Manche Skandale sind so allgegenwärtig, dass sie sich leicht vergessen lassen.
Überall in Deutschland arbeiten Männer und Frauen für weniger als den Mindestlohn, viele Stunden am Tag, teilweise sechs Tage die Woche. Sie pflegen Rentner:innen in deren Wohnung, zerlegen Fleischstücke in Fabriken oder schuften auf dem Bau. Oft kommen sie aus Osteuropa, aus Rumänien, Bulgarien oder Georgien. Damit halten sie unsere Gesellschaft am Laufen. Und doch hören wir viel zu selten von ihnen.
Diesen Buchauszug hat Rebecca Kelber ausgewählt
Sie schreibt bei Krautreporter über faire Wirtschaft – und beschäftigt sich seit Jahren immer wieder mit der Ausbeutung durch das Sub-Sub-Subunternehmertum.
Auf dem Bau hat sich der Anteil der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ausländer in den vergangenen Jahren fast verdreifacht: von acht Prozent im Jahr 2010 auf 23 Prozent 2022. Oft werden sie systematisch um ihr Geld betrogen. So war es beim rumänischen Maurer Fabiu – einem von vielen Arbeiter:innen, die der Journalist Sascha Lübbe für sein Buch „Ganz unten im System“ getroffen hat.
Fabiu ist ein robuster Mann in blauem T-Shirt, beigen Shorts und Badeschlappen. Die Haut leicht gerötet, die Augen hell und klar, die Stimme belegt und kratzig. Ein sperriger Typ. Freundlich, aber auf der Hut. Wie ein Boxer, der vor dem Kampf erstmal sein Gegenüber auscheckt.
Seit neun Jahren arbeitet er als Maurer auf deutschen Baustellen. Betoniert Fundamente, zieht Wände hoch. Harte, am Körper zehrende Arbeit. Sechs Tage die Woche macht er das, bis zu zehn Stunden am Tag. Fragt man ihn, warum er sich das antut, sagt er knapp: „Ich geh fürs Geld.“ Und doch, man muss nicht lange bohren, da sprudelt es aus ihm heraus, wie er auf die eine oder andere Art in Deutschland betrogen wird. Die Dinge, die er erzählt, hört man auch von seinen Kollegen. Die Details, Geldsummen und Stundenzahlen variieren, die Strukturen dahinter sind gleich.
So funktioniert der Betrug um den Lohn
Da ist zunächst die Sache mit dem Lohn: 2.500 Euro verdient Fabiu durchschnittlich im Monat. Etwas über die Hälfte ist auf Lohnzetteln vermerkt und fließt auf sein Konto; den Rest kriegt er schwarz ausgezahlt. Einmal im Monat ruft der Chef seine Mitarbeiter zu sich ins Büro, einen nach dem anderen, drückt jedem einen Umschlag mit Bargeld in die Hand. Für ihn, den Chef, bedeutet das: weniger Steuern und Sozialabgaben. Für Arbeiter wie Fabiu: anteilig weniger Rente, weniger Geld im Krankheitsfall, weniger bezahlten Urlaub. Wobei Fabiu das mit der Rente verkraften kann, zumindest sagt er das. Er ist 47. Denkt nicht an die Zukunft, es geht ihm um das Jetzt, das schnelle Geld. Und auch den geringeren Urlaubsanspruch sieht er relativ. „Bezahlten Urlaub“, sagt er, „habe ich sowieso noch nie bekommen.“
Es ist die zweite große Betrugsmasche auf dem Bau. Eigentlich hat jeder Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlte Urlaubstage. Geregelt ist das über die Sozialkassen der Bauwirtschaft, die sogenannte Soka-Bau. Sie sammelt von jedem Arbeitgeber Geld ein, verwaltet es treuhänderisch, zahlt es also, sobald ein Arbeiter Urlaub nimmt, wieder aus. Soweit die Theorie. In der Praxis holen sich viele Arbeitgeber das Geld von der Soka-Bau, geben dann aber Urlaubstage für ihre Arbeiter an, die diese nie genommen haben. Mit anderen Worten: Sie zahlen deren regulären Lohn mit dem Geld aus. Wenn die Männer tatsächlich in den Urlaub gehen, gehen sie leer aus. So war es auch bei Fabiu. Sieben Urlaubstage, die er nie genommen hat, tauchten dieses Jahr bereits auf einem Lohnzettel auf. In den neun Jahren, die Fabiu in Deutschland arbeitet, hat er 20-mal die Firma gewechselt. Immer lief etwas schief. Einige Chefs meldeten ihn nicht bei der Krankenkasse an. Fabiu erfuhr erst später davon, die Krankenkasse schrieb ihm einen Brief. In Deutschland ist jeder Mensch krankenversicherungspflichtig. Jetzt wollte die Kasse ihr Geld. 4.000 Euro.
In Rumänien würde Fabiu trotzdem weniger verdienen
Sein letzter Chef, sagt Fabiu, war ein echter Tyrann. Einer, der seine Arbeiter ständig hetzt. Letztes Jahr im Herbst hatte Fabiu genug. Ging einfach heim, tauchte nicht wieder auf. Sein Chef behauptete daraufhin, Fabiu habe Arbeitsgeräte beschädigt, und weigerte sich, den ausstehenden Lohn zu zahlen. 1.700 Euro. Fabiu wartet darauf, immer noch. Und dann sind da noch die Neuen auf den Baustellen. Junge Rumänen, ungelernt, nicht selten vom Land. „Keine Ahnung von nichts“, sagt Fabiu. Sie würden den ganzen Tag nur rumstehen, mit dem Handy spielen. Erfahrene Arbeiter wie er müssten sie in die Arbeit einweisen, eine wirkliche Ausbildung gebe es nicht. Und dafür bekomme er dann nur ein bis zwei Euro pro Stunde mehr als sie.
Und doch gibt es einen Grund, warum Fabiu weiterhin in Deutschland bleibt: In seiner Heimat würde er deutlich weniger verdienen, 1.500 Euro pro Monat mindestens. Fabiu kommt aus einem Dorf im Nordosten Rumäniens, einer der ärmsten Regionen des Landes. Die demokratische Wende von 1989 warf seine Familie aus der Bahn. Eine „hässliche Zeit“, sagt Fabiu. Sein Vater, Verwalter bei einer sozialistischen Genossenschaft, verlor seinen Job, schlug sich fortan als Klempner durch. Seine Mutter, Vizebürgermeisterin im Dorf, wurde Bibliothekarin. Es war ein Abstieg. Für die Familie und die Menschen um sie herum. Allein in der rumänischen Industrie brach die Hälfte der Arbeitsplätze weg. Anfang der Neunzigerjahre setzte der erste große Exodus ein. Viele Rumänen, vor allem Männer, gingen zum Arbeiten nach Israel, in die Türkei, andere bauten Ölförderanlagen im Irak. Später zog es die meisten nach Westeuropa, vor allem nach Italien und Spanien.
In Deutschland besteht Fabius Leben vor allem aus Arbeit
Fabiu, gelernter Maurer und schon damals von robuster Natur, hielt es länger aus. Schlug sich mit Gelegenheitsjobs auf dem Bau durch, die meisten schwarz bezahlt. 2013 war auch seine Geduld am Ende. Die Finanzkrise hatte Rumänien schwer gezeichnet, auch Fabiu fand keine Arbeit mehr. Ein Vermittler schlug vor, ihn für 100 Euro nach Deutschland zu bringen. Er sagte ja.
Sein Leben seitdem: Um fünf Uhr aufstehen, Kaffee trinken, den Rucksack packen, mit seinen Kollegen in einem Kleinbus zur Baustelle fahren. Arbeiten. Nach Feierabend nochmal kurz zu Penny, Brötchen für den nächsten Tag schmieren, duschen, halb zehn ins Bett. In Rumänien, sagt Fabiu, habe er gerne Billard gespielt. Hier fehle ihm die Zeit und Energie dafür. Es ist ein kräftezehrendes Leben. Fremd, mitten in Deutschland und doch isoliert. Über die Deutschen sagt Fabiu: „Ich komme mit denen in Berührung. Aber ich trinke kein Bier mit ihnen.“ Der einzige Deutsche, den er regelmäßig sieht, ist der Polier auf der Baustelle. Fabiu kann seinen Namen nicht aussprechen. „Irgendwas wie Puschkin“, sagt er, „der Schnaps“. Wenn „Puschkin“ auf die Baustelle kommt, sagt Fabiu, läuft er rum, macht Fotos mit dem Handy, gibt den Arbeitern Anweisungen. In seinen Erzählungen klingt der Mann wie ein Großgrundbesitzer. Also geht Fabiu ihm möglichst aus dem Weg.
Er verbringt seine Zeit lieber mit anderen Rumänen. Den zwei Männern in seinem Zimmer zum Beispiel. Sie kommen aus derselben Gegend wie er, arbeiten hier für dieselbe Firma. Sie kochen gemeinsam, essen gemeinsam, kaufen gemeinsam ein. Es ist einer der Gründe, warum Fabiu 330 Euro für das Bett in diesem schäbigen Zimmer zahlt. Eine Einraumwohnung in der Innenstadt würde ihn mindestens 600 kosten. Und er wäre dann allein. Hier hingegen hat er ein Netzwerk. Hat Freunde, Kollegen. Und einen Treffpunkt, zu dem er gehen kann, wenn es einmal ganz schlecht läuft und er einen neuen Job braucht: die „Kneipe“. Die „Kneipe“, das ist eine Holzbaracke am Kopf des Areals. Ein kleiner Laden. Wodka- und Bierflaschen stehen im Regal hinter der Theke, es gibt Toilettenpapier, Wurst, Käse und Konservendosen. Direkt vor dem Laden steht eine Bierbank, der Kneipenbereich. Inzwischen ist es Sonntag, für die meisten Männer der einzige freie Tag. Sie sitzen auf den Balkonen, telefonieren mit ihren Frauen. Andere laufen mit Angelrouten in der Hand über das Areal, sie kommen gerade vom Main. Wieder andere waren Pilze sammeln im Park. Es ist später Nachmittag. Aus einer Boombox schallt rumänischer Pop. Die Box gehört einem betrunkenen Mann Mitte 40; er sitzt auf der Bank vor dem Laden, singt hin und wieder laut mit.
Fabius Familie lebt in Rumänien – er in Deutschland
Fabiu sitzt mit zwei anderen Männern ein paar Meter weiter, an einem großen Tisch, vor ihnen leere Bierflaschen. Fabiu nippt an einer kleinen Flasche Korn. Er trägt dasselbe blaue T-Shirt wie gestern. Sein Blick ist glasig, die Stimme belegt. Er erzählt von seinen Kindern. Sein Sohn ist 16, die Tochter 15 Jahre alt. Sie sollen es einmal besser haben als er, sagt er. Sollen studieren, sich ein Leben in Rumänien aufbauen, nicht hier. 1.500 Euro schickt er jeden Monat nach Hause. Ein Teil davon ist für ihr Internat und Taschengeld. Der andere Teil ist für seine Frau. Sie stammt aus derselben Region wie er, aber aus einem anderen Dorf. Sie haben sich im Internet kennengelernt, anfangs viel gechattet, später zog sie zu ihm. Sie ist im Dorf geblieben, arbeitet als Verkäuferin in einem Kiosk. 300 Euro verdiene sie pro Monat, sagt Fabiu. Wenig, selbst für rumänische Verhältnisse. Sie telefonieren täglich. Sehen sich, wenn Fabiu die Familie zweimal im Jahr besuchen kommt, zu Weihnachten und im Sommer. Jeweils einen Monat bleibt er dann. Wie seine Frau das findet, sie in Rumänien und er hier? Nicht gut, sagt Fabiu. Aber sie könne es verstehen. „Eine gute Frau“, sagt er. „Herz am selben Fleck wie ich.“
Dann erzählt er von den Prostituierten, zu denen er hier in Deutschland manchmal geht. 100 Euro zahle er für eine Stunde, 150 Euro für zwei, wenn es ihm gelinge, die Frau runterzuhandeln. Wer die Frau ist, sei ihm egal. Ob seine Frau davon weiß? „Sie kann es sich denken“, sagt er. Und dann: „Wenn sie mit anderen Männern fremdgeht, könnte ich es auch verstehen.“ Er lebt in einer Welt, in der Treue nicht viel zählt. Und die Familie dennoch alles ist. Fabiu gehört zu den Männern, die diese Welt mit einem „ist so“ akzeptieren. Und doch schwingt da Liebe mit, wenn er von seiner Frau erzählt; davon, wie sie sich um die Kinder kümmert, wie sie ihrem Hobby nachgeht: traditionelle Trachten nähen. Da ist Stolz, wenn er von Gebäuden erzählt, die er mitgebaut hat und die er für gelungen hält. Da ist Wärme, wenn er von dem einzigen Deutschen spricht, der ihn kurz in sein Leben ließ. Ein Polier, fünf Jahre ist es her. Der Mann holte ihn und die anderen rumänischen Arbeiter morgens immer mit dem Auto ab. Als Fabius Tochter Geburtstag hatte, lud er den Mann auf einen Kaffee ein. Das hatte der noch nicht erlebt. Die beiden freundeten sich an. Dann aber wurde der Mann auf eine andere Baustelle versetzt, der Kontakt brach ab. Den Namen des Mannes möchte Fabiu ohne dessen Einwilligung nicht nennen, nicht einmal den Vornamen. Aus Respekt.
Gibt es zu wenig zu tun, kommt es manchmal zu Schlägereien
Vor der Kneipe wird es plötzlich laut. Eine Flasche zerbricht. Der Betrunkene mit der Boombox ist wankend aufgestanden. Vor ihm steht ein anderer Mann, schwarzes T-Shirt, größer, kräftiger als er. Er schreit den Betrunkenen an, dann schlägt er zu. Der Betrunkene geht zu Boden. Der Mann im schwarzen Shirt dreht sich um, kommt auf Fabius Tisch zugelaufen; schwer schnaufend, das Gesicht hochrot, auch er ist sturzbetrunken. In einer fließenden Bewegung greift er zwei Bierflaschen vom Tisch, schlägt sie routiniert gegeneinander, geht mit dem abgebrochenen Flaschenhals wieder auf den anderen Mann los. Die umstehenden Arbeiter gehen dazwischen, es gelingt ihnen, die beiden auseinanderzudrängen. Fabiu beobachtet die Szene gelassen. Auseinandersetzungen wie diese seien die Ausnahme, sagt er. In der Regel seien die Männer von der Arbeit zu erschöpft, um aufeinander loszugehen. In den letzten Tagen aber habe es viel geregnet, einige Männer mussten zeitweilig zu Hause bleiben. „Zu viel Energie“, sagt Fabiu.
Sascha Lübbe. Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern., Hirzel Verlag erschienen am 14. Mai 2024, 22 Euro Hirzel Verlag
Es ist inzwischen spät geworden. Fabiu will los. Die Waschmaschine im Heim ist kaputtgegangen, er muss zum Waschsalon in die Innenstadt. Sein einziger Termin an diesem Tag. Er geht in sein Zimmer, stopft Jeans, T-Shirts und Unterwäsche in eine Plastetüte. Dann verlässt er das Areal. Dabei passiert er einen silbernen BMW, der vor der Einfahrt parkt. Ein junger Mann lehnt neben dem Auto, steckt den Kopf hinein. Spricht mit dem Mann hinterm Steuer. Anfang 50 ist der, hat kurzes, graues Haar. Fabiu kennt ihn, sie alle hier kennen ihn. Es ist einer der Männer, die junge Arbeiter, frisch in Deutschland und noch ohne Job, mit Firmenchefs in Kontakt bringen. Ein Vermittler. Fabiu denkt nach. „Eigentlich wollte ich nicht lange in Deutschland bleiben“, sagt er, als er später in einem Imbiss neben dem Waschsalon sitzt. „Aber dann kam eins zum anderen.“ Letztes Jahr hatte er einen Job in Rumänien. Zusammen mit zwei Kollegen hat er zwei Häuser gebaut. 7.000 Euro bekam er dafür, arbeitete allerdings auch zwölf Stunden am Tag. Gäbe es diese Aufträge häufiger, sagt Fabiu, würde er nach Rumänien zurückgehen, „gleich morgen“. Es gebe hier nichts, das ihn hält.
Dann kramt er sein Handy aus der Hosentasche, zeigt Bilder von einem alten Bauernhaus. Er hat es vor ein paar Jahren gekauft, bei sich im Dorf, jetzt lässt er es ausbauen. Später möchte er mit seiner Frau darin leben. Es ist sein Traum. Ob er die Arbeiter richtig bezahlt? Fabiu zögert einen Moment. „Nicht immer.“ Er hat in Deutschland so viele Arten gesehen, andere abzuzocken. Wenn er in der Heimat ist, probiert er es auch.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger