Und plötzlich ist die Zukunft da, vor der viele Ökonom:innen gewarnt haben. Seitdem ich denken kann, heißt es: Deutschland geht es wirtschaftlich gut, wir sind ein reiches Land. Aber oft schwang mit, dass sich das bald ändern könnte. Denn wir seien nicht gut auf die Zukunft vorbereitet.
Inzwischen sagen besorgte Ökonom:innen: Der wirtschaftliche Abstieg Deutschlands könnte gerade beginnen.
Jahrzehntelang profitierte Deutschland vor allem von den riesigen Unternehmen, die sich seit der Industrialisierung hier gründeten. Die mischten Farben und stellten Medikamente her, bauten Maschinen, mit denen sich wiederum andere Dinge bauen ließen. Später kam dann die Autobranche hinzu.
Einige Namen kennt jedes Kind, andere gelten als sogenannte Hidden Champions, das heißt unbekannte Weltmarktführer. Oder wusstest du, dass manche Menschen Schweinfurt als die Welthauptstadt der Kugellager bezeichnen? Diese Unternehmen sind die Grundlage für das Wirtschaftsmodell, mit dem Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten so reich geworden ist. Aber einige dieser Unternehmen scheinen nicht mehr davon überzeugt zu sein, dass Deutschland ein guter Ort ist, um ihre Produkte herzustellen.
Es gibt dafür Indizien, die jede:r in der Zeitung lesen kann. VW hat zum ersten Mal in seiner Geschichte angekündigt, ein Werk in Deutschland zu schließen. Die BASF hat das bereits entschieden. Und Thyssenkrupp will Stellen abbauen. Die IG Metall warnt: Es könnten bis zu 6.000 Arbeitsplätze wegfallen.
Sollte es wirklich mit Deutschlands Wirtschaft bergab gehen, betrifft uns das alle. Denn dann wird es noch schwieriger werden, gut bezahlte Jobs zu finden oder die maroden Straßen zu sanieren. Wie schlimm ist die Lage also?
Auf der Suche nach einer Antwort habe ich mit mehreren Experten geredet und mich durch Studien gewühlt. Schaut man sich die Statistiken an, ergibt sich ein differenzierteres Bild.
Ja, Deutschlands Wirtschaft geht es gerade nicht so gut. Aber manches davon könnte auch bald wieder verschwinden. Und es zeichnet sich ab, was es jetzt braucht, damit Deutschlands Wirtschaft langfristig wieder gut dasteht.
Beginnen wir aber mit dem Status quo. Was genau ist gerade los?
Deutschland erholt sich weniger gut von den Krisen der vergangenen Jahre als andere Länder
Zwischen 2009 und 2020 gab es für Deutschlands Wirtschaft nur eine Richtung: bergauf. Dann zwang erst eine Pandemie das ganze Land immer wieder in den Lockdown. Und zwei Jahre später griff Russland die Ukraine an. Beides hatte gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaft.
Das hat nicht nur Deutschland getroffen. Aber Deutschland erholt sich davon besonders langsam. Das zeigt ein Blick auf diese Grafik, die viele gerade besorgt zitieren. Sie zeigt, wie stark das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den G7-Staaten seit Ende 2019 gewachsen ist. Es geht also um einen Vergleich zu den Vor-Pandemie-Zeiten. Ganz rechts ist Deutschland.
© House of Commons Library
Deutschlands Wirtschaftswachstum lässt sich im Vergleich mit der Lupe suchen. Sogar Post-Brexit-Großbritannien und Japan, das für seine wirtschaftliche Stagnation berüchtigt ist, stehen besser da.
Lass uns einen Blick hinter das BIP-Wachstum werfen. Warum erholt sich Deutschlands Wirtschaft so langsam von den Schocks?
Diejenigen, die sich Sorgen um Deutschlands Wirtschaft machen, zitieren häufig diese Grafik. Sie zeigt, dass die Unternehmen, die viel Energie verbrauchen, immer weniger in Deutschland produzieren (gemessen am Jahr 2021).
© Statistisches Bundesamt
Das gilt etwa für die gesamte Chemiebranche, die die Energie für ihre Prozesse braucht. Und für Unternehmen wie Thyssenkrupp, die das Metall hoch erhitzen müssen.
Und damit kommen wir zum ersten Grund, warum Deutschlands Wirtschaft gerade schwächelt.
Als der Strompreis explodierte und Unternehmen ihre Zukunft in Deutschland infrage stellten
Russland marschierte in die Ukraine ein – und die Gas- und Strompreise schossen in der Folge in die Höhe. Das war nicht nur für alle blöd, die fürchteten, im Winter zu frieren und weniger warm duschten, sondern eben auch für die Industrie.
© Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft
Wie sehr, verdeutlicht nochmal diese Grafik, die den realen Strompreis zeigt, den kleine bis mittlere Betriebe zahlen müssen. Der blaue Teil der Balken macht den Teil der Kosten aus, um den Strom zu beschaffen. Alles andere sind Steuern und Abgaben, die noch oben draufgeschlagen werden. Du siehst: Seit 2022 sind die Beschaffungskosten in die Höhe geschossen. Auf einmal war es für ein Unternehmen wie Thyssenkrupp also viel teurer, Stahl zu schmelzen. Die Ampel reagierte darauf, indem sie etwa die sogenannte EEG-Umlage abschaffte. Deshalb sind die Preise jetzt unterm Strich wieder etwas günstiger als vor der Krise.
Warum verlagern dann Unternehmen wie die BASF trotzdem ihre Produktion woandershin? Der Ökonom Timo Wollmershäuser leitet am Ifo-Institut die Konjunkturforschung und die Prognosen. Er glaubt, die hohen Energiepreise waren einfach nur der Auslöser für Unternehmenschefs, um Pläne umzusetzen, die schon länger in der Schublade lagen.
Denn in ein paar Jahren wird in der EU der CO₂-Preis richtig greifen und dann wird nicht-erneuerbarer Strom teuer werden: „Wir haben Wind, wir haben Sonne, aber es gibt eben andere Standorte auf der Welt, wo es mehr Wind und mehr Sonne gibt.“ Deshalb liege es für viele Unternehmen nahe, sich zu verlagern und anderswo energieintensiv zu produzieren.
Dabei spielt aber auch noch eines der größten Probleme der deutschen Wirtschaft eine Rolle.
Die Boomer:innen, sie gehen nun wirklich in Rente
Okay, nicht gähnen, es geht um den demografischen Wandel. Wir reden schon so lange so viel darüber, dass ich manchmal fast glauben will, er sei doch nicht so wichtig. Denn bisher haben wir noch nicht allzu viel von ihm gespürt. Aber jetzt beginnt er, sich wirklich auszuwirken. Ab diesem Jahr gehen die Boomer:innen in Rente, und damit nimmt die Zahl der Menschen stetig ab, die arbeiten können.
© ifo Institut
Wie dramatisch diese Entwicklung ist, zeigt ein Blick auf diese Projektion der Weltbank, die vergleicht, wie viele Menschen im erwerbsfähigen Alter einigen reichen Ländern in der Zukunft noch verbleiben.
Der blaue Strich zeigt Deutschland. 2030 gäbe es demnach gut 6,5 Prozent weniger Erwerbstätige als 2020. Die USA und Großbritannien werden dagegen im Jahr 2030 mehr Menschen im arbeitsfähigen Alter als 2020.
Dabei spüren wir ja jetzt schon: Es gibt zu wenige Arbeitskräfte. Cafés und Supermärkte müssen deshalb teilweise früher schließen, aber auch Stellen für Hochqualifizierte sind oft lange ausgeschrieben.
Stelle dir nun vor, du wärst ein:e Unternehmer:in. Und du findest einfach kein gutes Personal mehr. Gleichzeitig weißt du mit einem Blick auf die Zahlen, dass das künftig in Deutschland nur noch schlimmer wird. Was würdest du also tun? Dir vielleicht ein Land suchen, in dem du einfacher passendes Personal findest, und das auch noch in 20 Jahren. Und in dem im besten Fall die Steuern und der bürokratische Aufwand auch noch niedriger sind.
Aber gegen den Fachkräftemangel und solche Zahlen wie die oben ließe sich etwas machen. Wenn sehr viele Menschen nach Deutschland kämen, die hier arbeiten wollen. Dafür braucht es aber eine Politik, die das auch fördert. Der Ökonom Jens Südekum nennt deshalb auch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz eines der wichtigsten Gesetze, das die Ampel verabschiedet hat. „Das muss ein Erfolg werden. Sonst haben wir ein ernsthaftes Problem.“
Allerdings müssten dafür ab jetzt jedes Jahr 400.000 bis 500.000 Menschen mehr nach Deutschland ziehen, als auswandern. Zu dem Ergebnis kommt das Institut für Wirtschaft. Das wird schwierig in einem Klima, in dem die AfD Wahlrekorde aufstellt und die Ampelregierung Kontrollen an allen deutschen Grenzen wieder einführt und das Asylrecht immer weiter verschärft. Denn damit sendet Deutschland ja das Bild in die Welt: Ausländer:innen sind hier nicht willkommen.
China schmeißt super Produkte auf den Weltmarkt, das schadet der deutschen Wirtschaft
Ich habe in der Schule noch gelernt, dass Deutschland gerade nicht mehr so Exportweltmeister sei. Die Produkte aus China galten als billige Kopien.
Billigware gibt es in China zwar immer noch, Temu und Shein lassen grüßen. Aber daneben stellen chinesische Firmen inzwischen gute und günstige E-Autos her. Sie sind damit ein zentrales Problem für Volkswagen und dessen Zulieferer. Chinesische Autofirmen planen immer mehr Fabriken in Europa, die erste wird gerade in Ungarn gebaut, schreibt die New York Times.
Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose
Diese Grafik unterstreicht das. Denn sie zeigt: Der relative Wettbewerbsvorteil Deutschlands gegenüber China sinkt seit Jahren.
Wollmershäuser sagt: „Wir haben jahrzehntelang geglaubt, dass wir die einzigen sind, die Autos und Maschinen auf diesem hohen Niveau herstellen können. Aber jetzt machen die Chinesen das auch und das teilweise zu günstigeren Preisen, weil sie massiv staatlich subventioniert werden.“
Wenn ein chinesischer Arzt früher ein neues schickes Auto wollte, kaufte er oft einen Volkswagen. Inzwischen greift die Mittelschicht lieber zu einheimischen Produkten. Seit 2020 exportieren deutsche Firmen immer weniger nach China, wie diese Grafik zeigt. Dort sieht man, in welche Regionen deutsche Unternehmen wie viel exportieren. Und die dunkelblaue Linie, die China zeigt, wandert seit vier Jahren weiter nach unten.
Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose
Dafür gibt es aber noch einen zweiten wichtigen Grund: Auch Chinas Wirtschaft hat sich nie ganz von der Pandemie erholt. Dazu kommt seit einigen Jahren eine Immobilienkrise. Die Chines:innen kaufen deshalb weniger von den Produkten, die sie selbst herstellen. Und die Regierung reagiert darauf, in dem sie Chinas Autos und Stahl der ganzen Welt anbietet – und das zu Preisen, bei denen deutsche Unternehmen nur schwer mithalten können.
Klingt alles ziemlich dramatisch. Aber wie schlimm ist die Lage jetzt wirklich? Darüber sind sich die Experten uneins.
Kommt jetzt also der Wirtschaftsabstieg?
Alle Länder dieser Welt haben in regelmäßigen Abständen kleine oder große Wirtschaftskrisen. Das ist Teil des Kapitalismus. Die Frage ist aber, ob wir uns einfach in einer wirtschaftlich schwachen Phase befinden oder am Anfang eines wirtschaftlichen Abstiegs. Ganz sicher kann das gerade niemand sagen. Aber einen Hinweis für eine Schwächung könnte diese Grafik liefern:
© ifo Institut
Sie zeigt, dass die Zahl der Beschäftigten in der gesamten verarbeitenden Industrie seit ein paar Monaten sinkt. Klingt erstmal logisch, wenn es der deutschen Wirtschaft nicht so gut geht, oder? Ist es aber gar nicht unbedingt.
Denn in Deutschland können ja alle Unternehmen, die glauben, dass sie in einer vorübergehenden Krise stecken, für ihre Beschäftigten Kurzarbeiter:innengeld beantragen. Eine mögliche Ursache dafür ist beispielsweise eine Wirtschaftskrise. Dann zahlt die Bundesagentur für Arbeit bis zu zwölf Monate lang einen Teil des Nettolohns. Für uns wichtig: In solchen Fällen sinkt die Zahl der Beschäftigten nicht.
Dass Unternehmen stattdessen aber Leute entlassen oder keine neuen einstellen, wenn alte in Rente gehen, zeigt: Die Unternehmen glauben nicht, dass sich ihr Problem innerhalb von zwölf Monaten lösen wird.
Aber Wollmershäuser weist auf eine Grafik hin, die Hoffnung macht, und zwar diese hier. Sie zeigt das Verhältnis von Produktion und Bruttowertschöpfung in der Industrie.
© ifo Institut
Die rote Linie, also die Produktion, zeigt, worüber ich am Anfang schon geschrieben habe: In Deutschland werden seit einiger Zeit weniger Güter hergestellt.
Aber Wollmershäuser sagt: Das sei gar nicht so wichtig. Das eigentlich entscheidende Maß sei die Wertschöpfung. Das ist eine etwas kompliziertere Zahl. Sie zeigt an, in welchem Maße aus Gütern und Dienstleistungen höherwertige Produkte hergestellt werden. Etwa, wenn Ingenieur:innen Batterien für E-Autos weiterentwickeln und so deren Wert steigern. Und diese Zahl ist den vergangenen Jahren stabil geblieben, wie der blaue Strich zeigt.
Wollmershäuser nennt ein Beispiel: Rund um München baut BMW immer noch neue Firmengebäude. Dort gehen allerdings keine zusätzlichen Autos vom Band, sondern Ingenieur:innen entwickeln die Auto-Technologie von morgen. Damit verändert sich, was in Deutschland wie hergestellt wird. Sollte das so bleiben, bleibt der Wohlstand Deutschlands trotzdem gesichert.
Ist also doch alles gut? So einfach ist das nicht.
Was braucht es jetzt?
Damit Deutschland auch weiterhin ein reiches Land bleibt, ist es wichtig, dass die Politik das Thema zur Priorität macht und nicht nur ankündigt, sondern auch durchsetzt.
Deutschlands Brücken bröckeln und über die Verspätungen der Bahn machen inzwischen Schaffner:innen über den ICE-Lautsprecher Witze. Gerade weil Unternehmen in Deutschland vergleichsweise viele Steuern zahlen, ist eine gute Infrastruktur aber wichtig. Denn von ihr profitieren Firmen, wenn sie Produkte von A nach B bringen wollen. Produziert eine Firma beispielsweise Gummibärchen, muss sie diese ja auch aus ihren Fabriken in die Läden bringen. Das geht schwerer, wenn die Straßen voller Schlaglöcher sind. Aber auch gute Schulen und Unis sind wichtig. Denn dort werden die Fachkräfte von morgen ausgebildet.
© Wirtschaftsdienst
Im EU-Vergleich hat Deutschland in den vergangenen 20 Jahren wenig Geld für solche Investitionen ausgegeben – zumindest, wenn man die wirtschaftliche Stärke der Länder berücksichtigt. Das zeigt diese Grafik. Der schwarze Strich markiert den EU-Durchschnitt, der blaue Strich staatliche Investitionen in Deutschland im Verhältnis zum BIP. Weil Deutschland in den letzten 20 Jahren zu wenig investiert hat, tropft es inzwischen in manchen Schulen. Südekum sagt: Es ist wichtig, dass die Bundesregierung jetzt Geld in die Hand nimmt und in die Zukunft investiert.
Ein zweiter wichtiger Punkt: Seit 2022 fährt die Ampel einen Zick-Zack-Kurs in der Wirtschaftspolitik. Etwa, indem sie E-Auto-Subventionen über Nacht streicht, nur um dann ein paar Monate später doch wieder über Abwrackprämien zu diskutieren. Oder wenn sie immer wieder das eigentlich schon beschlossene Verbrenner-Aus infrage stellt.
Das ist nicht nur für alle ärgerlich, die sich ein E-Auto kaufen wollten. Es verunsichert auch Unternehmen, die Entscheidungen für die nächsten Jahrzehnte treffen. Dafür ist es wichtig, dass sie der Regierung eines Landes vertrauen können, dass einmal beschlossene Gesetze auch erstmal so bleiben. Sonst kann man keine guten langfristigen Investments tätigen. Sollte man das Verbrenner-Aus abschaffen, bestraft man ja sogar die Unternehmen, die sich darauf vorbereiten.
Dass die Ampel Unternehmen verunsichert, zeigt auch der Economic Policy Uncertainity Index. Der ist seit 2022 deutlich gestiegen und liegt auch im internationalen Vergleich hoch, wie die Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem gemeinsamen Konjunkturbericht vom Herbst 2024 schreiben.
© fred.stlouisfed.org
Viele Politiker:innen der Ampel wissen das auch – theoretisch. Aber die Gräben in der Regierungskoalition sind inzwischen zu tief, die Streitlust ist zu groß. Das gilt genauso für den riesigen Investitionsbedarf.
Es bleibt also: Warten auf die Zeit nach der Übergangsregierung. Sollte die vernünftige Arbeit machen, lässt sich Deutschlands Abstieg verhindern.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos