Gary Stevenson kommt aus einer armen Familie in London und wurde einer der jüngsten und erfolgreichsten Trader der Citibank. Als Wertpapierhändler an der Börse wettete er darauf, dass die Wirtschaft zusammenbrechen würde und verdiente damit Millionen.
Dann stieg er aus. Seit über zehn Jahren engagiert er sich gegen die steigende Ungleichheit. In seinem Buch „Das Milliardenspiel“, erschienen im Ariston Verlag, schildert er seine Jahre auf dem Trading Floor. Er liefert dort Einblicke in eine Welt, die die wenigsten kennen.
Ich habe mit ihm gesprochen, weil ich verstehen wollte, wie er so erfolgreich wurde und warum er auch heute noch auf den Kollaps der Wirtschaft wettet.
Sie waren sowohl an der Uni als auch in der Bank von Menschen umgeben, die mit viel mehr Geld aufgewachsen sind als Sie. Wann haben Sie gemerkt, dass für Sie andere Regeln gelten als für Ihre Kommiliton:innen?
Wenn man so aufwächst wie ich, erwartet man, dass gewisse Türen verschlossen bleiben. Aber einer Lüge habe ich trotzdem lange geglaubt: dass es reicht, intelligent zu sein und sich anzustrengen, um einen guten Job zu bekommen.
Als im zweiten Jahr meine Kommilitonen auf einmal im Anzug rumliefen, kaum in die Vorlesungen gingen und sich stattdessen für Praktika bewarben, habe ich gemerkt, dass das nicht stimmt. Denn um eine Stelle als Trader bei einer großen Bank zu bekommen, muss man im zweiten Studienjahr ein Praktikum machen. Das hatte ich nicht gewusst. Und zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch keine Noten bekommen, meine Leistung hat mir also nichts gebracht.
Ich habe pragmatisch reagiert und mir gesagt: Okay, Plan A, über Noten reinzukommen, funktioniert nicht. Was ist Plan B?
Dann haben sie über einen Wettbewerb einen Praktikumsplatz bei der Citibank bekommen und später einen Job. Entsprach die Welt des Tradings Ihren Erwartungen?
Ja und nein. Ich hatte eine wettbewerbsorientierte, männlich dominierte Umgebung erwartet und so war sie auch. Aber ich hatte gehofft, dass sie intellektueller sein würde.
Wie meinen Sie das?
Ich war 21, als ich anfing bei der Citibank zu arbeiten. 2008 war das, also mitten in der Finanzkrise. Damals machte mein Team viel Geld. Aber wir haben kaum die Ursachen oder die Auswirkungen der Krise diskutiert, außer wie es unsere finanziellen Gewinne und Verluste beeinflusste. Gerade die älteren Trader hatten kein Interesse daran.
Jahrelang dachten alle, die Wirtschaft würde sich nach der Finanzkrise schnell wieder erholen. Aber all diese Vorhersagen waren falsch. Dort sitzen also einige der bestbezahlten Ökonomen und haben nicht viel Interesse daran zu verstehen, wieso das so ist.
Sie haben ab 2011 als einer von wenigen darauf gewettet, dass sich die Wirtschaft nicht schnell erholen würde und wurden so zu einem der erfolgreichsten Trader der Bank.
Mein Vorteil war eine bessere Verbindung zur Realität, weil ich aus einem ärmeren Umfeld stamme und dadurch eine klarere Sicht darauf habe, wie es den meisten Menschen tatsächlich geht. So war mir klar: Das Geld kommt bei ihnen nicht an. Und solange die Mehrheit nicht konsumieren kann, kann es keinen Aufschwung geben.
Wurde Ihnen in dieser Zeit klar, dass Ungleichheit ein großes Problem ist?
Ja. Ich habe versucht herauszufinden, was wir bei unseren Prognosen übersehen. Als ich Vermögensungleichheit mit einbezog, konnte ich korrekte Vorhersagen treffen. Nur deshalb konnte ich so erfolgreich werden.
Sie warnen einerseits vor der steigenden Ungleichheit und wetten andererseits bis heute auf den Kollaps der Wirtschaft. Ist das nicht widersprüchlich?
Das Wetten ist ein Teil davon, wie ich die Wirtschaft verstehe. Deshalb kann ich gute Vorhersagen treffen: Weil ich beim Wetten die ganze Zeit gegen die Besten auf dem Markt antrete und versuche, sie zu schlagen. Das lässt mich meine Meinung gründlicher durchdenken.
Viele in Deutschland würden sagen, es sei unmoralisch, Geld mit etwas Schlechtem zu verdienen, wie zum Beispiel darauf zu wetten, dass die Wirtschaft zusammenbricht. Können Sie dieses Argument verstehen?
Ja, ich kann es verstehen. Ich denke persönlich, dass es unmoralisch wäre, ließe ich den Kollaps der Wirtschaft einfach so geschehen. Ich stehe jeden Tag auf und versuche, ihn aufzuhalten. Andere können ihre eigenen Urteile fällen, können mit dem Finger auf mich zeigen.
Was mögen Sie denn so am Traden?
Die besten Ökonomen, die ich kenne, sind Trader. Und zwar nicht, weil sie von Haus aus Genies sind. Aber es ist der einzige Ort, den ich kenne, an dem die Menschen wirklich versuchen zu verstehen, was passiert. Denn davon hängt für die Trader ab, wie erfolgreich sie sind. Das ist in anderen Branchen nicht so. Anderswo versucht man, eine Geschichte zu spinnen.
Ökonom und Aktivist Gary Stevenson wählt gerne drastische Worte. © privat
Wie meinen Sie das?
Ich habe beispielsweise 2020, zu Beginn der Pandemie, einen Artikel im Guardian geschrieben, in dem ich eine Inflationskrise vorhergesagt habe. Ich hatte Recht. Gleichzeitig erschienen dort andere Artikel mit komplett falschen Prognosen. Was stimmte, interessierte im Nachhinein niemanden. Es gibt keinen Mechanismus, mit dem wir den Leuten mehr Sendezeit einräumen, die Recht haben.
Obwohl Sie das Traden so mochten, hatten Sie irgendwann eine psychische Krise und haben die Finanzwelt verlassen. Warum?
Ich könnte jetzt einfach sagen, ich habe auf den Zusammenbruch unserer Gesellschaft und Wirtschaft gewettet und es machte mich unglücklich, nichts gegen diesen Zusammenbruch zu tun. Das war sicherlich ein Teil davon, aber es ging tiefer.
Ich bin in einem armen Umfeld in London aufgewachsen. Ich dachte, meine Aufgabe sei es, der Beste zu sein, Geld zu verdienen. Diesem Ziel hatte ich mein Leben gewidmet. Als ich dann erfolgreich und reich war, war ich trotzdem unglücklich. Das löste eine Sinnkrise bei mir aus.
Heute kämpfen Sie als Aktivist gegen Ungleichheit und sagen, die Wirtschaft bricht seit Jahren immer weiter zusammen. Ist das nicht etwas drastisch? Die hohe Arbeitslosigkeit ist beispielsweise seit der Staatsschuldenkrise deutlich zurückgegangen.
Ich denke, dass es veraltet ist, die Wirtschaft nur anhand der Arbeitslosenquote zu bewerten. Hohe Arbeitslosigkeit ist in gewisser Weise ein Luxus. Indien hat beispielsweise eine niedrige Arbeitslosigkeit. In Großbritannien wurden die Arbeitslosenunterstützungen so drastisch gekürzt, dass man stirbt, wenn man lange genug arbeitslos ist. Das heißt ich spreche mit Ihnen aus einem Land, in dem es sich im Winter viele Haushalte nicht leisten können, ihre Kinder zu ernähren und gleichzeitig die Heizung anzumachen. Das klingt für mich nach einem Zusammenbruch der Wirtschaft.
Wir haben gelernt, einen wirtschaftlichen Zusammenbruch auf eine bestimmte Art zu sehen. Als sei es kein Zusammenbruch, solange die Aktienkurse steigen. Mir ist egal, was mit dem Aktienmarkt passiert. Ich möchte, dass Menschen ihre Kinder ernähren können.
Wir messen also falsch, wie es der Wirtschaft geht?
Manchmal können Ökonomen unglaublich engstirnig sein. Ist BIP-Wachstum gut? Ja. Ist Arbeitslosigkeit schlecht? Klar.
Kann eine Wirtschaft schnell wachsen und eine niedrige Arbeitslosenquote haben, während die meisten Menschen kaum ihre Familien ernähren können? Ja. Das ist, als ob man zum Arzt geht, weil jemand deinen Arm abgehackt hat, der aber misst deine Temperatur und sagt, sie sei in Ordnung, also geh nach Hause. Wir müssen unsere Wirtschaft ganzheitlicher betrachten.
Und was könnte man Ihrer Meinung nach gegen diese Krise tun?
Wenn du sehr reich bist, eine Milliarde Euro hast, verdienst du jährlich durch passives Einkommen 50 Millionen Euro. Das sind eine Million Euro pro Woche, nur durch die Kraft des Zinseszinses. Wenn dagegen nichts unternommen wird, wird das Geld dieser Leute sehr schnell die Mittelschicht auffressen. Das ist offensichtlich. Deshalb müssen wir Reiche deutlich höher besteuern.
Sie glauben also, Sie können eine Mehrheit überzeugen, dass Ungleichheit ein so großes Problem ist, dass die Regierung tatsächlich die Reichen besteuern wird?
Ich würde nicht darauf wetten. Aber die Menschen werden zunehmend politische und wirtschaftliche Veränderungen fordern. Der Ökonom Milton Friedman sagte: In Krisenzeiten werden die Lösungen aus den Ideen gewählt, die gerade verfügbar sind.
Aktuell ist das Argument von den lautesten Stimmen im Raum, dass Ausländer der Grund für den fallenden Lebensstandard seien.
Mein Argument ist: Um den fallenden Lebensstandard zu stoppen, müssen wir die Reichen viel mehr und die arbeitenden Menschen viel weniger besteuern.
Momentan sieht es so aus, als würden die lauten Stimmen die Debatte gewinnen. Aber ich würde diese Arbeit nicht machen, wenn ich nicht glaube, dass wir eine Chance haben.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie Ihre Eltern um Miete betrogen haben. Oder wie Sie Kollegen nicht unterstützt haben, die Ihnen zuvor geholfen hatten. Wie soll man Ihr Engagement gegen Ungleichheit ernst nehmen, wenn Sie lange Zeit zuerst an sich selbst gedacht haben?
Ich stelle mein Argument nicht auf der Basis auf, dass ich ein netter Kerl bin. Ich bin kein Mahatma Gandhi, keine Mutter Teresa. Ich bin ein verdammt guter Ökonom und sage, wenn die deutsche und die britische Regierung die Ungleichheit nicht verringern, werden diese Länder in Armut abrutschen. Die Menschen in Großbritannien und Deutschland werden ihre Entscheidung treffen. Ich mache das nicht für mich. Ich werde so oder so reich sein.
Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger