Collage: Zwei Männer vor einem Boeing-Flugzeug. Im Hintergrund ist ein Aktiengraf zu sehen.

Tim Boyle, Scott Olson/Getty Images | John McArthur/Unsplash | Screenshot boerse.de

Geld und Wirtschaft

Boeing zeigt, wo der moderne Kapitalismus versagt

Früher wurden Boeing-Flugzeuge gefeiert, heute steckt der Konzern in der Dauerkrise. Denn die Chefs achteten vor allem auf den Gewinn – bis es Tote gab.

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Reporterin für eine faire Wirtschaft

Eigentlich sollte es ein Routineflug werden an diesem Morgen im März 2019, mit einer fast brandneuen Boeing 737 MAX von Äthiopien nach Kenia. An Bord waren 157 Menschen, darunter 21 UN-Mitarbeiter:innen und eine Mutter mit ihren drei Kindern und deren Großmutter auf Familienurlaub. Aber schon Sekunden nach dem Abflug war klar: Hier war nichts so, wie es sein sollte.

Anhand der später gefundenen Blackbox lässt sich rekonstruieren, was passiert sein muss: Der Steuerknüppel begann in den Händen des Piloten zu zittern. Bald zeigte die Nase des Flugzeugs gefährlich nach unten. Die Piloten versuchten, gegenzusteuern – vergeblich. Das Flugzeug geriet ins Taumeln und stürzte in ein Feld, mit einer solchen Geschwindigkeit, dass die Maschine einen Krater in den Boden riss. Es gab keine Überlebenden. Seit dem Start waren gerade einmal sechs Minuten vergangen.

Es war der zweite Absturz einer Boeing 737 MAX innerhalb von fünf Monaten. Bei dem ersten hatte der Flugzeugbauer so erfolgreich die Schuld von sich geschoben, dass seine Maschinen weiter starten durften. Nun ging das nicht mehr. Weltweit durften Maschinen des Typs Boeing 737 MAX fast zwei Jahre lang nicht mehr den Boden verlassen.

Schnell zeigte sich: Nicht die Piloten, sondern Boeing war schuld an diesen Unglücken. Der einst für seine Sicherheitskultur gefeierte Konzern hatte einen neuen Flugzeugtypen mit einer potentiell tödlichen Software gebaut und darüber weder die Pilot:innen noch die Aufsichtsbehörden hinreichend informiert.

Dass der Konzern wenig daraus gelernt hatte, zeigte sich fünf Jahre später, im Januar 2024, als ein Rumpfteil in dem Nachfolgemodell, der 737 MAX 9, in der Luft wegbrach. Es war Glück, dass diesmal niemand starb.

Der einst größte und stolzeste Flugzeugbauer der Welt hat vergessen, worauf es beim Flugzeug bauen ankommt. Das lag an Entscheidungen, die Boeings CEOs in den Nullerjahren trafen und für die sie an der Wall Street gefeiert wurden.

Boeings Entwicklung illustriert besonders drastisch, welche Konsequenzen eine bestimmte Variante des Kapitalismus haben kann, der Finanzmarktkapitalismus mit seinem extremen Fokus auf Aktienwerte statt Produkte.

Dave Calhoun bei einer Anhörung. Im Hintergrund sitzen Angehörige der Unfallopfer. Sie halten Fotos der Opfer in die Höhe.

Nach den Abstürzen musste sich Boeing-CEO Dave Calhoun bei einer Anhörung im Senat rechtfertigen. Im Hintergrund sitzen Angehörige der Verstorbenen und halten ihre Fotos in die Höhe. Andrew Harnik/Getty Images

Kapitel I: Der Manager, mit dem alles begann

Alles begann mit einem Manager, der nie für Boeing arbeiten sollte und das Unternehmen dennoch bis heute prägt: Jack Welch, von Forbes zum „Manager des Jahrhunderts“ gekürt, leitete ab 1981 gut 20 Jahre den amerikanischen Konzern General Electric (GE).

Doch sein Einfluss reichte weit darüber hinaus. Als Welch 2020 starb, sagte der CEO von Warner Bros. Discovery David Zaslav, über ihn: „Was er bei G.E. geschaffen hat, wurde zu der Art, wie Unternehmen heute funktionieren.“ Ein Journalist der New York Times nannte Welch in einem Buch über den CEO den Mann, der den Kapitalismus kaputt gemacht hat.

Welchs oberste Priorität war es, den Aktienwert seiner Firma steigen zu lassen. Bei General Electric feuerte Welch dafür innerhalb der ersten fünf Jahre ein Viertel der Belegschaft, 118.000 Menschen, was ihm den Spitznamen „Neutronen Jack“ einbrachte, nach der Bombe, die Menschen tötet, aber Gebäude stehen lässt. Bei einem Meeting mit Unternehmensplaner:innen soll er gesagt haben: „Schauen sie sich gut um. Denn Sie werden einander nicht mehr sehen.“ Von den über 200 Unternehmensplanungsstellen sollten nur ein Dutzend bleiben.

Die Wall Street liebte ihn. In den 20 Jahren unter Welch stieg der Börsenwert von General Electric von 12 Milliarden Dollar auf zwischenzeitlich über 580 Milliarden Dollar im Jahr 2000.

Viele Firmen wollten einen Chef, der unter Welch gearbeitet und von ihm gelernt hatte. Und kein Unternehmen jenseits von GE wurde so sehr von Welch geprägt wie Boeing.

Das begann mit einem Welch-Zögling, der über einen Umweg zu Boeing kam: Harry Stonecipher leitete ab 1994 den kriselnden Flugzeugbauer McDonnell Douglas. Im Dezember 1996 schloss er mit dem damaligen Boeing-CEO Phil Condit in einer privaten Hotelsuite einen Deal: Boeing sollte einen Milliardenbetrag bezahlen, um McDonnell Douglas zu schlucken, das ansonsten wohl in den kommenden Jahren pleite gegangen wäre.

Dieser Deal sollte die Unternehmenskultur bei Boeing verändern – und prägt das Unternehmen bis heute.

Auch wenn er auf dem Papier Condit untergeben war: Stoneciphers Einfluss wurde schnell überall sichtbar. Als einer der zwei größten individuellen Anteilseigner und mit einigen Verbündeten im Vorstand, sorgte er nach dem Zusammenschluss dafür, dass sich die Schwerpunkte des Unternehmens verlagerten: Bis dahin waren sie bei Boeing besonders stolz auf ihre Flugzeuge, jetzt standen die Kosten im Vordergrund. Damals gab es das geflügelte Wort, McDonnell Douglas habe Boeing mit Boeings Geld gekauft.

Phil Condit mit einem Stapel Papier in der Hand. Er trägt einen Anzug.

Der Boeing-CEO Phil Condit galt als freundlich und etwas lehrerhaft – und war auch großer Fan von Jack Welch. Tim Boyle/Getty Images

2001 verfügte Phil Condit einen Umzug. Das Boeing-Hauptquartier sollte nach Chicago ziehen. Die Ingenieur:innen aber blieben im über 3.000 Kilometer entfernten Seattle, wo die Firma seit ihrer Gründung 1916 verortet war.

Condits Begründung: Das obere Management müsste langfristig denken und sollte sich nicht von der alltäglichen Arbeit der Ingenieur:innen beeinflussen lassen.

2003 musste Condit nach einer Affäre mit einer Mitarbeiterin gehen und Stonecipher übernahm. Von da an standen über 20 Jahre lang Männer an der Spitze von Boeing, die vorher für Welch gearbeitet hatten.

Stonecipher konnte sich nur etwas über ein Jahr als CEO halten, bevor auch ihn eine Affäre mit einer Angestellten den Job kostete. Doch da hatte er das Unternehmen schon jahrelang geprägt. Sein Nachfolger, James McNerney, war wie Stonecipher ein Jack-Welch-Zögling. Auch er wollte vor allem die Aktienwerte optimieren, nicht die Produkte.

In den Nullerjahren begann der Flugzeugbauer unter McNerney damit, seine Profite in Aktienrückkäufe zu stecken, statt in die Entwicklung neuer Flugzeuge. Zwischen 2013 und 2018 gab Boeing 80 Prozent des frei verfügbaren Geldes für Aktienrückkäufe aus, mehr als 40 Milliarden Dollar. Gleichzeitig stiegen auch die Managergehälter erheblich an. Eine Weile funktionierte diese Strategie und Boeings Börsenwert stieg.

Kapitel II: Was Boeing beim Outsourcen übersah

Ein weiterer wichtiger Schritt, um das Unternehmen so umzubauen, wie Jack Welch es vorgemacht hatte, war radikales Outsourcing. Boeing verkaufte 2005 etwa die Fabrik, die den Rumpf ihres Bestsellers, der 737, herstellte.

Boeing CEOs sollten in den folgenden Jahren immer wieder gezielt die Gewerkschaften unterminieren, indem sie zentrale Produktionsprozesse in andere Städte auslagerten. Dass die Arbeitnehmer:innen dort weniger geschult darin waren, worauf es bei der Zusammensetzung eines Flugzeugs ankam, schien weniger wichtig. Kurzfristig sahen die Unternehmensbilanzen dadurch besser aus, langfristig sollte sich diese Strategie als fatal erweisen.

Das zeigte sich zum ersten Mal deutlich bei der Entwicklung des Dreamliners, eines neuen Passagierflugzeugtyps.

Dazu muss man wissen: Der Luftfahrtmarkt ist speziell. Ein Flugzeugmodell zu entwerfen, ist ein jahrelanger Prozess, der viele Milliarden Euro kostet. Ist ein Modell einmal entwickelt, wird es oft über Jahrzehnte produziert. Die erste Boeing 737 stieg im April 1967 in die Lüfte und wird bis heute mit vergleichsweise kleinen Abwandlungen angefertigt.

Gleichzeitig werden nur wenige Exemplare eines Flugzeugmodells verkauft: Die Boeing 737 gilt als weltweit meistproduzierter Flugzeugtyp strahlgetriebener Verkehrsflugzeuge. Trotzdem hat Boeing von seinem Bestseller insgesamt „nur“ 11.800 Exemplare ausgeliefert.

Boeing brauchte also kurz nach dem Zusammenschluss mit McDonnell Douglas dringend ein neues Flugzeug, um seine Kunden, die Fluglinien, von seinen Produkten zu überzeugen. Denn in den vorangegangenen 20 Jahren war das europäische Unternehmen Airbus mit einigen Innovationen zu einem ernsthaften Konkurrenten geworden und hatte Boeing 1999 sogar zum ersten Mal mit seinem Marktanteil überholt.

Früher floss bei Boeing viel Liebe in den Prozess, ein neues Flugzeug zu entwickeln. In den 1960er-Jahren kämpften zwei Teams darum, dass ihr Design für die 737 ausgewählt wurde. Anfang der Neunziger bei der Entwicklung eines anderen Flugzeugs, der 777, ermahnte der Technikchef seine Ingenieure zu größtmöglicher Transparenz. Keine Informationen sollten zurückgehalten werden. „Das Einzige, was mich dazu bringt, dir den Kopf abzureißen und in den Nacken zu scheißen, ist, wenn du Informationen zurückhältst“, soll er gegenüber einem Ingenieur gesagt haben. Der Entwicklungsprozess war teuer, aber der Flugzeugtyp ein großer Erfolg.

Bei dem neuen Flugzeugtypen nach dem Zusammenschluss, dem Dreamliner, hatten die Ingenieur:innen nur noch 40 Prozent des Budgets, was ihnen in den 90ern zur Verfügung gestanden hatte.

Schon davor stellten Zulieferer Komponenten des Flugzeugs her, die Boeing dann zusammensetzte. Nun lagerte Boeing in großem Stil aus. Insgesamt 70 Prozent des Designs, der Konstruktion und der Fertigung ganzer Module gab Boeing an Zulieferer ab, schreibt Forbes. So wollte die Firma Geld sparen.

Damals galt diese Strategie als bahnbrechend. Seit den 1980er-Jahren haben immer mehr Firmen größere Teile ihrer Produktion ausgelagert, um Arbeitskosten zu sparen und Risiken und Kosten an ihre Zulieferer auszulagern. Dabei übersahen die Chefs bei Boeing, welche versteckten Kosten das Outsourcing mit sich bringen konnte.

Je mehr Boeing an andere Unternehmen auslagerte, desto genauer musste der Flugzeugbauer koordinieren, was diese Firmen taten. Sonst bestand die Gefahr, dass Flugzeugteile nicht zueinander passten, wenn sie geliefert wurden.

Doch auch hier schlampte Boeing. Waren die genauen Anforderungen für Boeings Elektro-Zulieferer bei der 777 noch 2.500 Seiten lang gewesen, hatte das entsprechende Dokument beim Dreamliner 20 Seiten.

Und auch die Koordination war aufwendiger, wenn es sich um eine andere Firma handelte. Konnten die Ingenieur:innen vorher einfach in ihren Fabriken anrufen, wenn sie eine Änderung an einem Teil besprechen wollten, waren nun oft Anwält:innen und die Personalabteilung dazwischengeschaltet.

Die Entscheidung, große Teile der Entwicklung des Dreamliners auszulagern, entpuppte sich als Desaster. Es dauerte über drei Jahre länger, das Flugzeug auszuliefern als geplant. Boeing musste Prozesse wieder ins Unternehmen zurückholen und Zulieferer kaufen. So kostete es ein Vielfaches der veranschlagten Kosten, laut Schätzungen rund 50 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Die 777 zu entwickeln, soll 12 Milliarden Dollar gekostet haben.

Kapitel III: Wie es passieren konnte, dass eine tödliche Software in die 737 Max eingebaut wurde

Kommen wir zur 737 MAX, dem Flugzeug, das 346 Menschen das Leben kostete. Ohne die Rivalität zwischen Airbus und Boeing wäre es wahrscheinlich nicht zu diesem Modell gekommen. Denn 2010 entschied Airbus größere, energieeffizientere Triebwerke an die A320 zu montieren.

Diese Maschine verbrauchte weniger Kraftstoff, was für die Fluglinien 15 Prozent der Kosten sparen würde. Schnell zeigte sich: Das neue Modell konnte eine echte Gefahr für Boeing werden.

Die Chefetage von Boeing verkündete deshalb, eine neue Variante der 737 in Auftrag zu geben, ebenfalls mit größeren Triebwerken. Auch diesmal lagerte Boeing Teile des Designs aus. Außerdem erklärte das Top-Management: Die neue Maschine sollte nur ein Jahr nach dem Airbus-Modell auf den Markt kommen.

Ein Flugzeug der Airline "Cabo Verde".

Eine Boeing 737 Max 8. Sie war nicht das erste Modell, deren Entwicklungsprozess dem Konzern Schwierigkeiten bereitete. NurPhoto/Getty Images

Die neue 737 sollte sich möglichst wenig von ihrem Vorgängermodell unterscheiden. So wollte Boeing verhindern, dass Piloten dafür eine Schulung am Simulator brauchen würden, die schon mit einer 737 geflogen waren. Solche Simulatorschulungen wären teuer geworden, sowohl für die Fluglinien als auch für Boeing.

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Aber die größeren Triebwerke veränderten die Aerodynamik des Flugzeugs. Bei den ersten Testflügen zeigte sich: In bestimmten Situationen im Windtunnel zeigte die Nase des Flugzeuges zu weit nach oben. Um das Problem zu lösen, hätten die Boeing-Ingenieure etwas am Design des Flugzeugs ändern müssen. Aber das wäre teuer gewesen. Stattdessen entschieden sich die Ingenieur:innen für eine Software-Lösung: MCAS, ein automatisches Stabilisierungssystem, das die Nase des Flugzeuges nach unten drücken sollte, wenn sie gefährlich nach oben zeigte.

Mit dieser Software kam die Angst, dass die amerikanische Aufsichtsbehörde Federal Aviation Administration (FAA) doch noch Pilotenschulungen verlangen könnte. Nicht nur, dass das teuer gewesen wäre, es hätte auch den Auslieferungsprozess verlangsamt.

Die Ingenieure entschieden sich deshalb, den Namen der Software nur intern zu verwenden. Im Handbuch tauchte MCAS nur im Glossar auf, sonst nirgendwo.

MCAS sollte ursprünglich nur in seltenen Fällen zum Einsatz kommen. Aber bei weiteren Testflügen zeigte der Winkel des Flugzeugs auch bei langsameren Geschwindigkeiten zu steil nach oben. Wieder sollte MCAS das Problem lösen.

Das machte MCAS mächtiger, jetzt konnte die Software die Flugzeugnase noch stärker nach unten drücken. Die Signale, ob der Winkel des Flugzeugs zu steil sei, kamen bei langsamer Geschwindigkeit nur von einem Sensor. Genau dieser Sensor war in den beiden Flugzeugen, die abstürzen sollten, kaputt und sendete falsche Signale.

Das Design widersprach damit grundlegenden Regeln des Flugzeugbaus: Eigentlich soll es alle wichtigen Komponenten in jedem Flugzeug mehrfach geben, damit kein einzelner fehlerhafter Sensor zu einem Absturz führen kann. Und es widersprach der jahrzehntelangen Philosophie von Boeing, laut der der Pilot statt des Computers immer die Kontrolle über das Flugzeug behalten sollte.

Kapitel IV: Stell dir vor, Boeing baut unsichere Flugzeuge und niemand kontrolliert es

Spätestens jetzt kommt die Frage auf: Warum hat niemand Boeing davon abgehalten, ein Flugzeug zu designen, das so unsicher ist? Oder zumindest dafür gesorgt, dass die Piloten Schulungen bekommen?

Natürlich gibt es in den USA eine Aufsichtsbehörde für Flugzeuge, die FAA, die ich oben schon kurz erwähnt habe. Aber sie hat Boeing schon lange nicht mehr richtig beaufsichtigt.

Der Auftrag der FAA war seit ihrer Gründung schwierig: Einerseits sollte sie die Flugzeugunternehmen überwachen, sie andererseits aber auch beim Wachstum unterstützen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Doch seit den Nuller-Jahren kippte das Verhältnis immer mehr.

Schon 2003 erklärte die neue FAA-Chefin Marion Blakey, die Agentur arbeite zu wenig kundenorientiert – womit sie die Unternehmen, nicht die Passagiere, meinte. Sie ermutigte Unternehmen wie Boeing, mit der FAA zu diskutieren, statt ihre Regeln einfach hinzunehmen. Top-Beamt:innen bei der FAA bekamen ihre Bonus-Zahlungen danach ausgezahlt, ob die Produzenten ihre Deadlines einhalten konnten, nicht danach, wie sehr sie auf Sicherheit achteten, schreibt der Journalist Peter Robison in seinem Buch „Flying blind“.

Machten die technischen Expert:innen der FAA Sicherheitsvorschläge, wurden diese häufig ignoriert. Zu dem Ergebnis kam eine Umfrage in der Behörde nach den Abstürzen, schreibt die Seattle Times.

In den Nullerjahren hatte die FAA begonnen, Teile ihrer Aufsicht an Boeing-Mitarbeiter:innen auszulagern. Diese konnten nun teilweise ihre eigenen Produkte zertifizieren. Unter der Trump-Regierung bekamen die Luftfahrt-Unternehmen noch mehr Rechte bei der Prüfung. Wollte die FAA Sicherheitsmängel kritisieren, musste sie dafür erst einen Antrag stellen.

Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die FAA Boeing nicht richtig beaufsichtigen konnte. Eine beliebte Taktik bei Boeing, um mit der FAA fertig zu werden: Die Agentur mit Dokumenten zu überfluten, sodass sie nicht mehr hinterherkam.

Auch bei der Entwicklung der 737 Max bedienten sich die Angestellten von Boeing dieser Strategie. Tatsächlich war die FAA nicht darüber informiert, dass sich MCAS nun auch bei langsamer Geschwindigkeit einschalten konnte. Nur deshalb hatte die zuständige Angestellte erlaubt, MCAS aus dem Handbuch zu streichen. Ein Boeing-Mitarbeiter witzelte vor den Abstürzen, er habe „Jedi-mind tricks“ verwendet, um auch ausländische Aufsichtsbehörden von Boeings bevorzugten Vorgehen zu überzeugen. Ein anderer Mitarbeiter schrieb: „Dieses Flugzeug wurde von Clowns entworfen, die dabei von Affen überwacht wurden.“ Das steht in internen Nachrichten, die Boeing nach den Abstürzen veröffentlichte.

Auf weitem Feld liegen viele kleine Trümmerteile. Menschen laufen herum und untersuchen die Wrackteile.

Bergungsteams untersuchen die Absturztstelle der Boeing 737 MAX in der Nähe von Addis Abeba, Äthiopien. Von dem Flugzeug blieben nur Trümmerteile zurück. Jemal Countess/Getty Images

Kapitel V: Boeing ist kein integrer Konzern mehr, das zeigt der Umgang mit den Flugzeugunglücken

Nach dem ersten Flugzeugabsturz hatte Boeing zwar angekündigt, innerhalb weniger Wochen eine Software-Lösung für das Problem zu finden. Tatsächlich war die aber auch fünf Monate später noch nicht fertig, als das äthiopische Flugzeug in das Feld stürzte.

Nach den Unfällen ermittelte das Justizministerium. Inzwischen hat sich Boeing schuldig bekannt, die US-Regierung in Zusammenhang mit den beiden Flugzeugunglücken betrogen zu haben, weil es die FAA nicht ausreichend über MCAS informiert hatte. Boeing hat sich bereit erklärt, eine Strafe von fast 244 Millionen Dollar zu zahlen. Die Familien der Opfer haben die Einigung als einen „sweetheart deal“ kritisiert: Boeing sei also zu gut weggekommen.

Immer wieder berichten Whistleblower, dass sich die Sicherheitskultur des Unternehmens seit den Abstürzen wenig verändert habe. Vorfälle wie das weggebrochene Rumpfteil in diesem Jahr unterstreichen das. Zwei Boeing-Whistleblower sind 2024 plötzlich verstorben, wie zahlreiche Medien berichteten.

Boeing gilt als „too big to fail“. Aber damit sich die Passagiere in Boeing-Flugzeugen wieder sicher fühlen können, müssten sich alle auf ihre ursprünglichen Jobs besinnen. Boeing darauf, richtig gute Flugzeuge zu bauen. Und die FAA darauf, Boeing zu beaufsichtigen.


Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Astrid Probst, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Boeing zeigt, wo der moderne Kapitalismus versagt

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