Abkehr vom Wachstumsfetisch

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Geld und Wirtschaft

Abkehr vom Wachstumsfetisch

Norbert Räth berechnet seit mehr als 30 Jahren das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Unsere Wirtschaft hat sich in dieser Zeit stark verändert. Unsere Wachstumserwartungen nicht. Ein Interview über die Grenzen der mächtigsten Zahl der Welt.

Profilbild von Frederik Fischer

Herr Dr. Räth, Sie berechnen seit mehr als 30 Jahren für das Statistische Bundesamt das BIP. Was fasziniert Sie an dieser Zahl?

Für mich ist das die perfekte Anwendung meines Volkswirtschaftsstudiums. Dort haben wir uns empirisch mit verschiedenen Wirtschaftsmodellen und volkswirtschaftlichen Formeln beschäftigt. In der Arbeit wenden wir diese Modelle nun auf tatsächliche Daten an. Ich habe dabei nicht nur mit dem BIP zu tun. Das BIP ist nur die bekannteste Größe der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung . Die VGR hat den Zweck, die ökonomische Wirklichkeit einer Volkswirtschaft möglichst perfekt abzubilden. Man kann sich das wie die Buchhaltung in einem Unternehmen vorstellen. Da werden auch alle Vermögenswerte, Verbindlichkeiten und Forderungen aufgelistet, um jederzeit beurteilen zu können, wie leistungsfähig das Unternehmen ist, wo es noch ungenützte Kapazitäten gibt, oder ob das Unternehmen auf Probleme zusteuert. Spannend finde ich, dass dieser ganze Bereich immer im Wandel ist. Das fordert uns Statistiker, denn wir müssen ständig überlegen, wie wir unsere Konzepte auf neue Sachverhalte anwenden. Man kann uns da gut mit Juristen vergleichen. Die haben das Bürgerliche Gesetzbuch als Grundlage und wenden das dann auf ganz konkrete Fälle an.

Diese Leitfäden werden alle zehn bis 15 Jahren im Rahmen sogenannter Generalrevisionen aktualisiert. Seit der letzten Generalrevision werden auch illegale Aktivitäten wie Drogenhandel und Prostitution berücksichtigt. Die USA machen das anders. Die ignorieren diese Bereiche weiterhin. Macht also jedes Land, was es will?

Auf internationaler Ebene sind die Regelungen tatsächlich nur Empfehlungen, auf EU-Ebene haben sie Gesetzeskraft. Die USA und Japan sind also autonomer als die Länder innerhalb der EU. Es gibt aber diverse internationale Organisationen, wie die Vereinten Nationen, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Internationale Währungsfonds, die alle darauf achten, dass die Ergebnisse international vergleichbar bleiben.

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Was war die tiefstgreifende Änderung?

Da muss ich ein paar Jahrzehnte zurückgehen. Genau gesagt, bis zum Zerfall der Sowjetunion 1991. Die planwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaften haben nur die materielle Produktion berücksichtigt. Dienstleistungen zählten für die nicht. Das ist dogmengeschichtlich ganz spannend, finde ich. In westlichen Volkswirtschaften wuchs der Dienstleistungs-Sektors damals schon und wächst heute noch weiter. Wir sind da aber auch noch nicht am Ende angekommen, sondern verhandeln ständig neu. Erst seit 1999 werden beispielsweise Softwaredatenbanken und Urheberrechte berücksichtigt. Oder momentan ist es so, dass Dienstleistungen im eigenen Haushalt nicht einfließen. Wer also seinen Kindern Nachhilfe gibt, trägt nichts zum BIP bei. Wer dafür einen Nachhilfelehrer bezahlt schon.

Das BIP wächst - nicht zuletzt, weil immer neue Bereiche mit einberechnet werden.

Das BIP wächst - nicht zuletzt, weil immer neue Bereiche mit einberechnet werden. Destatis

Wer überprüft die Angaben, die da gemacht werden? Die griechischen Behörden haben jahrelang falsche Zahlen gemeldet und niemandem ist es aufgefallen.

Die Daten legen einen langen Weg zurück, bis sie in den Statistikämtern kommen. Wenn der Input nicht stimmt, kann auch der Output nicht stimmen. Wenn also - wie im Falle von Griechenland - die Ministerien falsche Zahlen melden, können wir das auch nicht mehr korrigieren. Aber bei den Kontrollen wird nun genau das strenger geprüft. Die Kontrolleure fragen: Wo kommen die Daten her? Das läuft ab wie bei einer Betriebsprüfung. Wir Statistiker picken uns stichprobenartig einige Angaben raus und kontrollieren die dann genauer.

Wie „Big Data“ die Datenerhebung beeinflusst, erfahren Mitglieder in den Anmerkungen.

Das BIP ist nicht das Ergebnis einer physikalischen Formel, sondern menschengemacht. Die Zahl versucht, die Wirtschaftsleistung von Volkswirtschaften möglichst objektiv abzubilden, kann sich diesem Ziel aber immer nur annähern. Dennoch hängen am BIP gewaltige Summen. Das BIP ist zum Beispiel Grundlage für den Länderfinanzausgleich. Da geht es um Milliarden. Wie gehen sie damit um?

Da muss man differenzieren. Was die statistische Messung angeht, kommt die Bedeutung, die das BIP hat, unserem Beruf schon entgegen. Wir haben eine wichtige Aufgabe und die möchten wir bestmöglich erfüllen. Das eine ist also die Messung. Das ist unser Handwerk. Wie man die Zahlen interpretiert, ist eine andere Frage. Da haben wir keinen Einfluss drauf. Wir haben zum Beispiel nie behauptet, dass das BIP die Lebensqualität oder Zufriedenheit einer Nation abbildet. Unter Statistikern ist das Konsens: Dafür ist das BIP völlig ungeeignet. Wenn also Wachstumskritiker das BIP attackieren, greifen sie dessen Interpretation an, nicht unsere Messung. Die Politik muss entscheiden, wie wichtig das Wachstumsziel ist oder ob Nachhaltigkeit und gerechte Einkommensverteilung nicht doch wichtiger sind. Da können wir als Statistiker nichts zu beitragen.


Wenn Wachstumskritiker das BIP attackieren, greifen sie dessen Interpretation an, nicht unsere Messung.
Dr. Norbert Räth, Leiter der Gruppe “Inlandsprodukt, Input-Output-Rechnung”


Sie sehen also gar kein Konkurrenzverhältnis, sondern freuen sich über alternative Messzahlen wie zum Beispiel den Glücklichkeitsindex in Bhutan?

Genau. Wichtig ist nur, dass Dinge nicht vermischt werden, die nicht zusammengehören. Wir sollten also nicht versuchen, das BIP so zu verändern, dass es auch Umweltschäden berücksichtigt, denn das bringt erhebliche Messprobleme mit sich und verfälscht die Ergebnisse. Dann kann man das BIP nicht mehr als Konjunkturindikator nutzen. Solche Indikatoren könnten sein: Die Einkommensverteilung, die Alphabetisierungsrate oder Umweltschäden. Diese Zahlen müssten dann in der Berichterstattung stets berücksichtigt werden, um ein umfassenderes Bild unseres Fortschritts zu zeichnen. Solche sogenannten Indikatorensysteme werden auf internationaler Ebene schon intensiv diskutiert.

Warum streitet sich unsere Gesellschaft nicht deutlicher und lauter über diese andere Indizes?

Das wird ja schon gemacht. Es gibt einen Nachhaltigkeitsbericht der Bundesregierung. Es gibt eine Verteilungsdebatte, die auch über Spreizung der Einkommen und der Gesellschaft geführt wird. Ich denke, dass das BIP verstärkt einen Vorwurf abbekommt, der eigentlich an die Politik gerichtet ist, und das ist die Wachstumskritik. Das hat der Club of Rome schon 1972 beschrieben: Grenzenloses Wachstum ist nicht möglich. Die Erde kann nur einmal verbraucht werden. Das sind aber politische Fragen. Wer im BIP nach Antworten auf die Fragen sucht, wie wir als Weltgemeinschaft nachhaltig leben können, kann nur enttäuscht werden. Die Fehlentwicklungen, die wir heute beobachten, haben nichts mit der statistischen Messung zu tun. Wir können die Verwendung von ökonomischen Statistiken nicht beeinflussen. Was die Politik draus macht, wird woanders entschieden.

In der Selbstbeschreibung auf ihrer Homepage steht allerdings sehr selbst- und machtbewusst: Das BIP sei eine wichtige Kennzahl “für die Beurteilung und Gestaltung der Wirtschaftspolitik”.

Ja, das trifft auch zu auf die Wirtschaftspolitik. Das betrifft aber nicht die Politik insgesamt. Die muss es leisten, zwischen Wirtschaft, Umwelt und unserem Sozialsystem abzuwägen.

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In den Unterlagen lässt sich sehr leicht erkennen, dass das BIP immer weniger stark wächst. In den 50ern hatten wir noch ein Wachstum von mehr als acht Prozent. Im vergangenen Jahrzehnt war es noch knapp ein Prozent, und im letzten Bericht ist von einem Wirtschaftswachstum von 0,1 Prozent die Rede. Macht Sie das unruhig?

Die Zahlen nach dem Weltkrieg waren natürlich dem Aufbau des Landes geschuldet. Da hat man Wachstumsraten gehabt wie heute in China. Bis 1960 hat sich das deutlich reduziert. Expandierende Volkswirtschaften haben natürlich per se auch eine höhere Nachfrage. Das ist in den USA ein wesentlicher Punkt. Die USA ist ein Einwandererland. Es gibt dort einfach mehr Menschen, die konsumieren. Wir dagegen haben eine stagnierende Geburtenrate und dazu noch eine alternde Gesellschaft. Beide Faktoren haben einen starken Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung. Vor dem Hintergrund finde ich eine Steigerung des BIP um ein Prozent nicht überraschend. Einige der wenigen Schrauben, an denen Volkswirtschaften wie wir noch drehen können, ist der Export. Das machen wir sehr erfolgreich, sorgen so aber auch für Unmut bei anderen Nationen. Unsere Überschüsse sind deren Defizite. Zuwächse von vier oder fünf Prozent sind aber auch dann nicht zu erwarten, wenn wir unsere Exporte weiter steigern. Diese Zeiten sind einfach vorbei.

Statistisches Bundesamt, Wichtige Zusammenhänge im Überblick, 2013

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In der politischen Kommunikation ist keine Abkehr vom Wachstum erkennbar. Auch ein moderates Wachstum wird selten als Ziel erklärt. Wie bewerten Sie das, wenn ihre Arbeit missbraucht wird, um die bisherige Wachstumspolitik zu rechtfertigen?

Der Befund ist klar: Das Wachstum nimmt ab und wird sich vielleicht bei einem Prozent einpendeln. Uns Statistiker verwundert das nicht. Vielen Ländern in unserer Situation geht es ähnlich. Wir haben im Westen einfach keinen großen Nachholbedarf mehr. Die Frage ist nun: Wie geht die Politik mit diesem Sachverhalt um? Halten wir am Wachstumsfetischismus fest oder stecken wir neue Ziele?

Unter dem Motto „Beyond GDP“ (Über das BIP hinaus) wird gerade weltweit an Methoden gearbeitet, gesellschaftlichen Fortschritt zu messen, nicht nur das Wirtschaftswachstum. Was halten sie davon?

Ich bevorzuge den Begriff “GDP and beyond”. Es soll nicht darum gehen, das GDP hinter uns zu lassen, sondern zu überlegen, was es neben dem GDP noch an sinnvollen Indikatoren gibt, um Fortschritt umfassender zu messen. Wirtschaft ist nicht alles und das ist gut so.


Das Interview ist Teil einer Serie über die wichtigsten volkswirtschaftlichen Messgrößen. In der ersten Folge haben wir uns das Bruttoinlandsprodukt näher angeschaut. Die nächste Zahl im sogenannten magischen Viereck ist die Inflationsrate. Ich erstelle die Texte in Zusammenarbeit mit den Volkswirten aus unserer Community. Wer Interesse hat an die Arbeit einbezogen zu werden, kann mich gerne anschreiben. Die Mailadresse finden Mitglieder in den Anmerkungen. Ich werde demnächst den Entwurf meines Texts in dieser Gruppe online stellen und freue mich über euren Input. In diesem Artikel beschreibe ich die Zusammenarbeit zwischen unseren Mitgliedern und Autoren.


Aufmacherfoto: Flickr Passage of Time II, Fotograf: Michael Himbeault, CC-BY-2.0