Collage: Ein Kreis der an einen Geldschein anmutet über den Köpfen von kleinen Menschen.

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Geld und Wirtschaft

Es gibt gar keine Staatsschulden, sagt eine wichtige Theorie

Der Staat sollte nicht zu viele Schulden machen, darin sind sich die meisten einig. Einige Ökonom:innen sehen das aber anders – und haben dafür die Geldtheorie auf den Kopf gestellt.

Profilbild von Katharina Mau

FDP-Chef Christian Lindner hat ein Lieblingswort, wenn er auf einen ausgeglichenen Staatshaushalt pocht: Disziplin. „Wir müssen uns von unrealistischen Wünschen verabschieden und die Konsolidierung des Haushalts vorantreiben. Dies erfordert Disziplin und Willenskraft“, sagt er zum Beispiel in einer Pressekonferenz.

Es ist smart, sich auf Disziplin zu berufen. Denn wer will schon gern als undiszipliniert gelten? Im Umgang mit Geld sind das Menschen, die es zum Fenster rauswerfen, mehr ausgeben, als sie auf dem Konto haben. Also zum Beispiel ein Staat, der mehr Geld für Klimaschutz und eine Kindergrundsicherung ausgibt, obwohl die Einnahmen sinken.

Dem liegt ein Verständnis von Staatsschulden zugrunde, das verbreitet, aber umstritten ist. Nämlich, dass für den Staat gilt: Er kann nur das ausgeben, was er zuerst an Steuern eingenommen hat. Wenn dieses Geld nicht reicht, muss er Schulden aufnehmen – zu viele sollten es aber nicht sein.

Eine ökonomische Theorie, die das komplett anders sieht, wird immer bekannter: die Modern Monetary Theory, kurz MMT. Auch wenn sie viele Gegner:innen hat, prägt sie seit Jahren die Debatte darüber, wie viel Geld Staaten ausgeben können. Was ist also an ihr dran? In diesem Text erkläre ich die Grundzüge der MMT und die wichtigsten Kritikpunkte, damit du dir selbst eine Meinung bilden kannst. Und wieso manche Staaten Geld aus dem Nichts schaffen und andere trotzdem pleitegehen können, wie es Griechenland in der Staatsschuldenkrise 2010 fast passiert wäre.

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Bevor wir loslegen: Die MMT bezieht sich auf Staaten, die ihre eigene Währung herausgeben, für ein Euroland wie Deutschland greift sie also nur bedingt. Auf die Einschränkungen werde ich weiter unten noch genauer eingehen. Nur so viel vorweg: Um die MMT auf europäische Staaten anwenden zu können, müssten sich nicht nur die europäischen Schuldenregeln ändern, sondern auch die Ausrichtung der Europäischen Zentralbank (EZB).

Was der Staat ausgeben will, kann er sich leisten

Eine Kernthese der MMT: Geld ist für einen Staat, der seine eigene Währung herausgibt, keine knappe Ressource. Das bedeutet: Was eine Regierung machen will, kann sie sich (finanziell) auch leisten. „Als einziger Akteur in der Wirtschaft kann [der Staat] seine Ausgaben unabhängig von der Höhe seiner Einnahmen tätigen“, schreibt der Ökonom Dirk Ehnts in seiner Einführung zur Modern Monetary Theory. Denn der Staat schafft Geld aus dem Nichts.

Wie kommt die MMT auf diese Idee? Um das zu verstehen, nehme ich dich mit auf einen Ausflug in meine Kindheit. Damals war ich mehrere Sommer in der Spielstadt Mini München. Das ist ein Ferienprogramm, bei dem Kinder das Leben der Erwachsenen nachspielen. Sie gehen arbeiten, verdienen Geld, zahlen Steuern. Klingt aus heutiger Sicht gar nicht so spaßig, aber als Kind habe ich es geliebt. Zusammen mit einer Freundin habe ich mit Schaufel und Besen für die Müllabfuhr gearbeitet oder einen Vortrag an der Universität gehalten. Für all das verdiente man MiMüs, die Währung der Spielstadt. Damit kauften wir uns ein Mittagessen in der Fetten Sau, dem Restaurant in Mini München, oder selbstgemachte Dinge im Geschäft der Kunstakademie. Und wir bezahlten Steuern.

Das konnten wir nur, weil der Staat (also das Spielstadt-Team) die MiMüs ausgab. In Mini München waren die meisten Unternehmen staatlich. All diese Unternehmen bezahlten MiMüs. Es gab allerdings auch Kinder, die ihr eigenes Business aufbauten – zum Beispiel einen Jungen, der ein Boot aus Holz und Plastikflaschen baute und damit andere über den Olympiasee schipperte. Nur weil der Staat die MiMüs in Umlauf brachte, konnte er damit Holz kaufen, seine Kund:innen in der Währung bezahlen lassen und sich von dem verdienten Geld ein Essen bei der Fetten Sau kaufen.

Woher kamen die MiMüs? Aus dem Drucker. Erst einmal waren es einfach Scheine aus Papier. Ihren Wert bekamen sie dadurch, dass wir darauf vertrauten, mit diesen Scheinen etwas kaufen zu können. Das Gleiche gilt für unser echtes Geld. Es wird von den Zentralbanken geschaffen, wenn Staaten Ausgaben machen. Diese Erkenntnis ist übrigens nicht neu. Der Ökonom John Maynard Keynes schrieb zum Beispiel schon 1930, dass alle „modernen“ Staaten selbst bestimmen, was sie als Geld akzeptieren.

Wenn also der Staat einfach Geld aus dem Nichts schaffen kann, wieso zahlen wir dann überhaupt Steuern? Nach der MMT finanzieren Steuern nicht den Staatshaushalt, sie haben aber andere wichtige Funktionen. Allen voran: Sie legitimieren die Währung.

Steuern: Der Grund, warum du dein Geld in Euro verdienst

Wieso akzeptierst du eigentlich den Euro? Klar, weil alle um dich herum es tun. Weil du in Euro dein Gehalt bekommst, deine Miete zahlst, deine Zahnpasta und dein Falafel-Sandwich. Stellen wir uns aber einmal eine Gesellschaft vor, in der es noch kein Geld gibt. Der Staat beschließt, er will eine Währung einführen. Aber er kann dich nicht dazu zwingen, sein Papiergeld anzuerkennen. Sobald wir aber Steuern in einer bestimmten Währung zahlen, müssen wir auch in dieser Währung Geld verdienen.

Nach der MMT bringt der Staat Geld in Umlauf, indem er Dinge kauft und Menschen für ihre Arbeit bezahlt. Wenn wir dann Steuern zahlen, geht das Geld aus dem Kreislauf wieder zurück an den Staat. Das ist eine weitere wichtige Funktion von Steuern. Denn wenn zu viel Geld im Umlauf ist, kann Inflation entstehen. Außerdem dienen Steuern nach der MMT dazu, Geld umzuverteilen und damit die Ungleichheit zu reduzieren.

Nach der MMT schaffen Staaten (die ihre eigene Währung herausgeben) also Geld aus dem Nichts. Steuern finanzieren nicht die Staatsausgaben, sondern nehmen Geld aus dem Kreislauf heraus. Was bedeutet das jetzt für die Staatsschulden?

Staatsschulden gibt es nicht

Dafür muss man sich erstmal verdeutlichen, was passiert, wenn ein Staat ins Defizit geht, also mehr ausgibt, als er auf dem Konto hat: Er kann dann Staatsanleihen ausgeben. Im Gegenzug bekommt er Geld. Der Staat verspricht, dieses Geld inklusive Zinsen wieder zurückzuzahlen. Das klingt doch nach einem Kredit, den zum Beispiel Banken oder Vermögensverwalter an den Staat geben. Oder?

Laut der MMT ist es das nicht. Daher ist „Staatsschulden“ nach Ansicht der MMTler auch ein unpassender Begriff. Was passiert, wenn die deutsche Regierung Staatsanleihen ausgibt, beschreibt Dirk Ehnts in seiner Einführung zur MMT so: Eine bestimmte Gruppe von Banken kann diese Staatsanleihen auf dem sogenannten Primärmarkt kaufen – also direkt von der deutschen Regierung. Dieser Markt ist nur wenigen zugänglich und hier zahlen die Banken mit Zentralbankgeld. Dieses Geld haben sie sich allerdings vor dem Kauf von der Zentralbank geliehen. Über einen Umweg finanziert also die Zentralbank die Ausgaben des Staates. Erst danach verkaufen diese Banken die Staatsanleihen auf dem sogenannten Sekundärmarkt, der allen Interessenten offensteht.

Wenn die Laufzeit der Staatsanleihe ausläuft und der Staat das Geld zurückzahlen muss, kann er einfach neue Staatsanleihen ausgeben, um das zu finanzieren. Nach der MMT ist es deshalb nicht wichtig, wie stark ein Staat im Defizit ist, wie hoch also in unserem klassischen Sprachgebrauch seine Schulden sind. Die Grenzen für die Staatsausgaben sind dann erreicht, wenn durch zu viel Geld im Umlauf eine hohe Inflation entsteht.

Keine eigene Währung: die Eurozone

Bevor ich auf die Inflationsgefahr bei der MMT genauer eingehe, will ich noch einmal die Einschränkungen beschreiben, die ich oben schon angedeutet habe. Die MMT bezieht sich auf Staaten, die eine große, Achtung Fachbegriff, monetäre Souveränität haben. Vereinfacht gesagt ist das ein Gradmesser dafür, wie frei ein Staat über seine Währung verfügen kann. Wie hoch die monetäre Souveränität ist, hängt von vier Faktoren ab, die der Ökonom und Autor Maurice Höfgen in seinem Buch „Mythos Geldknappheit“ beschreibt:

  1. Gibt der Staat seine eigene Währung heraus? Nur, wenn er das tut, kann er in dieser Währung Geld schöpfen.
  2. Wie gut kann der Staat in seiner eigenen Währung Steuern eintreiben? Wenn es kein breit etabliertes Steuersystem gibt, können Menschen einfacher in andere Währungen ausweichen.
  3. Hat er sich in fremder Währung verschuldet? Schulden in fremder Währung können Staaten natürlich nicht zurückzahlen, indem sie mehr Geld in ihrer eigenen Währung schöpfen.
  4. Hat er seine Währung in einem festen Wechselkurs an eine andere Währung gebunden? Dann muss er sich mit der Geldmenge an der anderen Währung orientieren und kann nicht nach Belieben Geld in Umlauf bringen.

Das zeigt auch, wieso Euroländer pleitegehen können, wie es in Griechenland in der Eurokrise fast passiert wäre. Wenn nämlich ein Euroland Staatsanleihen ausgibt, um die eigenen Ausgaben zu finanzieren, geschieht Punkt 3: Es verschuldet sich in einer Fremdwährung, dem Euro. Die griechische Zentralbank kann keine Euro aus dem Nichts schöpfen, die deutsche Bundesbank auch nicht. Kann ein Staat diese Schulden nicht mehr zurückzahlen, kann er pleitegehen. Deshalb haben Euroländer keine besonders große monetäre Souveränität.

Während der Corona-Pandemie ging die EZB (zur Erinnerung: das ist die Europäische Zentralbank) einen anderen Weg als in der Eurokrise. Sie kaufte im großen Stil Staatsanleihen. Dadurch konnten die Staaten deutlich höhere Ausgaben tätigen, um ihre Bevölkerungen vor den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zu schützen. Um die MMT auf die Euroländer anwenden zu können, könnte die EZB zum Beispiel dauerhaft garantieren, dass sie im Zweifel deren Staatsanleihen zurückkauft.

Unterschätzt die MMT die Inflationsgefahr?

Sowohl aus der akademischen Community als auch aus der Politik gibt es Kritik an der MMT. Manche Ökonom:innen monieren, die MMT würde in großen Teilen nur wiederholen, was Keynes schon vor einem Jahrhundert gelehrt hat. Andere stellen Annahmen der MMT infrage. Ich möchte hier auf zwei Punkte eingehen, die für die tatsächliche Anwendung der MMT wichtig sind.

Viele Kritiker:innen der MMT sind der Meinung, dass die Inflation außer Kontrolle geriete, wenn wir uns keine starren Beschränkungen mehr beim Staatsdefizit geben würden. Wenn der Staat mehr Geld in Umlauf bringt, steigt die Nachfrage nach Produkten. Unternehmen weiten dann ihre Produktion aus. Wenn es aber nicht genug Arbeitskräfte gibt, kann das zu einer sogenannten Lohn-Preis-Spirale führen. Die Inflation könnte dann immer weiter steigen.

MMTler erklären: In einem solchen Fall müsste der Staat die Steuern erhöhen und so Geld aus dem Kreislauf abschöpfen. Das klingt in der Theorie schön, ist in der Realität aber ganz schön schwierig. Denn welche:r Politiker:in möchte gerne höhere Steuern fordern? Auf der anderen Seite sind höhere Steuern zwar unbeliebt, Inflation aber auch.

Der Ökonom und MMT-Vertreter Maurice Höfgen schreibt auf seinem Blog: Die Aussage, dass der Staat Geld in der eigenen Währung aus dem Nichts schaffen kann, sei „eine logische Feststellung, keine Aufforderung zum Gelddrucken, als gäbe es kein Morgen.“

Was passiert, wenn Menschen das Vertrauen in ihre Währung verlieren?

Ein weiterer Kritikpunkt: Die MMT würde die Gefahr unterschätzen, dass Menschen in eine andere Währung flüchten, wenn ihr Vertrauen in die eigene Währung sinkt, zum Beispiel durch zu hohe Inflation. Davor warnt etwa Jens Südekum, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Düsseldorf, in einem Beitrag des Deutschlandfunk. „Jens Südekum rät deshalb zu Feingefühl, wenn es um Fragen staatlicher Investitionsgrenzen oder Staatsverschuldung geht“, heißt es dort. Sei das Vertrauen in eine Währung erst einmal verloren, ist es schwer, dieses wieder herzustellen.

Gleichzeitig sagt Südekum in dem Beitrag, dass es ein großer Verdienst der MMT sei, darzustellen, wie bestimmte Abläufe in unserem Geldsystem funktionieren: „Das ist eine wichtige Erkenntnis, dass man sozusagen nicht erst Geld einsammeln muss von den Steuerzahlern, damit man es dann ausgeben kann, sondern, dass es gerade andersherum läuft.“

Selbst wenn sich rechtlich einiges ändern müsste, um die MMT auf Deutschland anwenden zu können, haben die Vertreter:innen der Theorie etwas Wichtiges geleistet. Sie fordern den weit verbreiteten Glaubenssatz heraus, dass es starre, ökonomisch begründete Regeln dafür gibt, wie viel Geld ein Staat ausgeben darf. Ein Glaubenssatz, der hinter der Schuldenbremse oder den europäischen Schuldenregeln steckt. Wenn wir von diesem Glaubenssatz abrücken, eröffnen sich ganz neue politische Möglichkeiten. Ein Staatshaushalt hat dann deutlich weniger mit Disziplin zu tun, als Christian Lindner uns weismachen will.

Wenn du tiefer einsteigen möchtest:


Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Es gibt gar keine Staatsschulden, sagt eine wichtige Theorie

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