Claudia* wusste, dass man Schulden erben kann. Aber sie hätte nie damit gerechnet, dass ausgerechnet ihr vermeintlich reicher Onkel sie einmal in die Situation bringen würde, Millionen Euro Schulden auszuschlagen.
Bis zu dieser Recherche habe ich bei Erbschaften an das Häuschen der Oma oder an die Milliarden der Klattens gedacht. Dabei erben viele Menschen irgendwann in ihrem Leben auch Schulden.
Wie man damit umgeht, erfahren sie oft erst, wenn der Vater oder der Onkel schon gestorben ist. Dann kommt zu der Trauer auch noch die Angst dazu: Was mache ich jetzt? Deshalb lohnt es sich, die Geschichten der drei Krautreporter-Leser:innen zu hören, die mir von den Schulden erzählt haben, die sie beinahe oder tatsächlich geerbt haben. Sie zeigen: Mit etwas Ruhe und dem richtigen Vorgehen lässt sich das Schlimmste verhindern.
Jede achte verstorbene Person in Deutschland hat nichts oder nur Schulden zu vererben. Zu diesem Schluss kommt das Deutsche Institut für Altersvorsorge für den Zeitraum von 2015 bis 2024. Zum Vergleich: Die oberen zwei Prozent vererben ein Drittel des gesamten Erbvolumens. Und nicht immer schätzen Erb:innen richtig ein, ob sie ein Vermögen, gar nichts oder sogar Schulden erben werden. So ging es zumindest Claudia.
Die Schulden des vermeintlich reichen Onkels
Gestorben war ein Onkel, der ihrem Vater einmal 10.000 Euro zum Geburtstag geschenkt hatte. Ein anderes Mal kam er mit einem Seidenteppich aus dem Urlaub zurück, den er direkt auf dem Dachboden verstaute. Der Teppich war zu teuer, um auf ihm zu laufen.
Der Onkel hatte sein Geld damit verdient, Häuser zu kaufen, zu sanieren und weiterzuverkaufen. So viel wusste Claudia. Dass er das falsche Haus gekauft und Schulden angehäuft hatte, erfuhr Claudia nicht, im Gegensatz zu anderen Familienmitgliedern. Sie fand ihn speziell und sah ihn höchstens auf der Geburtstagsfeier ihres Vaters. Als der Onkel starb, dachte sie nicht, dass er ihr etwas hinterlassen würde.
Niemand erzählte ihr, wie seine Frau, Kinder und Enkelkinder die Schulden ausschlugen. Und auch nicht, wie ihr Vater vor Gericht erklärte, er wolle das Erbe nicht antreten. Denn ihr Vater, schon älter und etwas schusselig, hatte vergessen, sie über die Schulden zu informieren. Ist ein Verwandter gestorben, hat man nur sechs Wochen Zeit, um das Erbe auszuschlagen. Die Frist war fast vorbei, da rief ihre Schwägerin sie an: Sie hatte zufällig von dem Schuldenerbe des vermeintlich reichen Onkels erfahren und warnte nun die restliche Verwandtschaft.
Eine Woche vor Fristende stand Claudia vor einer Richterin – im falschen Bezirk in Köln. Die Richterin sah in den Unterlagen, wie knapp die Zeit war und kümmerte sich darum, dass die Ausschlagung trotzdem klappte. Gerade nochmal gut gegangen.
Ist diese Sechs-Wochen-Frist verstrichen, heißt das nicht, dass man Millionen Schulden einfach zurückzahlen muss. Claudia hätte zum Beispiel eine Nachlassinsolvenz beantragen können, bei der sie nicht mit ihrem Privatvermögen für die Schulden ihres Onkels haften müsste. Stattdessen kümmert sich dann ein:e Insolvenzverwalter:in darum, den Gläubiger:innen möglichst viel Geld zukommen zu lassen. Von dieser Möglichkeit wissen aber viele Erb:innen nicht, auch Claudia hatte nicht davon erfahren.
Wie oft kommt das vor?
Es gibt keine Zahlen dazu, wie viele Erbschaften in Deutschland jedes Jahr ausgeschlagen werden. Die Zahl der Nachlassinsolvenzen ist aber verschwindend gering: In den letzten fünf Jahren lag sie laut Statistischem Bundesamt bei weniger als fünf Prozent aller Insolvenzen. Auch Roman Schlag, Referent für Schuldnerberatung beim Caritasverband für das Bistum Aachen, sagt: Nachlassinsolvenzen seien bei ihnen eine Seltenheit.
Dabei könne es sich in manchen Fällen lohnen, eine Nachlassinsolvenz zu beantragen, sagt der Erbrechtsanwalt Stefan Mannheim. Denn oft verlangen die Gerichte keinen Vorschuss und wenn das geerbte Vermögen nicht für die Verfahrenskosten ausreicht, bekommt man eine Bescheinigung, die die Erb:innen davon befreit, die Schulden zu zahlen.
Dass sich trotzdem so wenige Menschen für eine Nachlassinsolvenz entscheiden, liegt auch daran, dass viele Anwält:innen davon abraten. Erbrechtsanwalt Mannheim sagt, das hänge auch damit zusammen, dass Nachlassinsolvenzen in der juristischen Ausbildung kaum vorkommen.
34.000 Euro zahlen – ja oder nein?
Vincent* bekam ein paar Monate nach dem Tod seines Vaters einen Brief von der Bank: Die forderte ihn auf, über 34.000 Euro zu zahlen – innerhalb von zwei Wochen. Heute, fünf Jahre später, sitzt er mit seiner Frau vor dem Laptop, um mir seine Geschichte zu erzählen. Immer wieder fallen die beiden einander ins Wort, beim Versuch, Vincents Geschichte zu rekonstruieren.
Vincents Vater hatte im Herbst 2019 im Urlaub einen Motorradunfall und starb wenige Tage später an den Folgen. Noch am Tag vor seinem Tod hatte Vincent ihn im Krankenhaus besucht und mit ihm geredet. Sein Vater schien auf dem Weg der Besserung. Dann kam in der Nacht der Anruf. Eigentlich hatten Vincent und seine Freundin am darauffolgenden Tag verkünden wollen, dass sie heiraten würden. Stattdessen warteten er und seine Familie nun die restliche Nacht auf die Untersuchung der Kriminalpolizei, ohne zum Vater gelassen zu werden. Denn dieser war mit Mitte 50 jung und unerwartet verstorben.
Eine Woche später rief Vincents Mutter ihn an und bat ihn, in seine Heimatstadt zu fahren. Sie brauche unbedingt seine Unterschrift. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Vincents Mutter nie mit Geldfragen auseinandergesetzt. Aber sie wusste, dass ihr als Witwe noch drei Monate das Gehalt ihres Mannes zustand, so stand es im Tarifvertrag. Vincents Mutter arbeitete damals nicht, sie benötigte das Geld deshalb dringend. Und sie war sich sicher, dafür einen Erbschein zu brauchen. Den Antrag dafür sollte Vincent jetzt unterschreiben.
Was genau es mit diesem Zettel auf sich hatte, konnte sie ihm nicht erklären. Sein Vater war der erste Todesfall im näheren Umfeld, Vincent war noch keine 30 Jahre alt. Vincents Mutter redete so lange auf ihn ein, bis er unterschrieb. „Wenn irgendwas schiefgeht, übernimmst du die Verantwortung“, sagte er zu ihr. Damit hatte er das Erbe seines Vaters angenommen.
Vincent wusste nicht, dass sein Vater Schulden gehabt hatte. Obwohl die beiden ein gutes Verhältnis hatten, war Geld selten ein Thema. Einige Wochen, nachdem Vincent den Erbschein unterschrieben hatte, kam der erste Brief von der Bank: Darin war von Konten die Rede, die sich als ein Kredit herausstellten. Zehntausende Euro Schulden hatte der Vater angehäuft. Bis heute weiß Vincent nicht genau, was es damit auf sich hat. Er vermutet, sie stammen aus der Zeit, als seine Eltern versuchten, sich mit einem Imbiss selbstständig zu machen.
Zwei Monate später kam ein neuer Brief von der Bank. Darin stand: Die Bank ginge davon aus, dass Vincent das Erbe angetreten habe. „Daher erwarten wir den Ausgleich der offenstehenden Restforderung von insgesamt 34.259,87 Euro.“ Zahlbar innerhalb von zwei Wochen. Warum die Bank plötzlich den gesamten Kredit auf einmal zurückforderte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Vincent erzählt von Telefonaten mit der Bank, die die Familie nach dem ersten Brief führte. Die waren jedoch nicht besonders auskunftsreich, sagt Vincent. Er plante gerade eine Familie und sah schon sein gesamtes Erspartes dahinschwinden. „Ich glaube ja persönlich immer, dass man für alles eine Lösung findet. Trotzdem wurde mir in dem Moment heiß und kalt.“
Dabei hatte seine Schwester schon Wochen vorher die Antwort gefunden. In einem Schrank, vollgestopft mit Dokumenten, gab es einen Vergleich, auf den sich die Bank mit Vincents Vater geeinigt hatte. Statt 34.000 Euro hatte er nur noch 14.000 Euro zu zahlen, so stand es in den Unterlagen. Die Schwester hatte Vincent davon erzählt und die Familie diese Raten weitergezahlt, der Betrag war fast abbezahlt.
Die Familie suchte sich einen Anwalt, der ihr erklärte: Die Bank sei im Unrecht. Denn sie hatten nicht nur die Schulden, sondern auch den Vergleich geerbt. Der Anwalt setzte ein offizielles Schreiben an die Bank auf. Nachdem die Familie zwei weitere Raten bezahlt hatte, war klar: Es war gut gegangen, es war nur noch eine Restsumme von 2.000 Euro übrig. Erbrechtsanwalt Mannheim sagt: „Nach meiner Erfahrung kommt es in dieser Art selten vor, dass Gläubiger von den Erben mehr verlangen, als mit dem Erblasser vereinbart war.“ Trotzdem erlebe auch er immer wieder, dass Gläubiger unberechtigte Forderungen stellen und zum Beispiel verjährte Ansprüche verlangen.
Schlussendlich musste Vincent die Schulden seines Vaters nicht abbezahlen. Das klappte aber nur mithilfe des Anwalts und des Trauergelds, das die Motorradgruppe des Vaters für Vincents Mutter gesammelt hatte.
Wie oft kommt das vor?
Weißt du, wie viel Vermögen deine Eltern haben – und wie viele Schulden? Wenn nein, bist du nicht allein. In vielen Familien wird nicht über Geld gesprochen und über den Tod der Eltern wollen die wenigsten nachdenken. Aber gerade deshalb sollte man ein Gespräch suchen. Denn am Lebensstil lässt sich nicht immer ablesen, wie die Finanzen wirklich aussehen. Und wenn man rechtzeitig von Schulden in der Familie weiß, kann man sich Beratung suchen, bevor jemand stirbt und man neben der Trauer auch noch mit Angst konfrontiert wird.
Wenn zu der Trauer noch Bürokratie dazukommt und Gläubiger, die hoffen, doch noch an ihr ganzes Geld zu kommen, kann das eine toxische Mischung sein. Es braucht viel Kraft, um sich mit Anwält:innen, Gläubiger:innen und knappen Fristen auseinanderzusetzen. Der Fall zeigt aber auch: Es lohnt sich, sich zu wehren. Denn eigentlich bietet das Recht den Erb:innen Möglichkeiten, mit solchen Schulden umzugehen.
Ein Haus erben – und nicht davon profitieren
Tobi* hat zwar ein Drittel seines Elternhauses geerbt, muss aber monatlich Geld dafür bezahlen und wird es vielleicht nie nutzen können. Wir sprechen am Ende seines Arbeitstages. Tobi bleibt im Gespräch ruhig, einmal rechnet er mit dem Taschenrechner etwas nach.
Sein Vater starb überraschend, kurz nachdem er ein neues Auto bestellt und einen Urlaub gebucht hatte. Als Tobi davon erfuhr, arbeitete er erstmal ganz normal weiter. Das Verhältnis der beiden war schon lange schwierig gewesen. Als ich ihn frage, wie er seinen Vater beschreiben würde, sagt er: „Er war nicht sehr menschlich.“ Kühl sei er gewesen, faktenbezogen, sparsam. Nach der Trennung von Tobis Mutter heiratete er noch zweimal. Mit Tobi sprach er nie über sein Testament.
Nun erfuhren Tobi und seine Geschwister, dass Tobis letzte Stiefmutter Wohnrecht für das Haus hatte, in dem sie selbst aufgewachsen sind. Die Stiefmutter darf lebenslang und kostenlos in dem Haus wohnen bleiben, das drei ausgebaute Stockwerke hat. Seine Stiefmutter ist nur 17 Jahre älter als er selbst. Vielleicht wird er das Haus also nie wirklich nutzen können. Das Haus ist allerdings mit Bausparverträgen über 90.000 Euro belastet, für die die Geschwister jeden Monat 360 Euro zahlen müssen. Anwalt Mannheim sagt: „Das lebenslange Wohnrecht kann für Angehörige eine wirkliche Belastung darstellen.“ Er hat schon Fälle erlebt, in denen die Stiefmutter jünger als die Kinder waren.
Wirklich ungerecht finden, will Tobi die Situation allerdings nicht. Er sagt: „Das steht meiner Stiefmutter zu und sie hat ihr Recht in Anspruch genommen.“ Er und seine Geschwister entschieden sich, das Haus zu behalten, das wahrscheinlich zwischen 350.000 und 500.000 Euro wert ist. Wie viel man für ein Haus tatsächlich bekomme, zeige sich oft erst beim Verkauf, sagt Anwalt Mannheim. Hätten Tobi und seine Geschwister das Erbe ausgeschlagen, hätten sie das Haus nicht mehr betreten dürfen. Wahrscheinlich wäre es zwangsversteigert worden, darüber hätte seine Stiefmutter ihr Wohnrecht verlieren können. „Davon hätte ja niemand was gehabt“, sagt Tobi.
Nun teilen sie sich die 360 Euro im Monat zu dritt. Die Summe ist händelbar, alle drei Geschwister verdienen gut. In ein paar Jahren wollen sie die Verträge auflösen und sich jeder auf seine Weise um sein Drittel der 90.000 Euro Schulden kümmern. Seine ehemalige Stiefmutter trifft er höchstens, wenn er ihr zufällig in seinem Heimatdorf über den Weg läuft, er wohnt inzwischen 100 Kilometer entfernt.
Aber manchmal ärgert sich Tobi doch darüber, wie alles gelaufen ist. Besonders, als seine Beziehung im Sommer zu Ende gegangen ist. Er und seine Partnerin hatten auch ein Haus gekauft. „Ich besitze jetzt ein halbes Haus, ein Drittelhaus und muss trotzdem 900 Euro Miete im Monat für meine Zwei-Zimmer-Wohnung bezahlen.“
Wie oft kommt das vor?
Ungefähr die Hälfte aller Erbschaften beinhalten ein Haus, viele davon wurden mit einem Kredit finanziert. Manchmal ist der noch nicht abbezahlt oder das Haus mit neuen Krediten belastet. Dann erbt man nicht nur ein Haus, sondern auch noch Schulden dazu.
Es gibt keine Statistiken dazu, wie häufig jemand ein Wohnrecht oder sogenannten Nießbrauch, der ähnlich funktioniert, ins Grundbuch geschrieben bekommt. Diese Daten werden nicht zentral gesammelt. Will man in ein Grundbuch Einsicht erlangen, braucht man berechtigte Gründe dafür. Aber während meiner Recherche habe ich zahlreiche Geschichten darüber gehört, die zeigen: Dieses Vorgehen ist verbreitet. Auch Anwalt Mannheim sagt: „Es kommt häufig vor, dass ein Haus vererbt wird, an dem jemand den Nießbrauch oder Wohnrecht hat.“ Für manche Erb:innen kann das ärgerlich sein, die Wohnrechtprofiteur:innen dürfte es dagegen freuen.
Claudia hat erst nach dem Tod ihres Onkels erfahren, dass man geerbte Schulden ausschlagen kann. Hat man schusselige Angehörige oder wenig Kontakt zu nahen Verwandten, kann man schnell aus Versehen Schulden erben. Deshalb lohnt es sich, das Gespräch zu suchen. Denn über Geld sprechen, mag unbequem sein, erst nach dem Tod von Schulden oder Wohnrecht zu erfahren, ist es aber umso mehr.
Alle Namen wurden geändert, sind aber der Redaktion bekannt.
Nachtrag 17.7.2024: In einer vorherigen Fassung hieß es, Vincent hätte einen Erbschein unterschrieben. Richtig ist: Er hat einen Antrag für einen Erbschein unterschrieben. Wir haben das korrigiert.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Rebecca Kelber, Audioversion: Christian Melchert