Irgendwann zwischen dem 11.September 2001 und den Anschlägen von Paris muss es passiert sein: Deutschland bekam Angst vor dem Islam. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen seither charismatische salafistische Prediger, die Jugendliche radikalisieren und deren Einfluss stetig wächst. In Hamburg meint der Verfassungsschutz, verklausulierte Aufrufe zum bewaffneten Dschihad in den Reden eines Imams zu erkennen, in Berlin predigt einer, die Frau sei Eigentum des Mannes.
Kein Prediger beherrscht sein Handwerk aber so wie der deutsche Konvertit Pierre Vogel.
Er ist der salafistische Superstar, auf seiner Facebook-Seite wurde über einhunderttausend Mal „Gefällt mir“ geklickt. Die fundamentalistische Frohnatur aus dem Rheinland nahm den Islam 2001 an. Da hatte Vogel bereits eine Karriere als Profiboxer begonnen. Mit dem Boxen hörte er ein Jahr später auf. Seit 2006 ist er auf Mission, hält theologische Vorträge in ganz Deutschland und beantwortet in unzähligen Youtube-Videos jede erdenkliche Frage zum Islam:
Muss die Frau ein Kopftuch tragen?
Kann Ehrenmord islamisch sein?
Ist die Erfindung der Kaffeemaschine der Beweis, dass die islamische Lehre falsch ist?
Nie zuvor gab es so umfangreiches und leicht verfügbares Material zum Islam in deutscher Sprache. Wer sich hierzulande über die Religion informieren will, kommt an Vogels Propaganda nicht vorbei. Er ist bekannt als Salafist, weil er einen Islam wie zu Zeiten des Propheten Mohammed lehrt.
Nach jedem öffentlichen Auftritt fragt er: „Gibt es hier jemanden, der den Islam annehmen möchte?“ Mal melden sich drei, manchmal auch zwanzig.
Laut Verfassungsschutz ist der Salafismus hierzulande die am schnellsten wachsende islamistische Strömung.
Es gab Zeiten, da wurde Pierre Vogel sogar ins Fernsehen eingeladen. Als er einmal in Johannes B. Kerners Talkshow saß, wollte der Moderator wissen: „Was ist am Islam so besonders reizvoll, dass Sie ihr Leben komplett geändert haben?“ Vogel, langer roter Bart und islamische Gebetsmütze, sagt: „Ich glaube, dass der Islam der einzige Weg zu Gott und die einzige Rettung vor der Hölle ist.“ Da wird Kerner moralisch: Er selbst sei Katholik, für ihn sei es ein großes Glück, glauben zu können. Ein Glück sei für ihn aber auch, dass jeder glauben könne, was er wolle und dass nicht jeder glauben müsse. Kerner hat seinem Gast aber nicht zugehört. Beide meinen etwas grundverschiedenes, wenn sie vom Glauben sprechen.
https://www.youtube.com/watch?v=XR5sIpXOAYk
An dieser Szene lässt sich vieles ablesen: Johannes B. Kerner lebt gemeinsam mit den meisten Deutschen in einer Wirklichkeit, die bis in religiöse Institutionen hinein von der Aufklärung geprägt ist. Der Anspruch auf absolute Wahrheiten ist dahin, kaum einer fragt noch nach ihnen. Freiheit hat sich als zeitgemäßeres Gut erwiesen. Es ist auch die Freiheit zu wählen, was wahr ist. Richtig oder falsch gibt es vielleicht in der Mathematik, doch Lebensführung und Glauben scheinen lediglich Geschmackssache.
Deshalb nimmt Kerner an, Vogel habe sich den Islam als „besonders reizvoll“ ausgesucht, wie ein Herrensakko oder die Mitgliedschaft in einem Fitnessclub. Vogel aber folgt dem Islam, weil er sich wirklich ganz sicher ist: Allah ist der einzige Gott, der Koran ist Gottes Wort und der Prophet Mohammed sein Gesandter. Vogel kann nicht einfach alle Religionen gleich richtig finden. Und nie kann für ihn das Gesetz eines Staates über Gottes Gesetz stehen - es ist höchstens vereinbar. „Nach ihrer Auffassung komme ich also in die Hölle?“ fragt Kerner. Vogel antwortet sanft: „Ja, leider schon.“
Oft wird Vogel von den Medien als „Hassprediger“ bezeichnet; etwa weil er körperliche Strafen wie die Steinigung nicht prinzipiell ablehnt.
Oder kürzlich auch, weil er eine Hotline einrichtete, unter der speziell Jesiden zum Islam konvertieren sollten. Viele verstanden das als Hohn gegenüber der vom „Islamischen Staat“ verfolgten Minderheit. Dennoch: Das Prädikat Hassprediger trifft es nicht ganz. Nie hat er öffentlich zu Gewalt aufgerufen.
Und er distanziert sich von Terror im Namen des Islam.
Der Verfassungsschutz rechnet ihn dem politisch missionarischen Spektrum des Salafismus zu, nicht aber dem militanten.
Salafisten wie Vogel machen ein großes Versprechen: absolute Wahrheit, einziger Gott, ewiges Leben im Paradies. Mittels der Scharia - des islamischen Gesetzes, das natürlich auch Auslegungssache ist - beurteilen sie jede Handlung binär, sie ist entweder verboten oder erlaubt, haram oder halal. Die Menschen um einen herum sind entweder Brüder und Schwestern im Glauben oder Ungläubige, Kufar. Der strenge Glaube an einen fordernden Gott ist eine radikale Vereinfachung der Lebenswelt. Eine ungeheure kognitive Entlastung. Und ein Abenteuer. Es geht wieder um alles.
Einen westlich geprägten Menschen vom Salafismus zu überzeugen, heißt immer, ihn zu verwandeln. Die Identität eines Menschen ist kein Zustand, sondern ein lebenslanger Prozess. Ein Mensch kann sich ändern wie die gesellschaftlichen Umstände um ihn herum. Nur selten aber verwandelt er sich von Grund auf. Zu mächtig ist die Sozialisation, die durch Eltern, Lehrer und das frühe soziale Umfeld beginnt. Wenn es aber zu einer Verwandlung kommt, verliert das alte Leben plötzlich an Bedeutung, es scheint plötzlich sinnlos. Nun haben andere Menschen den prägenden Status einer Familie, der Prediger, die Gemeinde. Sie sind die neuen Eltern, die neuen Brüder und Schwestern.
Der salafistische Missionar findet im potenziellen Konvertiten - anders als die Eltern beim Kleinkind - bereits eine ausgeprägte subjektive Wirklichkeit vor. Lebenskonzepte, Werte, Erfahrungen. Um zu überzeugen muss er auf diese direkt eingehen; das heißt Annahmen widerlegen, Wertvorstellungen erschüttern, Widerstände überwinden. Schließlich eine neue Perspektive aufzeigen. Pierre Vogel kann nicht einfach nur seinen Glauben predigen. Er muss alle alternativen Lebensmodelle argumentativ eliminieren.
Deshalb hat Vogel eine Reihe von Strategien entwickelt, die im Gespräch mit Andersgläubigen hilfreich sind.
Wie überzeuge ich Christen?
Atheisten?
Zeugen Jehovas?
Er kennt ihre theologischen Standardargumente und theologischen Schwachpunkte genau. In Youtube-Videos, die Gleichgesinnten als Missionsratgeber dienen, nimmt er sie systematisch auseinander.
Auch seine Reden haben oft diese Struktur: Vogel elaboriert Positionen der Gegenseite, auch die von anderen muslimischen Strömungen; er erforscht ihre Argumente, und versucht sie ad absurdum zu führen. Dekonstruktion. In einem nächsten Schritt baut er seine spezifische Auslegung des Islam zur einzig plausiblen auf.
Ein Beispiel :
Die Atheisten sagen, der Sinn ihres Lebens sei Glücklichsein? Auch Moslems wollen glücklich sein, sagt Vogel, und der Islam hilft ihnen dabei. Denn was auch immer den Menschen glücklich mache, es könne sich verändern und verschwinden. Die Kinder werden groß, der Tennisarm gebrechlich, geliebte Menschen sterben. Fazit: Ohne einen übergeordneten, transzendentalen Sinn - nämlich Gott! - sind wir verloren. Vogel legt seinen Finger in die Wunde des postmodernen Menschen.
Sie zweifeln an Gott, weil es Krieg, Krankheiten und Unfälle gibt? Vogel sagt: Das ist kein Argument gegen die Existenz Gottes, sondern zeugt von einem falschen Gottesbild. Unabhängig von dem, was man sich wünsche oder denke, das Gott sei, habe Gott alles aus einer Weisheit heraus erschaffen. Es müsse das Schlechte geben, damit man das Gute überhaupt erkennen könne. Nicht in diesem Leben sind uns Gerechtigkeit und Gnade versprochen. Erst am Jüngsten Tag.
Wissenschaft und Christentum, zwei Wahrheitsmaßstäbe unseres Kulturraums, ordnet er seinem Islam systematisch unter. Doch er verlangt vom Zuhörer nicht gleich, sie über Bord zu werfen. Er würde damit bloß eine weltanschauliche Barriere zwischen sich und dem potenziellen Konvertiten errichten. Stattdessen geht er auf die beiden Kräfte ein, versucht sie zu würdigen, ihre Aussagekraft aber ein Stück weit zu relativieren. Die dort gewonnenen Erkenntnisse seien ernst zu nehmen, jedoch zu aktualisieren und in ein übergeordnetes Narrativ einzuordnen - den Islam. Überdies erklärt er den Islam zur Religion der Vernunft, da der Koran bereits viele wissenschaftliche Erkenntnisse vorweg nehme.
Vogels Islam wird so zu einem weltanschaulichen Gefäß, in das alle anderen Sinnwelten hineinpassen. Im Fall des Christentums plausibilisiert er dies etwa, indem er auf die Bedeutung des Wortes „Moslem“ verweist. Dies sei das arabische Wort für „Gott ergeben sein“, ein Moslem sei somit jemand, der Gott ergeben ist. Er folgert, dass alle biblischen Propheten - inklusive Jesus Christus - Moslems waren, da sie dem einen einzigen, dem monotheistischen Gott dienten.
Mohammed habe somit keine neue Lehre verbreitet, sondern lediglich eine alte göttliche Offenbarung von Missverständnissen bereinigt und ergänzt. Ein Christ, der den Islam annimmt, würde also seinen Glauben nicht fundamental ändern. Vielmehr sei es, „als würde er einen nicht ganz perfekt passenden Anzug von einem Schneider anpassen lassen“, sagt Vogel.
Vogel ist rhetorischer Hochleistungssportler, der unter dem weltanschaulichen Druck einer anders denkenden Mehrheit diszipliniert trainiert hat. Er studierte den Koran unter anderem in Mekka und zitiert Suren bei jeder Gelegenheit auswendig, auf Arabisch und Deutsch. Wenn ihm etwa wieder einer vorwirft, der Islam sei blutrünstig - Steinigungen, Peitschenhiebe, Hand abhacken - dann zitiert er die brutalsten Stellen der Bibel.
Man könnte unzählige Beispiele finden, die immer dem gleichen Muster folgen. Vogels Rhetorik ist eine Widerlegungs- und Abgrenzungsperformance gegenüber allen Seiten. Dabei agiert er aber nicht als Gegenspieler, sondern als wohlmeinender Ratgeber, der niemandem etwas wegnehmen, sondern Menschen auf den rechten Pfad führen möchte. Der Name seines mittlerweile aufgelösten Missionsvereins spiegelte diese rhetorische Haltung. Er hieß „Einladung zum Paradies“.
Jugendliche bekommen vor allem durch die Youtube-Videos Zugang zur salafistischen Weltanschauung. Darin werden religiöse Fragen im Sinne des Salafismus behandelt. Die sehr spezifischen theologischen Auffassungen werden dabei bewusst neutral als „Informationen“ bezeichnet. Damit wird beim Zuschauer das Missverständnis provoziert, es handele sich nicht um Auslegung und Interpretation von Textstellen, sondern um definitives Wissen über „den“ Islam. Durch Kritik an der Gesellschaft bekommt der Salafismus den Appeal des Subversiven, einer Jugendbewegung und Protestkultur.
Vogel bietet seinen Zuhörern die Möglichkeit, seinen Aussagen - egal von welchem Standpunkt aus - zumindest zum Teil zuzustimmen. Wenn sie ihm inhaltlich schon gefolgt sind, die eigene Weltsicht aufgehoben sehen, gar das Gefühl haben: der denkt wie ich, sagt es nur besser - dann hören sie weiter zu. Überzeugen lassen sich die Suchenden, die Strauchelnden und jene, die schon immer zum Extrem neigten.
Das Leben eines Menschen krempelt man natürlich nicht einfach durch plausible Argumentationsketten um. Auf lange Sicht ist für den Übertritt in die neue Wirklichkeit aber nicht das Konversionserlebnis entscheidend, sondern der Kontakt zur gleichgesinnten Gruppe.
Die Anfeindungen von außen helfen, die Gruppe in ihrer Identität zu bestärken. Umso mehr, wenn die Vorwürfe ungerechtfertigt sind. Jedes Mal, wenn wieder einer „Hassprediger“ schreibt, kann Pierre Vogel ein Video hochladen, in dem er sagt: Zeigt mir, wo ich Hass gepredigt habe, gebt mir nur einen einzigen Beweis! Und wiedermal hat er seinen Anhängern vorgeführt, dass „die Medien“ lügen. Dass hierzulande längst ein Krieg der Religionen herrscht, in dem systematisch gegen Muslime gehetzt wird. Vor allem gegen jene, die den puren, den wahren, den salafistischen Islam predigen.
Auf der ganzen Welt gibt es religiöse Gemeinschaften, die sich im Besitz einer exklusiven, absoluten Wahrheit wähnen. Sie schwören jeweils, diese Wahrheit sei durch ihre Erfahrung gedeckt. Gott wirkt anscheinend Wunder, so verschieden man ihn auch erzählt. Ein Problem der Zuschreibung: Wer in der salafistischen Gemeinde ein profundes religiöses Erlebnis hat, wird den Salafismus für die absolute Wahrheit halten. Für die Menschen aus seinem alten Leben ist er weltanschaulich verloren.
Pierre Vogels ermöglicht ein solches Erlebnis, indem der die Menschen rhetorisch dafür öffnet. Seine Botschaft ist: Probiert es einfach aus. Sprecht ein Bittgebet, kommt in die Moschee. Ich nenne euch gute Gründe, wenn ihr die braucht. Lasst Allah in euer Leben, ihr werdet sehen.