISAF noch immer keine Kontrolle über einen Sektor hatte, der so nah an der Hauptstadt lag.

Atiqullahs Verbindungen in Charkh waren entscheidend für unsere Mission. Stammesfreundschaft bedeutet mehr als alles andere in Afghanistan. Ich befragte einmal einen Kommandanten der afghanischen Sicherheitstruppen in der östlichen Provinz Paktia zur Dynamik zwischen den regierungsnahen Truppen und den Taliban.

„Die Taliban greifen in unserer Gegend nur Amerikaner an“, sagte er. „Wir haben ihnen gesagt, so lange sie nur die Amerikaner angreifen, haben wir kein Problem mit ihnen. Die mischen sich nicht in unsere Angelegenheiten und wir uns nicht in ihre.“

Er fand diesen Handel das Normalste der Welt.

Ich vertraute meinen Freund Ahmad Tassal, der seinem Freund Atiqullah vertraute, der wiederum seinen Stammesmitgliedern vertraute, die enge Verbindungen zu Familienmitgliedern der Taliban-Bewegung in Charkh hatten.

Diese Kette des Vertrauens bedeutete natürlich keinesfalls, dass es ungefährlich sein würde, nach Charkh zu reisen: Der norwegische Journalist Paul Refsdal hatte sich 2008 bei den Taliban in der Kunar-Provinz einschleusen lassen. Bei seiner ersten Tour ging alles gut, aber als er wiederkam, um seine Aufnahmen zu beenden, wurde er von einem Talibanführer, der die Absprachen mit einem anderen Kommandanten ignorierte, entführt. Der Norweger kam nach einer Woche intensiver Verhandlungen frei.

Endstation Busfriedhof

Endstation Busfriedhof Foto: Hewad Laraway

Am folgenden Tag stiegen wir in ein Taxi und fuhren in Richtung Pul-i-Alam, der Hauptstadt der Logar-Provinz. Die Fahrt dauerte eine Dreiviertelstunde. Pul-i-Alam war unter Kontrolle der Regierung und nach meinen Informationen relativ sicher. Sicherheit hat natürlich eine andere Bedeutung im afghanischen Kontext – einige Wochen zuvor war der Provinzgouverneur Arsala Jamil beim Besuch einer Moschee von einer Bombe zerfetzt worden.

Logar ist, verglichen mit anderen Teilen des Landes, eine relativ grüne Gegend. Es gibt eine Menge kleinerer Flüsse und Kanäle, die den Boden fruchtbar machen. Es ist ein bergiger Ort, jedoch nicht so majestätisch wie die Gebirgskette des Himalaya im Nordosten.

An vielen Stellen hatten die Taliban Brücken gesprengt, was zu Verkehrsproblemen führte. Oftmals wurde gewöhnliches Dynamit verwendet, waren Spuren explodierter Sprengfallen zu sehen. Beim Überqueren jeder unbeschädigten Brücke war mir sehr mulmig zumute. Brücken sind der ideale Ort, um Bomben zu befestigen, und obwohl die Taliban nach eigenen Aussagen ihre Angriffe auf das ausländische Militär richten, sind zivile Opfer unter den in die Luft Gesprengten die Regel.

Wir erreichten Pul-i-Alam ohne Verspätung. Afghanistan ist durch ein weit verflochtenes Taxisystem verbunden. Einige Autos pendeln zwischen den großen Städten und andere Taxis befördern ihre Fahrgäste in die kleineren Ortschaften. Uns ging es darum, nicht vom Militär angehalten zu werden – oder vom Nachrichtendienst, was noch schlimmer gewesen wäre. Die Behörden konnten uns nicht daran hindern zu filmen. Aber sie konnten uns festhalten, wenn sie Grund hatten anzunehmen, wir seien auf dem Weg ins Charkh-Gebiet. Sie konnten uns als Lockmittel benutzen, um führende Taliban aufzuspüren, oder warten, bis wir zurückkamen und unsere Aufnahmen beschlagnahmen. Im schlimmsten Fall konnte unser Material dazu verwendet werden, Personen zu identifizieren, die wir interviewt hatten, bevor wir sie hätten anonymisieren können, was uns wiederum selbst zum Ziel der Taliban machen würde. Es war entscheidend, dass wir unentdeckt blieben.

Nach einer halben Stunde auf kleineren, staubigen Wegen passierten wir einen militärischen Kontrollposten mit einer angeschlossenen Basis. Soldaten waren keine zu sehen. Zweck solcher Posten ist es zu überprüfen, wer aus den Gegenden ein- und ausreist. Aber wie so oft waren die afghanischen Sicherheitstruppen abwesend.

„Wahrscheinlich haben sie Angst vor einem Angriff“, sagte der Taxifahrer, „oder sie lagen irgendwo opiumhigh in ihren Zelten. Drogen sind ein entscheidender Faktor. Der große Verbrauch bei den afghanischen Polizisten ist häufig ein Grund, weshalb sie chancenlos sind gegen die Taliban und einfach überrannt werden.“

Kurz hinter der verlassenen Basis erreichten wir einen kleinen Berg. Vor uns führte ein schmaler, geschnörkelter Pass hinüber auf die andere Seite in die Hauptstadt Charkhs. Atiqullah telefonierte mit jemandem, den er bat, uns abzuholen.

Von hier würden wir eskortiert, sagte der Mittelsmann: „Von hier an und für den Rest des Weges sind wir auf Talibanland. Es könnte zu Missverständnissen kommen, wenn wir alleine reisen. Und wir wollen es besser nicht zu Missverständnissen kommen lassen.“

Nach einer Weile des Wartens rauschte ein Motorrad heran.

„Assalamu aleikum. Sind dies unsere Gäste?“, fragte der Mann, ein hagerer Typ, vielleicht zwanzig Jahre alt. Unter seiner braunen Kopfbedeckung war das Gesicht von Narben und Bartstoppeln bedeckt. Die meisten Afghanen kennen ihr genaues Alter nicht. Wenn ich nicht schon häufig in Afghanistan gewesen wäre, hätte ich ihn wohl auf dreißig geschätzt, aber meine Erfahrung hat mich gelehrt, zwischen Verschleiß und Altern zu unterscheiden. In den ländlichen Gegenden ist es fast eine Faustregel: Die Bewohner sehen für gewöhnlich zehn Jahre älter aus. Die Drogen.

„Waleikum salam, Bruder“, antwortete Atiqullah. „Ja, dies sind die Journalisten. Wollen wir aufbrechen?“

Der junge Typ nickte erneut, gab Gas, und unser Chauffeur fuhr ihm hinterher.

Durch die Fensterscheiben des Taxis sahen wir Leute, die sich nach uns umdrehten. Die Lokalbevölkerung schaute sehr genau, wer da in ihre isolierte Gegend kam. Ringsum sahen wir Männer mit automatischen Waffen über den Schultern. Afghanistan hat zwar die Reputation eines der gefährlichsten Länder der Welt zu sein, aber in den von der Kabuler Regierung kontrollierten Gebieten ist das öffentliche Tragen von Waffen ein Relikt aus vergangenen Tagen und Privileg von Soldaten, Polizisten, Sicherheitskräften. Charkh aber war wie ein solches Bild aus Zeiten vor der Invasion, hier patrouillierten schwer bewaffnete Männer in Zivilkleidung, ohne dass irgendwo eine Uniform in Sicht war. Von Zeit zu Zeit klebte der Blick eines Kalaschnikowträgers auf Ahmad Tassal und mir, den zwei Fremden in einem Auto aus der Hauptstadt, aber sie verzogen keine Miene, sie taxierten aufmerksam.

Wir fuhren derweil ins Innere der Stadt. Und die Spannung stieg, denn die kommenden Stunden würden entscheiden, ob wir vor einem journalistischen Durchbruch standen oder abermals entführt würden. Wenn es schief ging, war ich sicher, dass ich für immer der größte Depp der Branche sein würde. Viele Medien hatten verbreitet, ich sei schon zweimal in Geiselhaft gewesen, ein Gerücht, das sich nicht so einfach aus der Welt schaffen ließ. Ein „drittes Mal“ wäre auch für mein Image als Reporter eine Katastrophe, dachte ich.

Unterdessen erreichten wir ein Haus, das an einem Berghang lag. Davor stand ein älterer Mann mit Turban, Shalwar und Kamiz – der traditionellen Tracht aus losen Hosen, die eng an den Knöcheln liegen und einem knielangen Hemd.

Er kam mir entgegen, legte seine rechte Hand auf meine linke Schulter und die linke Hand auf meinen Unterarm. Ich erwiderte seine paschtunische Begrüßung, indem ich meine rechte Hand auf seine linke Schulter legte. Der Mann war unser Gastgeber, und ich nenne ihn Omar. Omar ist der Vater des Jungen auf dem Motorrad, für den ich mir den Namen Hasibullah ausgedacht habe. Die Anonymisierung geschieht zu ihrer Sicherheit.

Omar erzählte, dass am Abend zwei Kommandanten der Taliban vorbeikommen würden, um unseren Aufenthalt abzustimmen. Dann saßen wir im Haus, aßen ein Gericht aus Kartoffeln, Lamm und Naanbrot, das in der afghanischen Küche zu fast allem verwendet wird, sogar zum Schaufeln von Reis.

Nach dem Essen gingen wir auf den großen Hof, der die umliegenden Häuser miteinander verband. Atiqullah und Hasibullah plauderten über die Opiumernte, offenbar ein gutes Jahr, es dämmerte, wurde Abend, ein Junge hackte Holzstücke mit einem Beil entzwei, ein kleines Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt, lief hinter einem Huhn her. Über unseren Köpfen war ein metallisches Summen zu hören. Ich sah zu Atiqullah.

„Eine Drohne“, sagte er.

Ich sah nichts, aber Atiqullah und die anderen waren sich sicher, erzählten, es habe mehrfach Drohnenangriffe in den vergangenen Wochen gegeben.

„Manchmal treffen sie ihr Ziel, und manchmal trifft es auch Familien, die Zivilisten.“

Als es dunkel war, klopfte es an der Tür. Hasibullah erhob sich.

„Die Kommandanten“, sagte er.

III

Zwei junge Männer mit Bart und langem Haupthaar kamen herein. Beide trugen Tarnkleidung. Der eine war ein sehr großgewachsener, schlanker Junge mit feinen Gesichtszügen. Sein schwarzes Haar schaute unter einem Pakul, einer traditionellen Kopfbedeckung, hervor. Der andere war klein, lockig, untersetzt.

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Hasibullah stellte mir die beiden jungen Anführer vor. Der lange dünne Taliban nannte sich Adel, der kleine hieß Leesan. Hasibullah erklärte, die beiden seien gekommen, um meine Wünsche zu erfüllen.

„Nagieb jan ist ein Journalist aus London. Er will wissen, wie wir leben“, sagte er. Jan bedeutet soviel wie „Lieber“. Ich unterbrach ihn und sagte, ich käme aus Dänemark.

„Delmark. Er kommt aus Delmark“, versuchte sich Hasibullah zu korrigieren. Er wusste offenbar wenig über mich und den europäischen Kontinent.

Die beiden Taliban setzten sich auf eine der vielen Matratzen, die in vielen afghanischen Wohnstuben einen Kranz bilden.

„Wir freuen uns, dass ein Journalist gekommen ist, um unsere Version des Krieges hier in Logar zu erzählen“, sagte Leesan, der sich etwas schwurbelig ausdrückte, aber eine sanfte Ausstrahlung hatte, wenig kommandantenhaft; absolut gar nichts Diabolisches, das einer Rolle in einem amerikanischen Hollywood-Kriegsstreifen gerecht wäre, dachte ich. Vor allem seine Augen waren warm und vertrauenserweckend. Adel, der neben ihm saß, war entgegenkommend, wirkte jedoch etwas reservierter, als sein Kamerad.

„Sag uns, was wir für dich tun können, und wir stehen dir zu Diensten“, sagte Leesan.

Ich fasste zusammen, was ich mir erhofft hatte. Meine Themenliste handelte von den Scharia-Gerichten, von der Sicht der Taliban auf Bildung, ihre Auffassung von Zivilität, was sie über die Zukunft Afghanistans dachten und einiges mehr. Als ich fertig war, diskutierte Leesan meine Wünsche mit Adel auf Paschto (der am zweithäufigsten gesprochenen Sprache Afghanistans, die ich nur ein kleines bisschen verstehe), dann sahen sie mich an.

„Das ist kein Problem, Nagieb jan, wir werden unser Bestes für dich tun.“

Leesan erhob sich und wollte gehen.

Ich war verwundert, weil es überhaupt keine Vorbehalte gegen meine Anliegen gab. Ich verabschiedete mich höflich von ihnen. Leesan drehte sich zu mir um.

„Nagieb jan, morgen früh findet eine Militäroperation statt. Wir bereiten sie heute Abend vor, und ich dachte, vielleicht wäre es interessant für dich, dabei zu sein.“

Überbleibsel alter Kanonen bei Kabul

Überbleibsel alter Kanonen bei Kabul Foto: Hewad Laraway

Ich war baff. Eine Militäroffensive mit Taliban-Kriegern. Ein einzigartiger Einblick in das Wesen des Krieges auf der anderen Seite. Gleichzeitig wusste ich, dass es extrem gefährlich sein würde, auf Seiten der Taliban zu stehen. Schweres Artilleriefeuer war zu erwarten, Luftangriffe und Panzergranaten. Ich zögerte.

Ahmad Tassal hatte während unserer Unterredung geschwiegen. Nun trat er einen Schritt nach vorn.

„Ich glaube nicht, dass wir mitkommen sollten. Das ist ganz einfach zu gefährlich. Oder was meinst du, Nagieb?“, fragte er und schaute mich eindringlich an.

„Was ist mit Luftangriffen, werden wir bombardiert?“, fragte ich.

„Seit die Amerikaner Logar verlassen haben, sind die afghanischen Verbände sich selbst überlassen“, antwortete der kleine Kommandant Adel. „Sie haben keine Kampfflugzeuge mehr.“

Was er sagte, stimmte mit meinem Wissen überein. Es hatte US-Basen in Charkh gegeben, aber ich wusste, dass sie ihre Soldaten aus der Gegend abgezogen hatten.

„Noch vor einiger Zeit wurden die lokalen Sicherheitskommandos von den Amerikanern unterstützt, aber jetzt bekommen sie nur noch Hilfe von der größeren afghanischen Basis“, ergänzte Adel.

„Okay, dann ist es hunderprozentig sicher, dass es keine Angriffe aus der Luft geben wird?“

„Ich garantiere dir, es kommen weder Helikopter noch Kampfjets“, antwortete Leesan.

„Gut. Dann komme ich mit“, sagte ich.

Ahmad Tassal war verblüfft und schien sich äußerst unwohl zu fühlen.

„Nur die Ruhe, Bruder, du bleibst hier“, sagte ich gefasst, während ich noch, für niemanden sichtbar, mit meiner Entscheidung rang.

Ahmad Tassal und Omar zog es bekümmerte Mienen ins Gesicht. Sie dachten sicher, mein Entschluss sei leichtfertig. Es war nicht das erste Mal, dass ich mit solcherlei Reaktionen konfrontiert war, und vielleicht war dies die dümmste Entscheidung meines Lebens. Aber sie stand fest, ich folgte meinem Instinkt.

„Wunderbar. Wir holen dich gegen Mitternacht“, sagt Leesan, bevor er und Adel uns verließen.

Omar war bekümmert und wollte es mir ausreden mitzugehen.

„Nagieb, die sind unfassbar unstrukturiert bei ihren Kampfhandlungen, das Risiko ist unkalkulierbar. Bei jeder ihrer Offensiven sterben Menschen.“

„Nun habe ich aber ja gesagt“, antwortete ich, „dann muss ich versuchen, in den hinteren Reihen zu bleiben.“

Er machte eine kurze Pause und sagte: „Ich habe Leesan und Adel zugehört, sie wollen dich auf den Berg mitnehmen, von wo aus die RPG abgefeuert werden. Es ist ein sehr gefährlicher Ort. Wenn sie dich dort hinauf bitten, sagst du nein, verstanden?“

Ich nickte, versprach ihm vorsichtig zu sein und mein Möglichstes zu tun, um nicht auf dem Berg zu landen. Er schüttelte den Kopf und sagte, nun müsse man beten, dass alles gutgehen würde. Die Afghanen nehmen das Wohlbefinden ihrer Gäste äußerst ernst. Omars Sorge um mich führte ihn dahin, seinen Sohn Hasibullah zu bitten, mich an die Front zu begleiten. Er wollte meine Sicherheit nicht den Taliban überlassen.

Hasibullah, fiel mir auf, wirkte unterdessen überhaupt nicht beunruhigt.

„Er ist ein erfahrener Kämpfer“, sagte Tassal, als wir einen Augenblick allein waren.

„Sein Vater hat ihn gezwungen, die Taliban zu verlassen. Omar ist selbst ein alter Mudschahedin-Krieger. Aber heute hat er den Krieg satt, und er will seinen Sohn unter keinen Umständen verlieren.“

Die Mudschahedin waren die Aufständischen, die zu den Waffen griffen, als die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte. Ein brutaler Konflikt, in dem Millionen Afghanen und Tausende russische Soldaten ums Leben kamen. Der Widerstand gegen die ausländischen Truppen war am stärksten in den außerstädtischen, bergigen Provinzen wie Logar. So wie heute. Geschichte wiederholte sich.

Bis Mitternacht war es noch eine Weile hin. Ahmad Tassal begann, mich mit seinem morbiden Humor zu ärgern. Dass wir das Beste aus meinem letzten Abend machen sollten und so weiter. Seine Witze änderten nichts an meiner steigenden Nervosität. Ich wusste nicht, was mich erwartet. Ich bin es gewohnt, von Kampfhandlungen zu berichten, aber zuletzt war es immer brutaler geworden. Auf einer Reise nach Syrien wurden unmittelbar um mich herum vier Männer niedergeschossen. Zwei davon standen einen Meter von mir entfernt. Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken. Das kann ich gut.

Gegen halb eins klopfte es an meiner Tür. Ein junger Typ Anfang zwanzig, eine Kalaschnikow am Lederriemen über die Schulter gelegt, kam herein und grüßte. Er sagte, ich solle mit ihm in ihren Unterschlupf fahren. Dort würden wir uns aufhalten, bis am Morgen der Angriff losgehen sollte. Ahmad Tassal würde nachkommen.

Ich folgte dem Jungen. Er setzte sich auf ein Motorrad, winkte mich hinter sich, und so fuhren wir hinaus in die Dunkelheit.

IV

Der Lichtkegel des Motorrads leuchtete uns den Weg um die Gräben und Löcher, an den Kanälen entlang. Ich machte mir Sorgen wegen der Drohnen, die ich den ganzen Tag hatte summen hören.

Ich hatte Ausschnitte gesehen, in denen Drohnen bis in die Gesichter aufständischer Afghanen und Pakistaner hineinzoomten. Selbst in absoluter Dunkelheit konnte man auf den Bildern Gestalten und ihre Waffen unterscheiden. Ich stellte mir vor, wie ein Amerikaner in einem Kontrollraum in Texas eine Rakete auf unser Motorrad abfeuert, während er Nachos mit Käsedip isst.

Nach einer Viertelstunde im Zickzackkurs hielten wir vor einem Lehmhaus. Ich rechnete mit vier, fünf Leuten in dem verhältnismäßig kleinen Haus, als ich eintrat, saßen dort mindestens dreißig Taliban dicht an dicht in dem kleinen Raum, der eine Wohnstube war, auf einem großen Teppich und Matratzen.

Wo noch Platz gewesen wäre, lagen Waffen: Minen, Handgranaten, Pistolen, Raketenwerfer und schwere Schnellfeuergewehre. Ich wusste nicht richtig, wohin mit mir, begann jeden Einzelnen zu begrüßen. Dann erkannte ich Leesan und Adel.

„Willst du uns jetzt zu unseren Plänen interviewen?“, fragte Leesan.

„Gerne“, antwortete ich, schaltete meine Kamera ein und befragte ihn zu der bevorstehenden Mission.

Leesan erzählte, dass sie mit dem Angriff die Schwächen der afghanischen Regierung bloßstellen würden; die Unfähigkeit, eine Militärbasis unweit Kabuls zu verteidigen, wäre ein finaler Beweis, für die Unbezwingbarkeit der Taliban.

Als ich fragte, weshalb die Taliban die ausländischen Verbände und das afghanische Militär bekämpften, sagte er, es handele sich um einen Befreiungskampf. Afghanistan sei von den USA besetzt, und an der Spitze der installierten Regierung, ob sie nun Hamid Karzai oder Mohammad Aschraf Ghani hießen, säßen nur Marionetten.

„Die Basis, die wir morgen angreifen werden, war uns vor einiger Zeit noch freundlich gesinnt“, fügte Leesan hinzu. „Wir hatten einen Nichtangriffspakt mit den Oberhäuptern. ‚Es sind nur die Amerikaner, mit denen wir ein Problem haben, nicht mit euch. Solange ihr uns nicht angreift, werden wir euch auch nichts tun’, hatte es geheißen. Alles war in Ordnung. Aber als ihr Vorgesetzter in Pul-i-Alam von unserer kleinen Waffenruhe erfuhr, wurden in der Basis Soldaten gefeuert und durch neue Kräften ersetzt. Wir haben versucht, auch mit ihnen einen Waffenstillstand hinzubekommen. Aber sie wiesen uns zurück, sagten, sie würden uns bekämpfen, wenn wir ihnen über den Weg liefen. Jetzt müssen wir ihnen eine Lehre erteilen.“

Die kleine Waffenruhe, welche die Taliban von Charkh mit den Regierungstruppen verabredet hatte, war kein neuartiges Phänomen. Ein solches Paktieren gab es in vielen Gebieten, beispielsweise wie zuvor erwähnt in Paktia, wo die Bewaffneten auf beiden Seiten demselben Stamm angehörten.

Das Abziehen internationaler Truppen hatte in einigen Teilen des Landes für einen deutlich geringeren Zulauf bei den Taliban gesorgt.

Seither konnten die Taliban ihre große Geschichte des patriotischen Kampfs gegen die Besatzer durch nichts gleichermaßen effektvolles Ersetzen. Doch nicht in allen Gegenden war der Zulauf gebremst. In Helmand und Kandahar etwa, in den südlichen Hochburgen der Taliban, wurde der Rückzug des westlichen Militärs als Anfeuerungsruf zu weiteren Feldzügen und territorialer Ausdehnung verstanden. Sie sahen den Abzug der Besatzer als Sieg auf dem Weg zu mehr Einfluss im Land.

Als ich mein Interview mit Leesan beendet hatte, fragte er mich, wie es gelaufen war.

„Ähm… also ich finde, du hast es sehr gut gemacht“, sagte ich.

„Bist du sicher? Ich habe so etwas noch nie zuvor probiert und ich war recht nervös. Findest du nicht, dass wir das noch mal drehen sollten?“

„Nein, nein, du warst gut“, beruhigte ich den jungen Kommandanten.

„Du weißt, Nagieb, dass wir noch nie einen Journalisten in unsere Gegend gelassen haben? Ich habe keinerlei Erfahrung mit Medien, aber ich will gerne wohlformuliert rüberkommen. Deshalb frage ich.“

Einer der Taliban kam herüber, klopfte Leesan auf die Schulter und blinzelte mir zu.

„Du hast es gut gemacht, mashallah“, sagte er, und Leesan lächelte verlegen.

Eine halbe Stunde nach dem Interview mit Leesan begaben wir uns nach draußen, ich ging im Gefolge der dreißig bewaffneten Talibankrieger und war in Gedanken, als Leesan plötzlich wieder neben mir stand.

„Nagieb, du gehst mit Adel, wenn die Offensive beginnt“, sagte er. Adel war der andere Kommandant, den ich bei Omar getroffen hatte, der ernstere, reservierte Typ.

Ich nickte einverstanden.

Nach einer weiteren halben Stunde Marsch durch die Dunkelheit erreichten wir eine Moschee, wo sich die Taliban versammelt hatten. Etwa achtzig Mann warteten hier auf den Sonnenaufgang.

Das große Gebäude sah aus wie eine gewöhnliche afghanische Kleinstadtmoschee. Ein großer Raum, mit einem riesengroßen Teppich ausgelegt, darauf lauter kleine Gebetsteppiche und Koranbücher in unterschiedlichen Ausgaben, Größen, Einbänden.

Einige Taliban lagen und dösten, andere saßen in kleinen Gruppen und schienen sich zu beraten, vielleicht auch heimlich Mut zu sammeln. Die meisten aber lasen, jeder für sich, im Koran.

Viele hatten von mir gehört, waren von meiner Anwesenheit nicht überrascht, sie kamen zu mir, begrüßten mich, fragten, ob ich der Journalist sei, der sie besuchen gekommen war und so weiter.

Ich beobachtete drei Taliban, die an eine Wand gelehnt dastanden. Einer von ihnen war recht klein, er trug Tarnkleidung und eine Elefantenmütze. Normalerweise hätte dieser Aufzug etwas Furchteinflößendes gehabt, aber seine geringe Größe verlieh dem Ganzen etwas Komisches.

„Wie gefährlich du aussiehst“, sagte ein Nebenmann.

Die beiden anderen brachen in Gelächter aus. Der kleine Taliban schaute geknickt, aber es schien, als sei er ihren Spott gewohnt. Die Art und Weise der Scherze, ihr Humor kamen mir vertraut vor.

Ahmed Tassal und ich legten uns auf den Boden. Ich nahm meine Kameratasche als Kopfkissen und versuchte ein bisschen zu schlafen. Einige Stunden später sagte einer der Männer, wir sollten uns fertig machen. Dann kam Adel und sagte, ich solle ihm und seiner kleinen Einheit folgen. Auf dem Weg aus der Moschee nahm mich Hasibullah beiseite.

„Wohin gehst du, Nagieb?“, fragte er mit aufgerissenen Augen.

„Ich gehe mit Adel“.

„Bist du dir über Adels Rolle bei diesem Angriff im Klaren?“

Ich stand als lächerliches Fragezeichen vor ihm.

„Er soll auf den Berg steigen und einen Raketenwerfer abfeuern“, sagte Hasibullah.

Nun begriff ich, worauf es hinauslief. Adel und Leesan hatten mir tatsächlich die Rolle zugedacht, von der Omar gesprochen hatte. Auf dem Berg waren wir offen für feindliches Artilleriefeuer.

„Da ist wohl nichts zu machen“, antwortete ich aufgebend, weil ich nicht wusste, wie ich da wieder rauskommen sollte.

„Sag ihnen, du hättest ein kaputtes Knie“, sagte Hasibullah. „Wer auf den Berg steigt, muss schnell sein. Wenn erst die Panzer anrollen, tut man gut daran, schleunigst wieder runterzukommen. Mit einem kaputten Knie geht das nicht, verstehst du mich?“

Ich ging zu Adel, der mit seinem Trupp zusammenstand.

„Adel jan“, sagte ich, „es gibt ein Problem. Mir war nicht klar wie steil der Berg sein würde. Ich habe ein kaputtes Knie und kann da nicht raufgehen, weil es nicht übermäßig belastet werden darf.“

Ich versuchte so überzeugend wie möglich zu klingen.

Adel fegte meinen Versuch beiseite, sagte, das würde schon werden. Ich wiederholte, was ich gesagt hatte und fügte hinzu, ich würde sicher nur zur Belastung werden für den Rest, vor allem, wenn sie mich am Ende noch hinunter tragen müssten.

Adel sah enttäuscht aus, fragte, ob ich sicher war, dass ich es nicht schaffen würde. Ganz sicher, sagte ich. Adel ging in die Moschee und kam mit Leesan wieder heraus.

„Du kannst stattdessen mit mir kommen“, sagte Leesan zu meiner großen Erleichterung.

Hasibullah und ich lächelten einander auf diskrete Weise zu.

"Nun zeigte er in Richtung des Berges, der links neben einem kleinen Kanal lag..."

“Nun zeigte er in Richtung des Berges, der links neben einem kleinen Kanal lag…” Foto: Hewad Laraway

Es war verboten, Taschenlampen oder andere Leuchtquellen anzuschalten. Aber die Taliban wirkten weder nervös noch ängstlich, und im Dunkeln ging etwas von ihren Scherzen als gute Laune auf mich über. Ich begann, mich ein wenig zu entspannen. Ich erwartete, dass wir uns vorsichtig in feindliches Gebiet vorzuarbeiten hätten, aber der Marsch ging weiter rasch voran.

Leesan, der den Trupp anführte, blieb erst nach einer Stunde stehen.

„Wir sind da“, sagte er.

Zuvor hatte sich die Gruppe in drei kleinere Einheiten aufgeteilt. Leesan zeigte auf ein quadratisches Gebäude mit einem Kuppeldach, das etwa 500 Meter vor uns lag. Dies war das Ziel: Eine Basis der ANA, der Afghan National Army.

„Wir greifen von hier aus an. Aber die Brüder mit den Granatwerfern klettern auf den Berg und feuern von da. Die dritte Gruppe kommt über die Brücke, die direkt vor der Basis liegt“, sagte Leesan.

„Da sind unsere Männer schon.“

Nun zeigte er in Richtung des Berges, der links neben einem kleinen Kanal lag. Es war Spätherbst, und der Berg war trocken und lag ganz nackt da. Das einzige, hinter dem sich die Taliban verstecken konnten, waren ein paar Steine und Vorsprünge.

Ich kniff die Augen zusammen und schaute nach oben. Es gelang mir die Umrisse dreier Gestalten zu erkennen, die sich bewegten. Bestimmt war Adel einer von ihnen, dachte ich. Wäre ich nicht erneut von Hasibullah gewarnt worden, hätte ich jetzt selbst dort oben gestanden, während die Männer den Granatwerfer klar machten.

Es war seltsam, von dem bevorstehenden Angriff zu wissen. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Als würde ich in eine Kristallkugel schauen, stellte ich mir vor, wie junge Männer, die sich aus zufälligen Gründen auf der Seite der Regierungstruppen befanden, verletzt oder schlimmstenfalls in die Luft gesprengt würden, wenn die Taliban zu bombardieren anfingen. Ich sah es vor mir, wie sie um ihre Leben kämpften, dass ihre Reaktion den Tod der Männer an meiner Seite bedeuten konnte. Und damit war natürlich auch mein Leben in Gefahr. Dass die Konfliktparteien einigermaßen gleich stark waren, schraubte die Zahl der zu erwartenden Verluste nach oben.

Die Sonne war dabei, über den Horizont zu klettern, der Himmel war leuchtend gelb und orangerot. Morgen würde auch noch ein Tag sein, die Sonne wieder hinterm Horizont aufsteigen, doch einige Männer würden das nicht mehr erleben.

Leesan sprach in sein Walkie-Talkie, dass es in wenigen Minuten losgehen sollte. Dann hörten wir ein sich näherndes Fahrzeug.

„Nur die Ruhe, das sind Zivilisten“, rief er, während er sich auf die Straße zubewegte.

Das Auto bremste ab, Leesan winkte den Fahrer an die Seite. Ich folgte ihm, um zu schauen, was vor sich ging. Im Fahrzeug saß ein Elternpaar mit vier Kindern.

„Hat euch jemand gefragt, ob ihr etwas gesehen habt?“, fragte Leesan.

Die Regierungstruppen hatten offenbar einen Kontrollposten nicht weit von hier.

„Nein. Und wir sagen, dass wir niemanden gesehen haben, wenn jemand fragen sollte“, hörte ich als Antwort aus dem Auto.

„Gut.“

Leesan entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten und bat die Familie weiterzufahren. Wir sahen das Auto die Basis passieren, dann verschwand es in der Sonne am Horizont.

Leesan bat mich, hinter einigen Toilettenhäuschen in Deckung zu gehen. Dann sah ich einen Taliban, der herübergelaufen kam, hinter sich weitere Taliban im Abstand von zehn Metern, alles Männer, deren Gesichter ich am Vorabend in der Moschee gesehen hatte. Einer fiel fast über seine eigenen Füße, als er sich dem kommandierenden Leesan näherte. Es war der Junge mit der Elefantenmaske.

Als die letzten Krieger angelaufen kamen, gab es einen lauten Knall. Ich fuhr herum und sah Rauch aufsteigen aus der Basis. Ein großes Aufblitzen war am Berg zu sehen, Sekunden später krachte es erneut, neuer Rauch stieg auf, Adels Leute hatten das Feuer eröffnet.

„Allahu akbar“, riefen die Taliban bei jeder Granate, die in der Basis einschlug.

Leesan bat einen jüngeren Taliban, die schweren Duschka-Maschinengewehre aufzustellen. Einiges deutete darauf hin, dass der Angriff zu früh erfolgt war. Es wirkte unüberlegt, dass die Schnellfeuergeschütze erst jetzt aufgebaut werden sollten, wo der Angriff schon begonnen hatte.

Als das erste Gewehr montiert war, versuchte Leesan, es abzufeuern. Aber irgendetwas stimmte nicht.

„Der Lauf ist nicht gereinigt worden“, rief er wütend. „Wer zum Teufel hat das zu verantworten?“

Einer der jüngeren murmelte etwas Entschuldigendes.

„Halt die Fresse, du Idiot! Du hältst dein Maul, klar?!

Der fluchende Leesan gab die Duschka auf, kam zu mir, um stattdessen den Verlauf der Schlacht zu erklären.

„Guck, da hinten kommen die Selbstmordattentäter“, sagte er und hielt den Arm in Richtung der blauen Brücke unterhalb der Basis, wo ich mehrere Gestalten erkennen konnte, die sich im gemäßigten Tempo der Festung näherten.

„Sie sprengen das Tor zur Basis und ebnen den Weg für uns andere“, probierte es Leesan ganz pädagogisch. Ich war angewidert, von Selbstmordattentätern war mir natürlich vorher nichts gesagt worden.

Einen Augenblick später spurtete er über die offene Landschaft. Er warf einen Blick zurück, während er lief.

„Komm schon, Nagieb, komm mit!“

Ich stand wie angewurzelt da, wusste nicht, was ich tun sollte. Der Weg vor mir hielt nur wenige dünne Büsche bereit, um in Deckung zu gehen, ein paar kleine Hütten aus schwachen Backsteinen und Lehm.

Ich konnte nicht aufhören, mich zu bedauern. Es war vollkommen hirnlos, der Basis entgegen zu laufen, das Risiko, getroffen zu werden, viel zu groß. Die anderen Taliban – Hasibullah eingeschlossen – folgten Leesan ohne zu zögern.

Schließlich lief auch ich hinterher. Die Alternative wäre gewesen, stehen zu bleiben an einem Ort, der Freund und Feind nicht mehr auseinanderzuhalten vermochte. Bevor ich von Regierungstruppen nach meinem Presseausweis gefragt worden wäre, hätten sie sicherlich längst geschossen.

Also lief ich Seite an Seite mit den Taliban, die allesamt „Allahu akbar“ riefen bei ihrem irren Versuch, gegen eine Festung anzurennen. Wir liefen Zickzack zwischen den kümmerlichen Büschen, während um uns herum die ersten Geschosse einschlugen. Die Basis hatte angefangen, den Angreifern Widerstand zu leisten.

Am wohlsten fühlte ich mich noch in der Nähe Hasibullahs, wich also nicht von seiner Seite, folgte nur ihm. Er hatte mich davor bewahrt, auf den Berg zu gehen. Er wirkte etwas bedächtiger als der Rest. Dann hörte ich Rotorengeräusche in der Luft.

„Da kommt ein Helikopter“, rief ein Taliban, der sich umdrehte und mit seinem Nebenmann an mir vorbeilief. Ich spurtete ihnen nach und bemerkte, wie meine Beine weich wurden, ein Unbehagen, das sich bislang verlässlich einstellte, wenn ich in lebensbedrohlichen Situationen war. Während die Taliban und ich davonliefen, brüllte mir Hasibullah hinterher.

„Bleib stehen, Nagieb. Das ist kein Kampfhubschrauber, es ist nur ein Frachthelikopter.“

Ich schielte nach oben, sah, wie sich der große Kriegsvogel näherte, war eingeschüchtert und zweifelte nicht daran, dass es eigentlich das Beste wäre, sich einfach und so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen – aber ich folgte wieder meinem Instinkt, der mir sagte, ich könne dem jungen Hasibullah vertrauen. Ich verfluchte mich selbst und trabte zu ihm zurück.

„Bist du sicher, dass es kein Kampfhubschrauber ist?“

„Ja, ganz sicher.“

„Hundertprozentig?“

„Ja.“

Der Helikopter war nun direkt über unseren Köpfen, wirbelte Staub auf und flog quer über das offene Terrain, auf dem wir uns befanden. Sand flog mir in die Augen, mein Puls war am Limit. Wieder und wieder bereute ich es, mich überhaupt mit den Taliban hierher gewagt zu haben. Ich zweifelte daran, dass ich diese Offensive überleben würde. Wir waren ein leichtes Ziel hier draußen für die Mörsergranaten, die um uns herum einschlugen. Eine Frage der Zeit, dachte ich.

Und wie schlimm würde es erst noch werden, wenn Verstärkung einträfe, was die Taliban bereits vor dem Angriff einkalkuliert hatten.

Die Intervalle zwischen den Einschlägen der Granaten wurden kürzer. Alle paar Sekunden ein großes Bum. Wir suchten weiter Schutz hinter kargen Büschen und kleinen Baumstämmen.

Hasibullah fragte, ob wir uns vorarbeiten sollten, um die Taliban zu sehen, die weiter vorn versuchten, die Basis einzunehmen. Ich hatte genug Action auf dem offenen Feld und dankte mit Nein.

Von meinem Platz aus konnte ich vier Taliban sehen, die, etwa einhundert Meter von der Basis entfernt, eine RPG abfeuern wollten. Sie hatten sich hinter einer flachen Mauer auf den Boden gehockt, und jedes Mal, wenn einer von ihnen kurz den Kopf über die Krone streckte, hörte man den Schall eines knatternden Gewehrfeuers. Schüsse im Gefecht klingen nicht wie die Schüsse im Film. Wenn die Kugeln dichter kommen, machen sie ein Geräusch, das sich beinahe anhört, wie das Schlagen eines hohen Tons auf einer Gitarrensaite.

Kampfhandlungen an sich waren nichts Neues für mich. Zuletzt war ich mit dem Freien Syrischen Heer in den Bergen bei Lattakia unterwegs, später mit islamistischen Kämpfern, die versuchten, eine Militärbasis in der syrischen Provinz Idlib einzunehmen. Aber diese Milizen erschienen mir jetzt, aufgewogen mit den Kampfhandlungen der Taliban, äußerst rational. Die Männer vor mir hatten offenkundig eine hasardeurhafte Vorstellung von Kriegsführung.

Panzerreste, kopfüber

Panzerreste, kopfüber Foto: Hewad Laraway

Ein etwas älterer Talibankämpfer kam mit einem Walkie-Talkie gelaufen.

„Zwei Märtyrer! Wir haben zwei Männer verloren“, keuchte er.

„Wer ist es“, fragte ein anderer.

„Wahidullah und Ehsanullah.“

„Lasst uns unsere lebendigen Bomben zurückrufen“, hieß es von einem Taliban über das Funkgerät.

Der ältere Taliban wollte nichts von einem Rückzug wissen.

„Nein, haltet sie da drüben auf ihrem Posten“, rief er zurück.

Der Optimismus der vergangenen Nacht war gewichen. Ich konnte es in ihren Gesichtern lesen: Der Angriff war nicht wie geplant verlaufen. Leesan hatte es auf eine kurze Operation angelegt, aber nun waren bereits zwei Stunden vergangen. Die Basis hielt stand. Und es sollte noch schlimmer kommen.

„Die Konvois rollen an“, rief einer.

„Was meint er mit Konvois?“, fragte ich Hasibullah.

„Panzer. Es kommen Panzer von einer benachbarten Basis“, sagte er. „Wir müssen hier weg.“

Wir begannen zu laufen. Ich lief Hasibullah nach, er war der Schnellste. Seine flinken Füße und die behänden Sprünge über Unebenheiten und andere Hindernisse ließen mich an die Eingeborenen im Kriegsepos „Der letzte Mohikaner“ denken, die darin, anders als die weißen Imperialisten, ohne Probleme durch die Wälder manövrierten.

Als wir wieder bei den Toilettenhäuschen angelangt waren (und was freute ich mich in jenem Augenblick über diese Toilettenhäuschen), kam die Gruppe zum Stehen. Leesan wollte einen Statusbericht, um dann die nächsten Schritte zu besprechen. Er sah traurig aus. Seine Körperspannung, alles Heroische war verschwunden. Ich meinte, Tränen in seinen Augenwinkeln zu erkennen. Dann sprachen sie von den Opfern, das eine ein Teenager von 17 Jahren, das anderere 25.

Einige Männer versuchten, einander Mut zuzusprechen. Sie sprachen davon, dass die beiden nun Märtyrer seien, dass sie ins Paradies kommen würden. Aber es war deutlich, wie wenig der theologische Grundstoff in diesem Augenblick zu trösten vermochte. Besonders Leesan fühlte sich für ihren Tod verantwortlich.

„Wer will versuchen, die beiden zu holen?“, fragte einer der Jüngeren, der, wie eines der Opfer, Ehsanullah hieß.

Ehsanullah hatte einen dünnen Bart um den Mund anstelle eines vollen Backenbartes, und er sprach trotz seines jungen Alters sehr laut und mit fester Stimme. Jemand, der derart forsch auftritt, fällt auf in einer Gesellschaft, in der die Jüngeren wenig zu sagen haben.

„Wir finden schon einen Weg“, sagte Leesan, der in diesem Moment völlig außerstande schien, irgendeinen Beschluss zu fassen. In solchen Momenten der Schwäche werden starke Männer gepuscht, dachte ich.

Ich setzte mich hinter einen Mauervorsprung und wünschte mir ein baldiges Ende der Offensive herbei.

Während wir uns versteckten, kam ich mit einem älteren Taliban ins Gespräch, er war über fünfzig und hatte als junger Mann gegen die Sowjets gekämpft. Ich fragte ihn, ob er die getöteten Jungs gekannt hatte.

„Ja, das waren gute Jungs“, sagte er.

Der Kampf ging weiter. Aber die Taliban hatten ihn aufgegeben. Zu diesem Zeitpunkt des Rückzugs hielten wir bei einem anderen Haus. Davor saß ein unbewaffneter Mann, den ich nicht kannte.

„Hört auf, euch hier aufzuhalten. Ihr bringt uns alle in Gefahr“, sagte der Mann, ein Zivilist, der in dem Haus wohnte, an das wir angelehnt saßen.

„Wo ist die Moschee?“, fragte einer der Taliban.

„Weiter den Weg runter.“

Der Mann zeigte an seinem Haus vorbei.

„Kommt“, rief der Gruppenführer.

Die Taliban werden oft beschuldigt, Zivilisten als Schutzschild zu benutzen. In den Pressemitteilungen der NATO ist die Sache mit den menschlichen Schutzschilden fast zu einer Standardfloskel geworden, wenn es zu zivilen Verlusten kommt. Hier war das anders. Ich erlebte, wie eine Gruppe Taliban Rücksicht nahm auf den Wunsch eines Einzelnen. War das ein kalkuliertes Sendungsbewusstsein im Beisein eines Journalisten? Ich glaube es nicht, dazu war die ganze Situation zu chaotisch und für alle viel zu aufwühlend gewesen.

Nach fünf Minuten wurde das Tempo gedrosselt, die Stimmung hatte wieder etwas Eigenartiges. Einerseits hatten sie resigniert und ihre gefallenen Kameraden aufgegeben. Die Regierungstruppen waren eine Nummer zu groß für sie gewesen. Doch sie waren auch stolz über die geschlagene Schlacht. Darüber, dass sie dem Feind sicherlich auch kolossalen Schaden zugefügt hatten. Die Sprüche, sie wurden schon wieder größer, selbstgefälliger.

Auf dem Weg weg von der Front fühlte ich mich noch immer wie vollgepumpt vom Adrenalin, hatte einen trockenen Mund, mein Puls war noch immer in Aufruhr.

Jeder Krieg hat seine eigenen Wahrheiten

Jeder Krieg hat seine eigenen Wahrheiten Foto: Hewad Laraway

Wir passierten Bewohner, die sich auf der Straße nach Charkh vor ihre Häuser stellten. Einige riefen und applaudierten den Taliban, andere schauten still und neugierig. Ein Taliban auf einem Motorrad hielt neben mir: „Du bist unser Gast, du sollst doch nicht den ganzen Weg laufen. Hüpf drauf!“

Ich hüpfte drauf. Er fuhr mich durchs Zentrum der Provinzhauptstadt Charkh, vor mir verschwammen Bilder unzähliger Motorräder, Mofas, Männer in traditionellen Gewändern und wenige Frauen in blauen Burkas.

Es dauerte lange, bis wir endlich die Moschee erreichten, von der wir nachts zuvor aufgebrochen waren. Ich fand eine Ecke, in der ich meinen Kopf auf meine Jacke legte. Es vergingen nur Sekunden, ehe ich ausging wie eine ausgeknipste Tischleuchte.

V

Ich brauchte eineinhalb Tage, bevor ich wieder klar denken konnte. Ich schlief den ganzen Vormittag in der Moschee, bis ich von einigen Taliban zu meiner Gastfamilie gebracht wurde. Mein Körper war am Ende, mein Stresspegel übermäßig hoch, und wieder schlief ich früh am Abend ein.

Am nächsten Tag erzählte Atiqullah, wir hätten die Möglichkeit, verschiedene Orte in der Umgebung zu besuchen, um mit den Einheimischen zu sprechen. Vorher müssten wir jedoch auf eine Beerdigung gehen.

Der Ältestenrat des Dorfes hatte die Sicherheitskräfte der Militärbasis überzeugt, die Toten des Angriffs an die Dorfbewohner zu übergeben. Beide Opfer würden heute beigesetzt. Mir war es lediglich gestattet, an der Beisetzung des 17-Jährigen teilzunehmen. Der ältere Gefallene hatte einen Bruder in der afghanischen Armee. Seine Familie lehnte es ab, dass ich an der Beerdigung teilnahm.

Viele Dorfbewohner waren erschienen, um der Familie des Verstorbenen ihr Mitgefühl auszudrücken. Der 17-jährige Ehsanullah wurde getötet, als er die Militärbasis zusammen mit den Selbstmordattentätern angegriffen hatte. Er hatte ihnen Rückendeckung geben sollen, während sie versuchten, so dicht wie möglich an die Basis zu kommen. Familienmitglieder und Freunde trugen seinen Sarg, die Dorfbewohner riefen „Allahu akbar“, während sie sich langsam dem Grab näherten.

„Tod den USA. Tod der verräterischen afghanischen Regierung“, riefen die Männer.

Frauen nehmen nicht an Beerdigungen teil. Erst wenn der Verstorbene begraben ist und die Männer den Friedhof verlassen haben, dürfen die Frauen an die Gräber treten, um zu trauern. Ich erkannte viele Gesichter aus der Nacht des Angriffs. Der junge Ehsanullah und die Kommandeure Adel und Leesan waren auch da. Sie hockten sich neben das Grab. Ein Imam stand an dessen Ende und hielt eine Rede.

„Dies ist kein Tag der Trauer“, rief der Imam. „Vielmehr ist es ein glücklicher Tag. Allah der Allmächtige hat gesagt, dass die Märtyrer, diejenigen, die für seine Sache kämpfen, nicht tot, sondern lebendig sind.“

In seiner Grabrede ließ der Imam keinen Zweifel daran, dass er die Taliban in ihrem Kampf gegen die afghanische Regierung unterstützte. Der Rest der Rede handelte davon, welche Belohnungen im Jenseits auf diejenigen warteten, die für die Sache Gottes gekämpft hatten. Nachdem ein weiterer Imam Ähnliches gesprochen hatte, legten die Verwandten des jungen Mannes den leblosen Körper ins Grab. Sein fahles Gesicht war zu sehen; im Mundwinkel sah man einen Rest vertrocknetes Blut, bevor ihn die Erde nach und nach bedeckte.

Afghanische Generationen

Afghanische Generationen Foto: Hewad Laraway

Vor der Beerdigung hatte ich darum gebeten, mit dem Vater des Verstorbenen sprechen zu dürfen. Nun erschien Leesan und führte ihn zu mir.

„Ich bin nicht traurig, ich bin stolz auf meinen Sohn, denn er starb als Märtyrer“, sagte er mit Tränen in den Augen.

„Sie weinen also nicht aus Trauer, sondern aus Freude?“, fragte ich ihn und bedauerte meine Frage sofort, denn es war so offensichtlich, wie tieftraurig der Alte war.

„Ja, natürlich bin ich glücklich über seinen Tod“, log er.

„Warum hat er gegen die Regierung gekämpft?“

„Weil die Regierung einen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist und Seite an Seite mit den Amerikanern steht. Wir werden nicht aufhören, Widerstand zu leisten, auch wenn wir hundert Jahre weiterkämpfen müssen.“

Der Alte wollte nicht mehr mit mir sprechen und fragte höflich, ob er gehen könne. Ich entschuldigte mich dafür, ihn aufgehalten zu haben. Gemäß den afghanischen Gepflogenheiten fragte er noch, ob er mir eine Tasse Tee anbieten könne. Der ungeschriebene Gästekodex besagt, dass ein Mann, egal in welcher Situation er sich befindet, einem Reisenden stets einen Tee oder etwas zu essen anbieten muss. Ich verneinte.

Nach der Beerdigung lauschte ich einem Gespräch zwischen dem anderen, überlebenden Ehsanullah und einigen Taliban.

„Es ist eine Schande für Ehsanullahs Vater. Ich habe Mitleid mit ihm und kann nicht umhin zu denken, wie schlecht er sich fühlt“, sagte Ehsanullah zu seinem Freund.

Mir war klar, dass die Taliban ein Teil der Gemeinschaft waren, und dass die Dorfbewohner sich umeinander kümmerten. Ich erinnerte mich an das Gespräch, das ich während des Angriffs mit dem älteren Taliban hatte, der mir sagte, dass er die Getöteten kannte. Ich fragte ihn, ob alle Taliban-Kämpfer aus der Gegend waren.

„Ja, wir sind alle aus Charkh. Wenn jemand sagt, wir seien Pakistaner, ist das Propaganda und Lüge.“

Seine Abwehrhaltung war nachvollziehbar. Gegner der Taliban hatten häufiger behauptet, die Taliban wären von pakistanischen Agenten gesteuert, und dass die meisten ihrer Kämpfer Pakistaner seien. Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan verloren hatten, wurde Pakistan beschuldigt, der Führung der Taliban Unterschlupf zu gewähren, sie mit Geheimdienstwissen zu füttern und ihre Trainingslager zu dulden, damit sie unbehelligt weiter Männer für den Kampf gegen die afghanische Regierung und die westlichen Truppen rekrutieren konnten.

„Wenn wir das pakistanische Militär hier sehen, werden wir es bekämpfen“, sagte der Alte, die Unabhängigkeit der Taliban betonend.

„Warum kämpft ihr gegen die afghanische Regierung?“, fragte ich.

„Weil sie keine Muslime sind. Sie haben es den Amerikanern erlaubt, unser Land zu besetzen, deshalb sind es Verräter. Wer hat Hamid Karzai zum Präsidenten gewählt? Die Amerikaner. Die Afghanen haben ihn nicht gewählt. Er war ihre Marionette. Mit Aschraf Ghani, der in den USA studiert hat, der für die Weltbank gearbeitet hat, ist es genauso. Warum sollten wir ihnen gehorchen?“

Ich konnte dem Taliban in diesem Punkt kaum widersprechen. Der afghanische Präsident Hamid Karzai war nicht durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen. Er wurde als temporäre Übergangsfigur der Amerikaner nach dem Sturz der Taliban ins Amt berufen, und als schließlich Präsidentschaftswahlen stattfanden, war der Wahlbetrug so umfassend, dass man das großzügige Resultat zugunsten Karzais nicht wirklich ernstnehmen konnte. Die Präsidentschaftswahl am 5. April 2014, aus der Aschraf Ghani in einer späteren Stichwahl gegen den ehemaligen afghanischen Außenminister Abdullah als Sieger hervorging, war ähnlich umstritten. Ferner hat Karzai, dessen Anwesen sich nur wenige hundert Meter vom Präsidentenpalast befindet, weiterhin großen Einfluss.

Ich fragte den Alten, was er tat, wenn er nicht kämpfte.

„Ich bestelle die Felder“, antwortete er. „Ich bin Bauer. So wie die meisten von uns. Den Dschihad kämpfen wir nur neben der Arbeit, die wir zum Überleben brauchen.“

"Den Dschihad kämpfen wir nur neben der Arbeit, die wir zum Überleben brauchen“

“Den Dschihad kämpfen wir nur neben der Arbeit, die wir zum Überleben brauchen“ Foto: Hewad Laraway

Am Morgen nach der Beerdigung wurden wir vom jungen Taliban Ehsanullah abgeholt – er war derjenige, der während des Angriffs vorlaut gefragt hatte, wer die Toten holen wollte. Er wurde von einem seiner Freunde begleitet, und sie fuhren uns auf ihren Motorrädern zu einer Baustelle, auf der vier Männer damit beschäftigt waren, aus Ziegelsteinen ein Fundament zu errichten, das den Umrissen nach ein ziemlich eindrucksvolles Gebäude werden würde. Der Sprecher der Taliban im Bezirk Charkh, Shuaib, erwartete uns.

Nach dem Rückzug vom Schlachtfeld hatte ich ihn vor der Moschee gesehen. Ich begrüßte ihn und bemerkte, dass ihm mehrere Finger seiner rechten Hand fehlten. Er hatte dunkelbraune Haare und trug einen Pakul auf dem Kopf, einen weichen Hut aus mehreren Stoffschichten, der im Osten Afghanistans getragen wird. Im Westen ist er als Kopfbedeckung der Mudschahedin bekannt geworden. Noch heute treffe ich Alt-68er, die einen Pakul besitzen, weil sie einst die berühmte Hippie-Strecke von der Türkei über Afghanistan nach Indien gereist sind. Damals war Afghanistan ein kleines friedliches Königreich, das unter den Hippies vor allem wegen seiner niedrigen Preise und dem guten Haschisch beliebt war.

Shuaib wandte sich dem Bauplatz zu.

„Wir werden hier eine neue Schule errichten.“

Ein bewaffneter Taliban überwachte den Ort.

„Wir sind in dieser Gegend für den Bau von Schulen zuständig. Mit der afghanischen Regierung haben wir darüber eine Vereinbarung getroffen.“

Der Westen hat die Ablehnung von Bildung zum Markenzeichen der Taliban stilisiert. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen unserer Wahrnehmung und dem Selbstbild der Taliban. Als sie Mitte der Neunzigerjahre an die Macht kamen, wurde den meisten Mädchen verboten, in die Schule zu gehen. Die Taliban initiierten eine extreme Segregationspolitik, die nicht nur Einfluss auf die Bildung hatte, sondern auch auf alle anderen Bereiche der Gesellschaft. Frauen und Männer durften – soweit sie nicht miteinander verwandt waren – keinen Umgang haben, völlig egal ob bei der Arbeit, beim Einkaufen oder in der Schule.

Die Geschlechtertrennung in den Bildungseinrichtungen beeinträchtigte in erster Linie die Mädchen, weil die Jungen den gesellschaftlichen Vorrang genossen. Mädchen mussten darauf warten, dass die Taliban Zeit oder Lust fanden, neue Schulen für sie zu bauen. In der Praxis bedeutete dies, dass die Mehrheit der Mädchen in Afghanistan nie Gelegenheit bekam, eine Schule zu besuchen. Auch gab es Gegenden, in denen ein vollständiges Verbot weltlicher Bildung für Mädchen herrschte. Es ist allerdings ein Mythos, dass unter den Taliban überhaupt keine Mädchen zur Schule gingen. Die NGO Svenska Afghanistankommittén schrieb in einem ihrer Berichte, dass in den 650 Schulen, die von der Organisation unterstützt werden, insgesamt 160.000 Schüler unterrichtet werden 19 Prozent davon sind Mädchen. Schätzungsweise konnten mindestens 50.000 Mädchen während der Talibanherrschaft zur Schule gehen.

Universitätsprogramme für Frauen waren so lange verboten, bis der Taliban-Führung dämmerte, dass die Vernachlässigung der Bildung von Frauen Folgen für die gesamte Gesellschaft hatte. Da es keine weiblichen Ärzte gab, konnten viele Frauen nicht behandelt werden, denn Frauen war es verboten, von Männern untersucht zu werden. Die Führung der Taliban musste Ausnahmen genehmigen, um Frauen den Zugang zum Medizinstudium und anderen Fachausbildungen zu ermöglichen. Die Bildungspolitik der Taliban hatte auch auf die Jungen einen negativen Einfluss, weil der größte Teil der knappen Ressourcen auf die religiöse Erziehung und den nicht enden wollenden Krieg gegen die ehemaligen Hauptgegner, die Warlords aus dem Norden, verwendet wurden.

Shuaib führte uns zu einer Schule, die fünf Autominuten vom Baugrundstück entfernt lag. Er zeigte mir die verschiedenen Zimmer, in einigen hockten Jungen über ihren Büchern und lasen, eine andere Klasse hatte gerade Geschichtsunterricht. In einem weiteren Unterrichtsraum wurde Physik und Chemie unterrichtet. Die Gleichungen auf der Tafel waren zu kompliziert für mich. Ich hatte trotz guter Sprachkenntnisse Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen.

Wir fuhren weiter zu einer der Mädchenschulen. Hier behandelte eine Klasse mit elf bis zwölf Jahre alten Mädchen gerade das Buch „Ein Tag im Leben einer Fliege“. Eines der Mädchen las vor, die anderen mussten das Vorgetragene laut wiederholen. Der Lehrer, Omar Gul, war ein Mann Mitte 40. Ich fragte ihn, wie lange die Schule schon existierte.

„Die Taliban kontrollieren diese Gegend seit sechs Jahren, und es gab nie Probleme mit ihnen. Ich habe in all den Jahren ganz normal unterrichtet“, sagte Omar Gul.

Meine Frage, ob die Taliban bestimmte Bücher verbieten würden, verneinte er. Ich bemerkte, dass Leesan zu einem der Mädchen gegangen war und sie gebeten hatte, ihm etwas aus dem Buch vorzulesen, und er versuchte sie mit seinem Lächeln einzufangen.

„Das war sehr gut gelesen, du bist sehr tüchtig“, hörte ich ihn sagen, während er sich gegen seine Kalaschnikow lehnte. Die Situation wirkte nicht künstlich, und die Mädchen schienen sich wohlzufühlen in seiner Gegenwart.

Ein Mädchen namens Rozina erzählte mir, ihr Lieblingsfach sei Englisch. Als ich fragte, ob sie das englische Alphabet aufsagen könne, gab sie es fehlerfrei wieder.

Als die Glocke läutete, verließen wir das Klassenzimmer. Gleichzeitig strömte ein ganzer Mädchenschwarm aus dem Nachbargebäude. Einige von ihnen waren älter als die Mädchen, deren Unterricht ich besucht hatte. Auf der Straße trafen wir eine weitere Gruppe, die gerade freibekommen hatte und auf dem Weg nach Hause war. Das Stadtbild von Charkh sah aus, wie das jeder anderen afghanischen Provinzstadt. Auch hier trugen die älteren Schülerinnen, die bereits in die Pubertät gekommen waren, eine Burka.

Zu meiner großen Überraschung hatte die afghanische Regierung einen Vertreter in Charkh. Ich traf ihn im Büro der Jungenschule. Er erzählte mir, dass sie eine Vereinbarung mit den Taliban hatten. Diese sah vor, dass die Regierung Schulen in der Umgebung bauen durfte, die anschließend von den Taliban verwaltet würden.

Von 2005 bis 2010 führten die Taliban eine heftige Kampagne gegen Schüler und Lehrkräfte staatlich geführter Schulen. Die Taliban vermuteten, dass der Unterricht für Regierungspropaganda genutzt würde. Sie nannten es eine Gehirnwäsche westlicher Kultur. Viele Schulen wurden niedergebrannt, Lehrer verletzt und getötet. Die ländliche Bevölkerung wandte sich jedoch gegen die Kampagne, sie fingen an, ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen und Druck auf die Taliban auszuüben. Die Taliban bemerkten, dass sie Anhänger und Zuspruch in der Bevölkerung verloren, weil sich die Leute um jeden Preis Bildung für ihre Kinder wünschten, und so gingen lokale Talibanfraktionen schließlich in einen informellen Dialog mit der afghanischen Regierung.

Dieser verborgene Prozess wurde im Bericht „The Battle for the Schools“ dokumentiert, geschrieben von den beiden Taliban-Experten Claudio Franco und Antonio Giustozzi. Darin forderten die Taliban mehr Religionsunterricht, das Entfernen amoralischer Literatur aus dem Lehrmaterial und das Verbot, Schulen als Wahllokale einzusetzen. Sie verlangten außerdem, alle politischen Inhalte sollten aus dem Lehrplan entfernt werden. Es ging um Bücher, die die afghanische Regierung und ihren Präsidenten feierten, oder Materialien, in denen Taliban als Verbrecher dargestellt wurden. Der Kompromiss zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung führte dazu, dass lokale Taliban-Anführer in mehreren Schulbezirken – vor allem im Osten Afghanistans – Schulen in Eigenverantwortung betrieben.

Bevor wir zu unserer Gastfamilie zurückfuhren, machte ich einen Spaziergang mit Ehsanullah. Ich fragte ihn, warum er sich den Taliban angeschlossen hatte. Er antwortete, er habe dafür keine religiösen Gründe gehabt.Das afghanische Militär sei der Anlass dafür gewesen.

„Es ist noch nicht allzu lange her, da haben sie drei Kinder aus meiner Familie getötet“, sagte Ehsanullah.

„Die Soldaten feuerten mit ihrer Artillerie aus der großen Basis drüben am Berg und trafen ihr Haus. Zwei Mädchen und ein Junge wurden getötet. Sie sind rücksichtslos. Wir werden die afghanische Armee und die Juden bekämpfen, bis sie unser Land verlassen.“

Ich war verwundert, dass er jetzt plötzlich von „den Juden“ sprach.

„Wer hat dir erzählt, dass ihr gegen Juden kämpft?“

„Das war der Imam unserer Moschee.“

„Aber die meisten Amerikaner sind keine Juden. Sie sind Christen“, erklärte ich ihm.

Ehsanullah sah überrascht aus.

„Bist du dir sicher? Der Imam hat es uns doch so erzählt.“

„Ja, das weiß ich ganz sicher. Ich war selbst in den USA. Die meisten Amerikaner sind Christen. Es gibt eine jüdische Minderheit im Land, aber die Verteilung in der Armee ist ungefähr die gleiche wie in der amerikanischen Bevölkerung, und deshalb ist nur eine kleine Gruppe der amerikanischen Soldaten Juden.“

„Ach so, das wusste ich nicht“, sagte Ehsanullah.

Ein anderer Teenager unterbrach uns und umarmte Ehsanullah. Ein guter Freund, der gerade aus Kabul zurückgekehrt war, wo er zu Schule ging. Er fragte Ehsanullah, wer ich sei. Ehsanullah erklärte seinem Freund, dass ich aus Kabul oder aus einem anderen Land war.

Jedes Mal wenn ich Afghanistan besuche, bin von Neuem überrascht, wie wenig die Afghanen über den Westen wissen. Die meisten Taliban und auch die übrigen Afghanen in den ländlichen Gegenden können nicht zwischen Soldaten aus den westlichen Ländern unterscheiden. Oftmals bezeichnen sie einfach alle als „Amerikaner“. Wenn man sie bitten würde, die USA auf einer Weltkarte zu markieren, wüssten die meisten nicht wo. Sie würden auch Afghanistan nicht finden. Eine Untersuchung des amerikanischen think tanks ICOS zeigt, dass 92 Prozent der Afghanen aus dem Süden des Landes, wo die meisten militärischen Konflikte stattgefunden haben, paradoxer Weise noch nie etwas von den Angriffen auf das World Trade Center am 11. September 2001 gehört haben. Mit anderen Worten: Die Mehrheit der Afghanen weiß nicht, weshalb ihr Land besetzt wurde.

Ich fragte Ehsanullah, ob es für ihn gar kein Problem darstellte, dass sein Freund bei den „Feinden“ in Kabul wohnte.

„Nein, er wohnt dort ja nur wegen der Schule.“

„Was ist mit dir? Willst du nicht auch eine Ausbildung anfangen?“

„Doch, ich besuche das Gymnasium hier in Charkh, und ich hoffe, dass ich mich in Zukunft noch weiterbilden kann. Mein größter Traum ist es, Ingenieur zu werden.“

„Aber du kämpfst doch mit den Taliban. Was sagen Leesan und die anderen Kommandanten dazu?“

„Sie finden es gut und ermutigen mich weiterzumachen. Ich bin Schüler und Dschihadi“, sagte er mit einem Lächeln.

Sein Freund sagte: „In unser Stadt entscheidet man freiwillig, ob man kämpfen möchte oder nicht. Niemand zwingt dich hier in den Kampf.“

Ich fragte Ehsanullah, was er tun würde, falls sein Freund sich eines Tages dazu entschließen würde, für die afghanische Regierung zu arbeiten.

„Dann würde ich versuchen, ihn davon abzubringen.“

„Und was, wenn er nicht auf dich hören würde? Würdest du ihm drohen?“

„Nein. Ich würde ihn schon überzeugen können. Ganz ohne Gewalt.“

Westliche Körperwelten

Westliche Körperwelten Foto: Hewad Laraway

Es war merkwürdig anzusehen, wie entspannt diese Diskussionen abliefen. Denn unter den Taliban kommt es einer Todsünde gleich, für die afghanische Regierung zu arbeiten. Ich erinnerte mich plötzlich an die Hinrichtungsvideos, die ich mir auf Youtube angeschaut hatte. Eines war mir ganz besonders im Gedächtnis hängen geblieben. Darin unterhält sich ein Taliban mit zwei jungen Männern, die an den Händen gefesselt sind. Das Gespräch verläuft ruhig, man kann die Angst der Gefangenen nur erahnen. Der Taliban hält zwei Ausweise in die Kamera und schiebt sie den Männern in den Mund. Er fordert sie auf, die Zähne fest zusammen zu beißen. Danach sagt er, dass die Ausweise zweifelsfrei beweisen, dass die Männer Angestellte der afghanischen Regierung sind. Das mache sie zu Verrätern. Dann stellt er sich hinter die beiden und schießt ihnen in den Hinterkopf. Die Männer fallen leblos um und der Taliban schlendert grausam lässig aus dem Bild.

Als ich das Video zum ersten Mal sah, wurde mir schlecht. Die Erinnerung daran führt mir immer wieder vor Augen, wie wenig ein Menschenleben in Afghanistan wert ist. Es wirkte jedoch so, als schauten die Taliban im Charkh Distrikt mit mehr Milde auf Einwohner, die für die Regierung arbeiteten. Besonders das Gespräch mit dem Vertreter des Bildungsministeriums, der mit den lokalen Taliban zusammenarbeitet, hatte auf mich einen solchen Eindruck gemacht.

Am selben Abend saß ich mit meinem Helfer Ahmad Tassal im Wohnzimmer unseres Vertrauensmannes Atiqullah. Atiqullah fragte nach der Wasserpfeife, die ich ihm aus Kabul hatte mitbringen sollen. Ich zog sie aus meinem Gepäck, gab ihm auch Tabak und Kohle, und wir fingen an zu rauchen. Es klopfte an der Tür. Als Leesan und Adel eintraten, wunderte es mich, dass niemand die Wasserpfeife versteckte. Die Taliban hatten das Rauchen von Wasserpfeifen verboten, die Strafen bei Zuwiderhandlung hatten teilweise drastische Ausmaße. Aber als Leesan die Wasserpfeife erblickte, funkelten seine Augen vor Freude. Er setzte sich neben Tassal, der gerade mit der Pfeife zugange war und fragte ihn, ob er mitrauchen dürfe. Ich erkundigte mich, was mit dem Rauchverbot sei.

„Das war ein einmal“, sagte er und nahm einen tiefen Zug.

„Hier in Charkh ist das Rauchen erlaubt. Wir können auch das Haschrauchen nicht verhindern, aber wir versuchen natürlich, den Leuten zu erklären, dass es schädlich für sie ist“, antwortete Leesan, während er die Wasserpfeife an Adel weiterreichte.

„Rauchen und Satelliten-TV sind erlaubt. Wir zwingen die Männer auch nicht, einen langen Bart zu tragen oder so was.“

Leesan erinnerte mich daran, dass ich viele frisch rasierte Männer in Charkh gesehen haben musste im Laufe der letzten Tage.

„Musik im Bazar ist strengstens verboten. Aber was die Leute zu Hause machen ist ihre Sache“, fügte er hinzu.

Ich verstand, dass die Wasserpfeife der einzige Grund für den Besuch der beiden Kommandanten gewesen war. Leesan und Adel räumten ein, dass sie es gewesen waren, die Atiqullah gebeten hatten, mich zu fragen, ob ich eine Wasserpfeife kaufen und mit nach Charkh bringen könnte.

Atiqullah betrat den Raum und sagte etwas zu Hasibullah, der die Wasserpfeife an mich weiterreichte.

„Da kommt Hasibullahs großer Bruder“, flüsterte Atiqullah mir zu.

Einen Augenblick danach trat ein frisch rasierter Mann im Anzug und mit modischer Brille in den Raum. Hasibullahs Bruder war als Arzt in Kabul tätig und besuchte seine Familie in Charkh. Der Bruder sprach Paschtu mit Atiqullah, ich verstand ihn nicht. Dennoch bemerkte ich, dass er herablassend auf die Pfeife blickte. Ich reichte sie an Leesan weiter.

Der Taliban ähnelte plötzlich jemandem, der nicht wusste, wohin mit sich selbst. Der Arzt hielt nun eine längere Predigt über die gesundheitsschädlichen Folgen des Rauchens. Sowohl Adel als auch Leesan blickten ihn entschuldigend an.

„Bist du wirklich so abhängig von deiner Wasserpfeife, dass du unbedingt rauchen musst, während du hier zu Besuch bist?“, fragte mich der Arzt.

Ich verstand, dass Hasibullah ihm erzählt hatte, dass ich der Initiator des Ganzen war. Ich reagierte schnell und sagte ihm, dass es mir schwer falle, die Wasserpfeife mehrere Tage lang zu entbehren, und entschuldigte mich vielmals dafür sein Zuhause zu verschmutzen. Wer sich freiwillig in die Schusslinie bei einer Offensive der Taliban begab, musste es auch ertragen können, eine Lektion von einem Arzt zu erhalten.

Die Taliban in Charkh haben sich an rasierte Gesichter gewöhnt

Die Taliban in Charkh haben sich an rasierte Gesichter gewöhnt Foto: Hewad Laraway

Am vierten Tag in Charkh fragte mich Leesan, ob ich die große afghanische Militärbasis sehen wolle. Der Gedanke an den Angriff vor wenigen Tagen machte mich nervös. Leesan versicherte mir, dass wir die Militärbasis beobachten konnten, ohne gesehen zu werden. Trotz meiner schlechten Erfahrungen mit den Sicherheitsversprechungen der Taliban, hatte ich beschlossen, auf Leesans Motorrad zu springen und mit zur ANA-Basis zu fahren. Der junge Ehsanullah folgte uns auf seinem eigenen Motorrad.

Nach zehn Minuten kamen wir zu einer Reihe baufälliger Häuser und betraten eines davon. Im zweiten Stock angekommen, winkte mich Ehsanullah zu sich.

„Schau mal durch das Loch hier.“

Ich sah ein großes, weißes Gebäude mit einem blauen Dach. Es lag ungefähr 300 Meter entfernt. Das Gebiet sah verlassen aus und ich verstand nicht, wonach ich Ausschau halten sollte.

„Was ist das?“, fragte ich.

„Das ist die Militärbasis“, antwortete Ehsanullah.

„Eine verlassene Militärbasis meinst du“, folgerte ich.

„Nein, nein, dort befinden sich Soldaten, 300 Mann etwa.“

Ich erschrak und entfernte mich schnell von dem Loch.

„Immer mit der Ruhe, sie können uns nicht sehen“, sagte Leesan. „Sie haben sich in der Militärbasis isoliert und bewegen sich niemals nach draußen. Sie trauen sich raus, wenn sie in langen Konvois mit Panzern fahren. Die Soldaten aber sind im Grunde unsichtbar. Die afghanische Regierung behauptet zwar, sie habe das Gebiet unter Kontrolle, aber das liegt ausschließlich an der Präsenz der Militärbasis.“

Im Laufe meiner drei Tage in Charkh hatte ich in der Tat keine Soldaten oder Polizisten gesehen.

Wir verließen das Gebäude und fuhren zurück, um Ahmad Tassal abzuholen. Leesan wollte mit uns zu einem Park fahren, in dem wir Früchte essen und die schöne Aussicht über die grüne Umgebung genießen konnten. Im Park angekommen, begann Leesan von einem Mädchen aus der Gegend zu erzählen, in das er sich verliebt hatte. Er kannte das Mädchen kaum, aber trotzdem hatte Leesan mehrere Jahre davon geträumt, sie zu heiraten.

In den ländlichen Gegenden Afghanistans ist es undenkbar, ein Mädchen kennenzulernen. Die Ehe ist die einzige Möglichkeit, mit einem Mädchen zusammen zu sein, es sei denn, man bricht die Regeln. Im schlimmsten Fall bedeutet dies die Todesstrafe. Daher ist es durchaus üblich, dass Jungen aus ländlichen Gegenden sich in ein Mädchen verlieben, das sie weder gesehen noch gesprochen haben. Gerüchte über das vermeintliche Wesen eines bestimmten Mädchens reichen oftmals aus, um die Jungen in Schwärmerei zu versetzen.

Leesan hatte, wie es die Tradition vorschreibt, seinen Vater zur Familie des Mädchens geschickt, damit er für ihn um ihre Hand anhielt. Mehrere Monate vergingen ohne Antwort. Als der Vater sich abermals an die Familie wandte, gab es zum Leidwesen Leesans eine Absage. Er wusste nicht, ob die Entscheidung von der Familie oder dem Mädchen selbst getroffen wurde. Einige Tage später fand Leesan heraus, dass die Familie in eine andere Gegend gezogen war – aus Angst, Leesan könnte Rache für die Absage nehmen.

„Niemals würde ich jemandem Schaden zufügen oder meine Rolle bei den Taliban zu meinem Vorteil nutzen. Wir wollen nicht parteiisch wirken.“

„Aber die Taliban haben doch auch früher schon die Bewegung als Entschuldigung für ihre Taten benutzt“, sagte ich.

„Ja, das stimmt, aber so ist das ja mit allen politischen Bewegungen in Afghanistan. Ich glaube nicht, dass es hier im Land eine politische Bewegung gibt, die nicht korrupt ist“, sagte Leesan. „Aber hier in Charkh sind wir gerade deshalb so populär, weil wir die Vetternwirtschaft und die Unparteilichkeit bekämpfen. Deshalb kann ich auch nicht verstehen, warum die Familie sich so vor mir gefürchtet hat.“

In Afghanistan sind Familienvendetten an der Tagesordnung. Es ist schon oft vorgekommen, dass eine Braut, deren Familie einen hoffnungsvollen Bräutigam abgelehnt hat, einer grausamen Rache zum Opfer fiel. In der nördlichen Provinz Kundus hatte ein Mädchen einmal einen Freier abgewiesen, der ihr daraufhin die Nase abschnitt. Das Mädchen heißt Bibi Aisha, das Foto ihres verstümmelten Gesichts ging um die Welt. Es gibt unzählige dieser Geschichten von Gewalt gegen Frauen in Afghanistan. Verbrechen, die innerhalb der Familie oder im Clan passieren, werden selten bestraft.

Im Westen erzählt man sich, dass die Taliban schuld seien an der Eskalation der Gewalt gegen Frauen. Dabei gab es Verbrechen dieser Art in Afghanistan schon lange vor den Taliban.

VI

An einem frühen Nachmittag standen Ahmad Tassal und ich vor einer der großen Moscheen in Charkh und warteten auf den Richter. Im Laufe der vergangenen Jahre wurde viel über die Sharia-Gerichte der Taliban berichtet, aber kein westlicher Journalist hatte bislang einen Prozess miterleben dürfen. Mir war es gelungen, den lokalen stellvertretenden Bezirksleiter der Taliban filmen zu dürfen.

„Die Richter der Taliban sind fair. Sie nehmen keine Bestechungsgelder und sprechen meist gerechte Urteile aus. Selten haben sie ungerecht geurteilt“, erzählte einer der Männer.

Der Richter kam und begrüßte uns, bevor er begann, den Klagen der Anwesenden Aufmerksamkeit zu schenken. Zu unserer großen Überraschung fanden die Prozesse auf der Straße und nicht in der Moschee statt. Der Richter ging in die Hocke und hörte den Klagenden zu. Sein Name war Fazil Rahim und er war Stellvertretender Gouverneur von Charkh. Er trug einen Patu, eine Art schwarzen Teppich, der sowohl seinen Kopf als auch seinen Körper bedeckte. Ein kleiner Mann mit freundlichem Erscheinungsbild. Die erste Person, die eine Audienz bei ihm erhielt, war eine Frau, verhüllt in eine blaue Burka.

„Ich bin die Frau des verstorbenen Neffen des Mullah Sattar“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Als mein Mann starb, schmissen meine Stiefsöhne mich aus dem Haus. Ich bin ganz auf mich allein gestellt und habe nichts von meinem Mann geerbt, obwohl ich ein Recht darauf habe.“

Die Stimme der Frau erstickte nach und nach unter Tränen.

„Sie sagten mir, dass ich mir einfach einen neuen Mann suchen soll. Was soll ich denn jetzt machen?“

„Ich höre deine Klagen, Schwester“, sagte Fazil Rahman mit ruhiger Stimme.

„Du musst eine offizielle Klage einreichen, dann nehmen wir uns deines Falles an.“

Die Frau weinte weiter.

„Keiner will mir helfen“, wiederholte sie wieder und wieder, bis Fazil Rahim sich genötigt sah, sie zu unterbrechen, um mit den anderen Prozessen fortfahren zu können.

„Schwester, ich verspreche dir, wir werden uns deines Falles annehmen. Bitte, geh jetzt dort hinüber, um eine offizielle Klage einzureichen“, wiederholte er und deutete auf einen seiner Kollegen.

Der Richter schaute zu einem der anderen Taliban, der sich im Hintergrund aufhielt.

„Bruder, hilf ihr, die Klage zu schreiben, damit wir uns um ihren Fall kümmern können.“

Der Taliban führte die Frau in ein naheliegendes Gebäude und wir folgten ihnen. Drinnen würde der Richter sein Urteil verkünden in einem Fall über unbezahlte Schulden zwischen zwei Familien. Sein Urteil stand bereits vorher fest. Die Taliban hatte den Schuldigen inhaftiert, da er seine Schulden zum wiederholten Male nicht beglichen hatte. Jetzt saß der Richter dem Schuldner sowie dem Gläubiger gegenüber.

„Wir haben ihn jetzt einen ganzen Monat inhaftiert und er hat seine Schulden noch immer nicht beglichen“, sagte der Richter. „Er hat nicht die Mittel um sie zu bezahlen, wir müssen ihn wieder gehen lassen.“

Der verschuldete Mann lächelte erleichtert.

„Du musst uns versprechen, dass du deine Schulden zahlst, sobald du die Möglichkeit dazu hast. Verstanden?“

Der Mann nickte bemüht.

Bevor der Richter den Fall für beendet erklärte, wandte er sich dem Gläubiger zu.

„Ich verspreche dir, falls er verschwindet übernehmen die Taliban seine Schulden.“

Im nächsten Fall ging es um zwei Kanarienvögel, die ein Taliban von einem älteren Mann erhalten hatte, ohne ihn dafür zu bezahlen.

„Ich bin seine Entschuldigungen leid“, sagte der ältere Mann. „Die von uns vereinbarte Frist ist längst abgelaufen.“

Der Taliban schaute verlegen zu Boden.

„Ich habe das Geld nicht. Was soll ich tun?“

„Ich wollte die Vögel weiterverkaufen, aber der Interessent ist abgesprungen. Aber der Alte hat mir gesagt, ich hätte drei Monate Zeit, die Schulden zu begleichen. Warum sitze ich hier eigentlich?“

Der ältere Mann verlor die Beherrschung.

„Verflucht seist du und dein Vater“, schrie er. „Du unehrenhafter Lügner. Du hast mir versprochen, vor langer Zeit zu zahlen. Wir haben keine neue Vereinbarung getroffen.“

„Beruhige dich“, unterbrach ihn Fazil Rahim. „Es bringt nichts, dass du dich aufregst. Sag mir, welche Lösung du vorschlägst.“

Der ältere Mann wollte sein Geld sofort. Fazil Rahim überredete ihn, eine erneute Frist von zwei Wochen zu akzeptieren.

„Wenn du deine Schulden nicht innerhalb von zwei Wochen bezahlst, werden wir dich einsperren“, sagte der Richter zu dem Taliban, der das Urteil missmutig hinnahm.

Ich fragte den älteren Mann, was er von dem Gericht hielt.

„Die Gerichte der Taliban sind schneller und besser als die Gerichte der Regierung“, sagte er.

„Die Gerichte der Behörden erpressen uns und bewegen uns so zur Aufgabe. Die Reichen werden nie verurteilt und die Armen verlieren jede ihrer Klagen. Die Gerichte der Taliban unterscheiden nicht zwischen den Menschen. Du hast selbst gesehen, wie der Richter zu meinen Gunsten urteilte, obwohl der Beklagte ein Taliban war.“

Ihre mobilen Gerichte sind ein Hauptgrund für die wachsende Unterstützung für die Taliban in den ländlichen Gegenden. Im Westen wird viel über diese Strafgerichte berichtet, wenn drakonische Strafen verhängt werden. Aber die meisten Fälle der Dorfbewohner, die von den Scharia-Gerichten entschieden werden, sind zivile Klagen, Streitigkeiten über Land, Schulden oder Erbe.

Am Abend waren wir zum Essen eingeladen bei Shuaib, dem Sprecher der Taliban, der uns vor drei Tagen die Schulen gezeigt hatte. Das Essen fand bei einem seiner Freunde statt. Ich fragte mich, ob er aus Sicherheitsgründen nicht zu sich geladen hatte. Es hatte zuletzt mehrere Drohnenangriffe gegeben in diesem Gebiet, und der Sprecher der Taliban war ein erklärtes Ziel der Amerikaner. Der Gastgeber war ein Geschäftsmann, zur Zeit auf Reisen, und außerdem sehr gut mit Shuaib befreundet. Das Haus war weniger spartanisch als die anderen Wohnungen, die ich bis jetzt in Charkh besucht hatte. In diesem Haus gab es nicht bloß die üblichen Matratzen, sondern ein großes Sofa, mehrere Stühle und ein großes Himmelbett. Auch das Essen üppig im Vergleich zu dem, was man uns bisher serviert hatte. Bislang gab es selten Fleisch, hier aber bekamen wir Hähnchen und Lamm. Während wir aßen, begann der Sprecher seinen Text aufzusagen. Es ging um die Ambitionen der Taliban.

„Unser größtes Problem sind die westlichen Streitkräfte“, sagte Shuaib.

„Wenn sie allesamt Afghanistan verlassen haben, wird es viel einfacher, eine Lösung zu finden“, sagte er.

Im Hintergrund lief der Fernseher. Einer der Berichte begann mit einem Taliban-Sprecher, Shaheen Shahid, der die Verhandlungen mit der afghanischen Regierung initiiert hatte.

„Shaheen ist unser Mann, und er wurde von unserer Führung damit beauftragt, Lösungen zu finden. Ich hoffe, dass der Krieg mit so wenig Blutvergießen wie möglich endet“, sagte Shuaib.

Nach der Nachrichtensendung räumten einige jüngere Taliban das Essen vom Tisch. Sie schalteten um auf eine türkische Seifenoper namens „Tal der Wölfe“. Als die Titelmelodie erklang, wurde es still im Raum. Alle zehn Taliban, die sich im Raum befanden, starrten nun gebannt auf den Fernseher. Die politische Zukunft Afghanistans war für eine Weile vergessen.

Die türkische Seifenoper ist ein Riesenhit in Afghanistan, obwohl die Figuren, zumindest im Sinne der Taliban, wenig islamgemäß handeln. Auch Shuaib verfolgte das Geschehen in „Tal der Wölfe“, dessen Hauptfigur eine Art türkischer James Bond ist. Ich erlaubte mir, ihn zu unterbrechen, um zu fragen, warum westliche Fernsehprogramme hier zugelassen sind.

„Es war falsch, diese Sachen überhaupt zu verbieten. Alle Gesellschaften brauchen Technologie, und im Koran gibt es keine Sure, die Fortschritt verbietet. Das ist ein Missverständnis früherer Gelehrter. Es ist auch in Ordnung, diese TV-Serie zu sehen, solange wir es vermeiden, ihren Lebensstil nachzuahmen“, sagte Shuaib.

Ich bemerkte, wie Shuaib und einige der Taliban wegschauten, als spärlich bekleidete Frauen auf dem Bildschirm erschienen. Einige Male, als die Frauen noch weniger Kleidung trugen, schaltete der Sprecher kurz auf einen anderen Kanal um.

Als die Serie zu Ende war, fingen die anderen plötzlich an über Dänemark zu diskutieren.

„War es nicht dein Land, in dem die Regierung angeordnet hatte, Bilder von unserem Propheten zu zeichnen“, fragte einer der Burschen.

Bisher hatte keiner der Dorfbewohner einen Sinn gehabt für die Welt außerhalb ihrer Provinz. Aber in dieser Gesellschaft war das offensichtlich anders.

„Nein, das ist nicht wahr“, antwortete ich. „In Dänemark kontrolliert die dänische Regierung nicht die Medien, und es gibt die Freiheit, zu schreiben oder zu zeichnen, was man will. Es waren Mitarbeiter einer Zeitung, die den Propheten zeichneten, und die dänische Bevölkerung war gespalten in ihrer Reaktion. Einige unterstützten Zeichner, andere waren dagegen und wieder anderen war das alles egal.“

„Aber warum bestraft die Regierung nicht die Schuldigen?“, fragte Shuaib.

„Weil es einen breiten Rahmen gibt für Leute, die andere Religionen oder Ideologien verspotten. Dies gilt nicht nur für den Islam, sondern auch für andere Religionen wie zum Beispiel das Christentum, über das weit mehr gespottet wird als über den Islam“, sagte ich.

Danach versuchte ich ihnen zu erzählen, dass Dänemark ein relativ guter Ort ist für Muslime, dass sie ihre Religion dort frei ausüben dürfen und die Erlaubnis haben, Moscheen zu bauen, rituelle Schlachtungen durchzuführen und ihre Burka zu tragen, wo immer sie wollen. Nach meiner Rede wurde es still im Raum. Die Anwesenden zeigten sich von der Beschreibung Dänemarks überrascht.

„Nun, es scheint, es gibt vieles, das wir nicht wissen über das Land, in dem Sie leben“, sagte einer der Taliban.

Die letzten Tage wollte ich versuchen, mit den Dorfbewohnern Charkhs ins Gespräch zu kommen. Die Gegner der Taliban würden sich bedeckt halten, erwartete ich. Dabei hatte ich bei meinen Streifzügen nie das Gefühl, überwacht zu werden. Im Gegenteil. Wenn mir gelegentlich ein Talib folgte, dann zu meiner Sicherheit. Leesan hatte mir erzählt, nicht alle Kommandeure in Charkh seien darüber erfreut, dass ein westlicher Journalist frei in ihrem Gebiet herumstreifen durfte. Diese Kommandeure waren mir gegenüber skeptisch und hatten trotz der Überzeugungsarbeit von Hasibullah, Leesan und Adel Angst davor, dass ich verborgene Hintergedanken hatte und nur in ihrem Gebiet war, um Ziele für Drohnenangriffe ausfindig zu machen. Leesan war besorgt, dass die Kommandeure die Order, uns nicht anzugreifen, missachten könnten.

Der Marktplatz, das Fleisch

Der Marktplatz, das Fleisch Foto: Hewad Laraway

Bevor ich den Marktplatz besuchte, hatte ich gefragt, ob es möglich wäre, mit Dorfbewohnern in Kontakt zu kommen, die in hohem Maße am Krieg gelitten hatten. Hasibullah hatte mir von einer Familie erzählt, die in der Nähe des Basars im Stadtzentrum wohnte und vor nicht allzu langer Zeit mehrere Kinder verloren hatte. Ich wurde zum Marktplatz gefahren, setzte mich neben einem Gewürzladen auf einen Hocker, bis ein Mann mittleren Alters mit schwarzem Turban und schwarzer Weste auftauche, der Hasibullah und mich begrüßte. Ein gutaussehender Mann mit dunklem Haar und schwarzem Bart. Hasibullah erzählte von meinen Absichten, aber der Mann hielt nicht viel davon, mit mir zu reden. Einer seiner Freunde war in der Zwischenzeit dazu gekommen. Dieser fragte seinen Freund, weshalb er nicht mit uns sprechen wollte.

„Warum sollte ich das tun?“ sagte der Mann, dessen Name Haji Said Almas war. „Die Behörden würden meine Aussagen sowieso nur verdrehen und sagen, dass es Taliban-Propaganda ist.“

„Aber es ist doch wichtig, dass sie wissen, was sie deiner Familie angetan haben“, sagte der andere Mann.

Ich unterbrach sie, sagte, es wäre vollkommen in Ordnung, wenn er sich dazu nicht äußern wolle. Die Situation war mir unangenehm. Ich befürchtete, der alte Mann könnte sich genötigt fühlen. Auf dem Weg zurück zum Basar kam mir ein kleiner Junge nachgelaufen.

„Komm zurück! Kaka sagt, dass du zurück kommen sollst“, rief der kleine Junge völlig aus der Puste.

Ich ging hin und konnte sehen, dass sich der widerwillige Mann hatte überreden lassen. Er führte uns zu seinem Bauernhof. Als wir durch das Tor zum Bauernhof gingen, sah ich als erstes die Gräber.

„Die Taliban haben die Militärbasis vom unbewohnten Berg aus angegriffen“, sagte Haji Said Almas.

„Die Reaktion des afghanischen Militärs war, ganz Charkh mit Artilleriefeuer zu bombardieren. Ich verstehe nicht, warum sie die ganze Stadt angegriffen haben, wenn sie von einem Ort weit weg von der Stadt angegriffen wurden. Eine ihrer Bomben landete in unserem Hof. Drei Kinder, es waren meine Enkel, wurden von Splittern getroffen und starben sofort. Mohammed hatte gerade gelernt zu gehen und war nur eineinhalb Jahre alt. Die anderen beiden waren Basirya, ein Mädchen, acht Jahre alt und ein Junge, Mohammed Hassan. Er war elf.“

Haji Said Almas erzählte, die afghanische Armee und US-Soldaten hätten in den vergangenen Jahren mehr als 70 Zivilisten getötet. Ich hatte keine Möglichkeit zu überprüfen, ob seine Aussagen der Wahrheit entsprachen. Ein sechsjähriges Mädchen mit blonden Haaren und grünen Augen zeigte auf die Gräber ihrer Geschwister.

„Da sind Babu und Basirya“, sagte es schüchtern.

Babu war der Spitzname ihres großen Bruders, erzählte man mir. Ihr Großvater fragte, ob sie wisse, wer es war, der ihre Spielkameraden getötet hatte.

„Die Amerikaner“, sagte das Mädchen.

„Nein, es waren nicht die Amerikaner“, sagte Haji Said Almas und wiederholte die Frage.

Ein anderes Mädchen, höchstens ein Jahr älter und ihrer Schwester sehr ähnlich, ergriff stattdessen das Wort.

„Es war die afghanische Armee“, antwortete sie.

„Wo sind sie jetzt?“, fragte der Großvater wieder das kleinste Mädchen.

„Im Paradies“, antwortete sie.

„Im Paradies“, wiederholte Haji Said Almas, während er vergeblich versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

„Sag mir, was diese Kinder, diese unschuldigen Kinder getan haben, dass sie den Tod verdienen“, sagte er. „Sie sprechen so viel über Menschenrechte, aber besitzen diese kleinen Kinder keine Rechte?“

Es lagen Wut und Verzweiflung in seiner Stimme.

„Vor ein paar Tagen gab es wieder Kämpfe zwischen den Taliban und den Regierungstruppen. Während dieser Kämpfe gab es auch Bombeneinschläge in unserer Gegend, obwohl die Kämpfe einige Kilometer von hier stattfanden“, sagte Haji Said Almas.

Er bezog sich auf die Kämpfe, die ich miterlebt hatte, zeigte mir die beschädigten Wände im Hof. Der Basar in Charkh lag mehrere Kilometer von dem Ort entfernt, an dem ich mich während des Angriffs aufgehalten hatte, wo auch die Taliban, die eigentlichen Ziele des Angriffs, gewesen waren.

„Warum glaubst du, dass in diese Richtung geschossen wurde, wenn die Kämpfe weit weg von hier statt gefunden haben“, fragte ich.

„Vergeltung. Sie wollen uns bestrafen. Sie rechnen damit, dass wir eines Tages eine Rebellion gegen die Taliban starten“, sagte Haji Said Almas. „Sie wollen, dass wir die Waffen gegen sie richten. Indem sie uns beschießen, hoffen sie, dass wir wütend werden und den Taliban die Schuld dafür geben.“

Die Dorfbewohner waren zwischen den zwei Fronten gefangen. Wenn sie sich passiv verhielten, würde die ANA weiterhin willkürliche Angriffe auf das Gebiet feuern. Und schlugen sie sich auf die Seite der Regierung, war es sicher, dass die Taliban nicht tatenlos bleiben würden. Und wäre ein Auflehnen gegen die Taliban überhaupt eine Option? Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, dass fast alle Taliban entweder Familienmitglieder oder zumindest Freunde unter den Dorfbewohnern hatten.

Nach dem Besuch bei der unglücklichen Familie ging ich zum Basar, wo ich versuchte mit weiteren Dorfbewohnern ins Gespräch zu kommen. Ich wollte sie befragen, wie es war, unter der Herrschaft der Taliban zu leben, obwohl mir klar sein musste, dass allen bewusst war, dass ich mich nur unter Duldung der Taliban im Gebiet aufhielt. Ich traf einen Ladenbesitzer namens Said.

„Uns geht es gut hier. Es herrscht Frieden und die Banditen haben Angst vor den Taliban. Das ist gut für Geschäftsleute wie mich“, sagte Said.

Als ich ihn fragte, inwiefern sich die Taliban in sein Privatleben einmischen würden, so wie sie es getan hatten, als sie in Afghanistan regierten, antwortete er, dass die Taliban in Logar sehr liberal geworden waren.

„Du siehst ja selbst, dass die Leute keinen Bart tragen und außerdem Zigaretten rauchen. Die Taliban haben sich gebessert und mischen sich nicht mehr ein in das Leben der Leute.“

Ein anderer junger Mann bestätigte, dass die Taliban in Logar die Zügel gelockert hätten.

„Hier in Logar sind nicht sie das Problem, sondern die afghanische Regierung. Das willkürliche Bombardement auf unser Gebiet ist das Problem.“

Ein junger Taliban, der mich kannte, kam lachend auf mich zugelaufen.

„Nagieb! Komm! Ich habe jemanden gefunden, den du unbedingt interviewen musst“, rief er.

Ich folgte ihm in eine Gasse, in der ich auf einen gutgelaunten Mann Mitte 50 traf.

„Das ist mein früherer Klassenlehrer“, sagte der Taliban.

„Was hast du auf dem Herzen, mein Junge“, fragte mich Mann, der Abdul Jamil hieß, in noch vorhandener Lehrerattitüde.

„Ich frage die Dorfbewohner nach ihrer Sicht auf die Taliban“, antwortete ich.

„Sie sind in Ordnung. Sie sind auf jeden Fall keine schlechten Menschen“, sagte er.

„Es gibt viele hier in Charkh, die sagen, die afghanische Regierung behandle euch schlecht. Siehst du das auch so?“

„Sie sind auch keine schlechten Menschen“, sagte Abdul Jamil.

Der junge Taliban und ein paar andere Zuhörer lachten. Adbul Jamil war offenbar für seine Entertainer-Qualitäten bekannt.

„Aber was genau meinst du, wenn du sagst, dass sie keine schlechten Menschen sind? Wie genau war das Leben, als sie hier noch regierten?“, fragte ich.

„Als sie regierten? Meinst du zu Zahir Shahs Zeiten?“

Allgemeines Gelächter bei den Herumstehenden.

Zahir Shah war der letzte afghanische König, der im Jahr 1973 von seinem Cousin geputscht wurde.

Später traf ich einen Mann namens Zarin, der mit einer noch verblüffenderen Aussage antwortete: „Wir würden die afghanische Regierung unterstützen, falls sie uns beschützen würde, anstatt uns zu bombardieren.“

Es war interessant, dass die Dorfbewohner für und gegen die Regierung sprachen, je nachdem, welchen Vorteil sie sich erhofften. Wenigstens gab es keine Redeverbote. Man kann natürlich die Frage stellen, inwiefern Charkh repräsentativ ist für die von den Taliban kontrollierten Gebiete Afghanistans. Auf einer anderen Reise besuchte ich die Stadt Tandi in Wardak, einer Nachbarprovinz Logars. Die meisten Zivilisten, mit denen ich mich dort unterhielt, hatten im Gegensatz zu den Bewohnern Charkhs, keine Lust, sich zu diesen Themen zu äußern, sie wirkten im Allgemeinen darauf angesprochen äußerst irritiert.Wenn ich meine Kamera ausschaltete, berichteten einige Bewohner von ihrer Furcht, die Wahrheit zu erzählen. Andere sagten, sie seien die Taliban leid. Aus patriotischen Gründen hatten sie sie unterstützt, als die Amerikaner noch eine Militärbasis in der Gegend hatten. Doch jetzt, da die Taliban gegen das afghanische Militär kämpften, resignierte ein großer Teil, wollte sich nicht mehr am Krieg gegen ihre „afghanischen Brüder“ beteiligen.

Nun, nach einer weiteren Reise, stellte ich fest, dass es wenig Sinn ergab, darüber zu sprechen, wer die Taliban sind oder was sie wollen. Das Bild ist verzerrt, weil die Mischung aus lokalen Traditionen und den Eigenarten der örtlichen Taliban-Führer sehr unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen schafft.Auf der einen Seite war es desillusionierend, die Taliban in ihrer Unterdrückerrolle zu erleben. Auf der anderen Seite wurde mir bestätigt, dass auch meine Erlebnisse in Charkh authentisch waren. Falls systematische Unterdrückung tatsächlich stattgefunden hatte, so hätte ich es sicherlich bemerkt. Ich konnte mich frei bewegen, Fragen stellen und in den Augen der Dorfbewohner war keine Furcht zu erkennen.

Als wir wieder bei Hasibullah waren, musste ich an das Fernsehabendessen vom Vortag denken. Immer wieder dachte ich an die traurigen Aussichten der jungen Männer. Viele von ihnen würden ihr Leben lassen in einem Konflikt, der letztlich nur durch Friedensverhandlungen gelöst werden konnte. Für die Zivilbevölkerung hatten Aussicht auf Frieden und die eigene Sicherheit oberste Priorität. Eltern wollten verhindern, dass ihre Kinder und Enkelkinder von herumfliegenden Kugeln oder Mörsergranaten getötet wurden. Ich war sicher, beide Kriegsparteien waren sich darüber im Klaren, dass nur Verhandlungen den Weg in Afghanistans Zukunft weisen konnten. Trotzdem sterben täglich junge Männer auf beiden Seiten. Dieser organisierte Wahnsinn verändert Menschen, wendet sie immer weiter voneinander ab.

Der Angriff auf die Militärbasis der Regierung steckte mir noch in den Knochen. Ich rekapitulierte immer wieder die absurdesten Momente des Kampfes.

Während des Rückzuges hatten wir Unterschlupf in einer Ruine gesucht. Wir hatten ungefähr 20 Minuten gewartet, als wir einen der Taliban von der Front her auf uns zulaufen sahen.

„Flieger! Es kommen Kampfflieger“, rief er.

Ich erinnerte mich, wie Leesan meine Bedenken vor dem Angriff abgetan und mir versichert hatte, es sei ganz unwahrscheinlich, dass die westlichen Streitkräfte die afghanische Armee unterstützen würden.Dann hörte ich von oben das Dröhnen, das Röhren der Düsen. Ich folgte den Taliban, als sie die Ruine verließen, um sich noch weiter von der Militärbasis zu entfernen. Mich wunderte, dass sie nicht liefen, jetzt wo sie wussten, dass Kampflieger unterwegs waren. Anstatt zu rennen, wie ich es instinktiv getan hätte, stapften sie träge dahin und hielten ab und zu an, um Früchte von den Bäumen zu pflücken. Ich verfluchte sie dafür.

Als das Dröhnen der Düsen lauter wurde, schaute ich zum Himmel und erkannte die Umrisse eines Flugzeugs. Die Haare meiner Arme standen zu Berge und ich lief sofort los. Nun reagierten auch die Taliban. Das Flugzeug tauchte in unsere Richtung ab. Als wir auf der anderen Seite des Gebäudes waren, schmissen wir uns zu Boden. Es rumste gewaltig, als der Kampfflieger die Schallmauer durchbrach. Ich lag flach auf dem Boden mit geschlossenen Augen und meinen Händen über dem Kopf, und ich war mir sicher, dass das Gebäude neben uns in die Luft gejagt worden war. Von uns würde dann nicht viel übrig bleiben, dachte ich.

Sekunden nachdem wir uns auf den Boden geschmissen hatten, nahm der Lärm wieder ab. Ich hatte noch immer das Gefühl, gleich würde eine Bombe explodieren. Ich schaute auf und sagte es einem der anderen Männer, der deutlich ruhiger vor mir hockte. Er lachte.

„Pass auf, dass du dich nicht selber umbringst, Journalist“, sagte er, nachdem er beobachtet hatte, mit welchem Eifer ich mich zu Boden geworfen hatte.

Ich stand auf und ging in das Gebäude. Früher eine Moschee, wie ich jetzt erkannte. Die Taliban saßen an einer Wand und sagten nichts. Der Kampfflieger war immer noch zu hören.

„Keine Sorge, Journalist“, sagte einer der Taliban.

Ich hörte, dass noch ein zweiter Jet in der Luft war.

Das Gebäude, in dem wir saßen, konnte bestenfalls als Versteck genutzt werden. Eine 500-Kilo-Bombe würde die Moschee wie ein Kartenhaus zusammenfallen lassen. Nach wenigen Minuten gab es einen Befehl, die Taliban standen auf und wir entfernten uns aus der Gefahrenzone.

Die Piloten hätten uns ohne Weiteres treffen können. Warum hatten sie uns nicht ausgelöscht? Ich dachte zurück an die letzten Meldungen aus dem Westen und die Reportagen, die ich über ANA-Militärbasen gesehen hatte. Der neue Plan der NATO sah vor, dass die afghanischen Sicherheitskräfte auf sich allein gestellt sein sollten. Sie würden keine weitere Unterstützung aus der Luft erhalten, es sei denn, es gab besondere Gründe. Die Soldaten aus der Militärbasis hatten nicht aufgegeben und der Plan der Taliban, die Militärbasis zu erobern, war gescheitert. Die Piloten der westlichen Alliierten mussten uns also aus einem Grund nicht bombardiert haben: Die Afghanen sollten lernen zu kämpfen, als ob die NATO bereits ihre Truppen abgezogen hätte.

Es war eine strategische Erwägung des Gegners, der an diesem Tag für die Tag den Unterschied zwischen Leben und Tod für die Taliban ausmachte.

Und für mich.

Als ich in Sicherheit war, versicherte ich mir, dies sei das letzte Mal gewesen sei, dass ich mich einer so waghalsigen Situation freiwillig ausgeliefert hatte.

VII

Gegen Ende meines Aufenthalts hatten die Taliban in Charkh eine große Parade arrangiert. Mit ihren Toyota-Pickups, die mit Dushkas und anderen Waffen ausgestattet waren, fuhren sie hupend durch die Straßen. Einige waren maskiert. Immer wieder sah ich an diesem Tag bewaffnete Taliban in den Straßen, die sich offensichtlich nicht um das vom Himmel her immer noch gut vernehmbare Sirren der Drohnen scherten.

Die Männer marschierten durch die Straßen und winkten mit der weißen Flagge der Taliban. Der junge Ehsanullah saß auf der Ladefläche eines Pickups und warf mit Kriegsfloskeln um sich. Auf einer der Fahnen stand das Islamische Emirat mit dem Zusatz Charkh.

Der Sprecher sagte mir, wir seien mit Kommandeuren der äußeren Gebiete Charkhs verabredet. Ich sprang auf die Ladefläche eines Pickups, der uns in Richtung eines Hügels fuhr. Eine Schotterstraße führte zum Gipfel. Oben befanden sich etwa 100 bewaffnete Männer. Sie hatten Dushkas, RPGs und andere schwere Waffen bei sich. Ich hatte noch nie so viele Taliban an einem Ort versammelt gesehen. Ich war nervös, weil der Gipfel ein leichtes Ziel für die Drohnen darstellte. Mit einer einzigen Bombe hätte die NATO große Teile der Taliban in Charkh vernichten können. Die Männer wirkten entspannt, ich filmte sie und blickte immer wieder besorgt gen Himmel.

Nach der Parade verabschiedete ich mich von Hasibullah, Leesan und Adel, denen ich versprechen musste, dass ich sie wieder besuchen kommen würde. Es dämmerte mir, dass mir alle drei ans Herz gewachsen waren. Die Kommandeure waren zwei junge Männer, die zur verkehrten Zeit am verkehrten Ort geboren wurden. Ihre Erfahrungen und ihre Umgebung hatten sie geformt – und unabhängig davon, wie wir im Westen auf sie schauten, waren sie im Grunde Idealisten, die unter den gegebenen Bedingungen versuchten, einen Unterschied zu machen. In ein brutales Umfeld hinein geboren, waren ihre Ansichten durch einen Krieg geprägt, der tobte, seit sie Kinder waren. Es war ein unangenehmes Gefühl zu wissen, dass zwei Menschen, die ich gern hatte, nicht zögern würden, andere Menschen, die sie als Verräter betrachteten, aufs Brutalste hinzurichten. Leesan hatte es mir persönlich gesagt, dass er gefangengenommene Regierungssoldaten töten würde, es sei denn sie wären frisch rekrutiert.

Ihrer Brutalität würden andere junge Männer zum Opfer fallen, die waren, wie sie selbst, die sich aber zufälligerweise auf der gegnerischen Seite der Front befanden. Es ist eine der großen Tragödien Afghanistans, dass sich junge Männer, die aus den selben Verhältnissen stammen, gegenseitig abschlachten.

Fluss am Rand von Kabul

Fluss am Rand von Kabul Foto: Hewad Laraway

Am nächsten Morgen fuhr ich zusammen mit Ahmed Tassal zurück nach Kabul. Wir fuhren entlang der gleichen Bergpassage, die uns am ersten Tag nach Charkh geführt hatte, meinem Fluchtweg von der Militärbasis aus ins Hinterland. Ich erkannte die Mauern, hinter denen ich mich versteckt hatte, und die Felder, über die ich gelaufen war. Jetzt sah es hier so schön und friedlich aus. Wir näherten uns der Militärbasis. Im Inneren der Militärbasis hatten andere junge Männer um ihr Leben gekämpft, während ich die Taliban dabei filmte, wie sie all ihre Munition in Richtung der Militärbasis entleerten. Der Kuppelbau war von Schusslöchern übersät und an mehreren Orten durch Mörsereinschläge zerstört. Ich stellte mir vor, wie die Soldaten sich verschanzt hatten, aus Furcht davor, überrannt zu werden. Sie hatten sich gegenseitig versprochen, bis zum letzten Mann zu kämpfen, denn eine Kapitulation konnte mit Hinrichtung bestraft werden. Ich stellte mir vor, wie sie um jeden ihrer gefallenen Kameraden trauerten und beschließen mussten, wer die Familie des Toten benachrichtigen würde. Als wir an der Militärbasis vorbei fuhren, wurde mir übel. Zum Glück trafen wir unterwegs keine Soldaten. Es war einfach, wenn sie keine Gesichter hatten.

Mein Aufenthalt bei den Taliban hatte mich einerseits desillusioniert, weil ich gesehen hatte, wie zwei junge Taliban und eine mir unbekannte Anzahl afghanischer Sicherheitskräfte in einem Angriff getötet wurden. Gleichzeitig hatte der Besuch auch einen Funken Hoffnung in mir ausgelöst. Einige der Jungs in Charkh hatten mir erzählt, dass sie kriegsmüde waren. Sie wollten der Gewalt ein Ende bereiten. Leider lag die Zukunft nicht in ihren Händen, zumindest noch nicht. Die Macht war weit weg. Politiker beider Seiten konnten sich nicht darauf einigen, einen Konflikt zu beenden, der nach 13 Jahren des Kampfes noch immer keine militärische Lösung aufzubieten hatte. Den Politikern ging es mittlerweile vor allen Dingen um die Ehre; und eine „ehrenvolle“ Lösung war für sie ohne Weiteres vereinbar mit dem Sterben indoktrinierter, junger, zögernder afghanischer Männer. Sie verwechselten absichtlich, und das war unverzeihlich, ehrenvoll mit ehrlos.

Im Flieger zurück nach Hause dachte ich über den Angriff nach. Es wirkte schon jetzt wie vor langer Zeit geschehen. In diesem Augenblick konnte ich mir nicht vorstellen, nochmals eine so gefährliche Reise anzutreten. Aber ich wusste auch, dass dieses Gefühl nachlassen würde. Meine Psyche ist scheinbar sehr robust. Ich weiß genau, dass viele Kriegsberichterstatter – auch solche, die eine stärkere Psyche haben als ich – irgendwann ihre Grenze erreicht und aufgehört haben. Für mich, das wusste ich jetzt, war diese Grenze noch nicht erreicht.

Schon im Flieger wusste ich, dass ich das Versprechen, dass ich mir selber auf dem Schlachtfeld gegeben hatte, brechen würde.

Endlich zu Hause in Kopenhagen, empfing mich meine Frau Karima an der Tür. Sie küsste mich und fragte, wie es gelaufen sei.

„Es war eine ruhige Reise, mein Schatz“, antwortete ich.

Eine ganze Woche verging, ehe ich ihr die Wahrheit erzählen konnte.

„Du, Schatz, diese Reise nach Charkh…also die war doch nicht ganz so harmlos, wie ich dir letztens erzählt habe.“

Karima rollte mit den Augen.

„Erzähl“, sagte sie, und ich stotterte die ersten Worte heraus.


Nagieb Khaja ist dänischer Kriegsreporter. Zuletzt reiste er für eine Reportage nach Aleppo in Syrien und kehrte dann nach Afghanistan zurück, um bei den Taliban in der Wardak-Provinz südwestlich von Kabul zu recherchieren.


Die Fotografien sind der Berliner Ausstellung „Inside Afghanistan“ (2014) entnommen. Der 1981 in Kabul geborene Fotograf Hewad Laraway (alle Bilder) arbeitet neben seiner fotografischen Tätigkeit als Biotechnologe am Robert-Koch-Institut in Berlin. Der Bildautor verzichtet auf ein Honorar und verweist stattdessen auf die Möglichkeit einer Spende an das UN-Kinderhilfswerk Unicef. Videoaufnahmen von Nagieb Khajas Reise nach Charkh können über die Homepage von Al Jazeera abgerufen werden.

Diese Reportage erscheint als Kooperation von Weeklys und Krautreporter.