Das Bild zeigt einen Schaffner vor einem vollen Zug mit einer Trillerpfeife im Mund.

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Geld und Wirtschaft

Protokoll: „Würden wir uns an die Regeln halten, kämen die Züge noch später”

Alle beschweren sich über die Deutsche Bahn. Aber wie ist es, bei ihr zu arbeiten? Ein Schaffner, eine Lokführerin und ein Fahrdienstleiter erzählen von unsinnigen Regeln und nervigen Fahrgästen.

Profilbild von Rebecca Kelber
Reporterin für eine faire Wirtschaft

Der Schaffner: „Manchmal schaffen wir es nicht, alle Tickets zu kontrollieren“

Tim,* 22 Jahre alt, Zugbegleiter, seit 2022 bei der Deutschen Bahn

Ich fahre in meinen Schichten von Berlin aus durch ganz Deutschland, bis nach München oder Erfurt – und dann wieder zurück. Als Schaffner ist die Fahrkartenkontrolle nur eine von vielen Aufgaben: Ich helfe Fahrgästen, ihre Anschlüsse rauszusuchen, kümmere mich darum, dass der Zug funktioniert und verkaufe Kaffee in der ersten Klasse.

Ich habe keinen Einfluss darauf, wie viel Verspätung der Zug hat, aber die Stimmung an Bord kann ich verbessern, indem ich nett und hilfsbereit bin. Wenn ich den Leuten das Gefühl gebe, dass sie bei mir gut aufgehoben sind, ist das der beste Garant, dass ich auch gut behandelt werde. Dafür reicht es oft, ein Lächeln auf den Lippen zu haben, wenn ich die Fahrkarten kontrolliere. Am liebsten helfe ich Leuten, die nicht mehr so fit sind, indem ich mal einen Koffer reinhebe. Wenn wir genug Personal sind, stelle ich mich auch mal absichtlich ans Familienabteil und hebe die Kinderwagen rein, dann sind die Leute immer super glücklich und bedanken sich. Und mir fällt das leicht, ich bin ja erst 22, meine Knochen sind noch jung.

„20 Minuten Verspätung machen den meisten Leuten nicht mehr so viel aus.“
Tim

Idealerweise sind wir an Bord immer mindestens vier Kollegen. Mein Vorgesetzter ist der Zugführer, den erkennt man an der silbernen Krawatte und am Ärmelstreifen. Der macht die Ansagen und den hole ich, wenn jemand zu mir sagt, dass er gerne mit meinem Manager reden möchte. Dann gibt es mindestens einen Zugbegleiter. Das ist der offizielle Begriff für Schaffner. Wir tragen rote Krawatten. Und idealerweise arbeiten noch mindestens zwei Kollegen im Bordrestaurant. Das Team wird für jede Schicht neu zusammengewürfelt, auch wenn man sich wünschen kann, mit Kollegen zusammenzuarbeiten. Ich habe das bisher aber noch nicht genutzt.

Es gibt oft nicht genug Kollegen, um den Zug zu bestücken. Eine Zeit lang wurde viel zu wenig eingestellt, das rächt sich jetzt. Der Altersdurchschnitt meiner Kollegen ist sehr hoch, es gehen gefühlt jede Woche Leute in Rente. Deshalb werden im Moment ganz viele Leute per Quereinstieg eingestellt. Ich habe zweieinhalb Jahre Ausbildung gemacht, die Neuen lernen das in acht Wochen. Gerade die ehemaligen Reichsbahn-Mitarbeiter, die noch in der DDR gelernt haben, haben Vorurteile gegenüber den Quereinsteigern, auch wenn viele von denen Erfahrung im Kundenkontakt haben, weil sie etwa aus der Gastronomie kommen.

An sich mag ich meinen Job aber gerne. Die Stimmung an Bord unter den Kollegen ist meistens gut, wir halten uns gegenseitig den Rücken frei.

Was mich nervt, sind Momente, in denen die Kommunikation von oben stockt und ich nicht weiß, wie es bei einer Verspätung weitergeht. In den vergangenen Jahren wurde vieles zentralisiert, sodass wir manchmal gar nichts machen können, wenn es zu Problemen kommt.

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Zum Beispiel stand ich neulich am Gleis und habe gehört, wie die Einfahrt eines Zuges angesagt wurde. Dann ist er aber nicht eingefahren, weil kurz vor dem Bahnhof Personen im Gleisbett waren. Der Zug stand da also und es wurde die Bundespolizei gerufen. Aber aus irgendeinem Grund dachte plötzlich das Reisendeninformationssystem, dass der Zug schon weiter Richtung Berlin gefahren war. Er ist von der Anzeigetafel am Gleis verschwunden und im DB Navigator stand, dass der Zug mit plus 30 Minuten in Dortmund abgefahren ist. Dabei hatte der in Wahrheit mindestens zwei Stunden Verspätung. Natürlich waren alle Reisenden verwirrt. Ich habe dann drei Leute mit unterschiedlichen Zuständigkeiten angerufen, um das Problem zu lösen.

Aber das IT-System arbeitet selbstständig und niemand konnte da noch eingreifen. Früher hätte man in einer solchen Situation in den meisten Bahnhöfen am Bahnsteig selbst Durchsagen machen können, aber das wurde alles abgeschafft.

Und so musste ich dann den 200 Leuten einzeln sagen, dass der Zug irgendwann noch kommt und weder ausgefallen noch weitergefahren ist. Ich verstehe natürlich, dass die Reisenden in solchen Situationen ungehalten sind. Aber wenn ich seit zehn Stunden unterwegs bin und länger nichts gegessen habe, stresst mich das trotzdem. Dann kann es vorkommen, dass ich aus der Situation fliehe, indem ich einmal um die Ecke gehe, bis sich die Information von selbst unter den Reisenden verbreitet hat.

An einzelne Begegnungen erinnere ich mich nach einer Zehn-Stunden-Schicht selten. Aber tatsächlich sind die Leute in den vergangenen Jahren bei Verspätungen deutlich gelassener geworden. 20 Minuten machen den meisten nicht mehr so viel aus.

Nach Handbuch sollte der Zug eigentlich bei jedem Personalwechsel komplett kontrolliert werden. Aber manchmal kommen wir nicht dazu. Wenn ich in Fulda in den Zug von Basel nach Berlin steige und wir unterbesetzt sind und zu zweit 900 Fahrgäste kontrollieren sollen, kann es schon mal sein, dass wir nicht bis zum Ende des Zuges kommen. Dazu gibt es die Ansage von oben: Bevor wir kontrollieren, sollen wir in der ersten Klasse Kaffee verkaufen. Warum das so ist, weiß ich nicht. Bei jeder zweiten Schicht erwische ich jemanden beim Schwarzfahren. Bis 2021 hätte ich Schwarzfahrern noch im Zug ein Ticket ausstellen können, das geht heute nicht mehr. Ich muss mich dann entscheiden, ob ich die Person bitte auszusteigen oder eine Fahrpreisnacherhebung ausstelle. Die kann auch mal 500 Euro kosten, je nach Strecke.

„Es gibt die Ansage von oben: Bevor wir kontrollieren, sollen wir in der ersten Klasse Kaffee verkaufen.“
Tim

Es passiert erstaunlich oft, dass ich Menschen nach ihrem Ticket frage und sie einfach sagen, sie hätten keins. Aber es kommt auch regelmäßig vor, dass sich Leute auf dem Klo verstecken. Neulich saß jemand am Frankfurter Flughafen ohne Ticket in der Ersten Klasse. Ich habe ihn dann gebeten, am Frankfurter Hauptbahnhof auszusteigen. Als wir wieder losgefahren sind, war das Klo in der ersten Toilette besetzt. Ich hab mich gewundert, weil alle Leute im Abteil an ihren Plätzen saßen und habe mehrmals geklopft und irgendwann hat mir derselbe Mann die Tür aufgemacht, den ich am Hauptbahnhof rausgeschmissen hatte. Weil ich ihn zum zweiten Mal erwischt hatte, habe ich ihm eine Fahrpreisnacherhebung ausgestellt, für die Strecke zur nächsten Stadt sind das über 100 Euro. Gut gefühlt habe ich mich dabei nicht, weil ich den Eindruck hatte, dass er nicht so viel Geld hatte.

Weniger Mitleid habe ich bei Erste-Klasse-Business-Fahrgästen, die nicht verstehen wollen, dass ihr Sparpreis nicht in einem anderen Zug gilt. Sie sind auch diejenigen, die mir gegenüber ausfallend werden, obwohl ich sie mit dem gleichen Respekt behandele wie jeden anderen auch.

Zum Beispiel diese eine Dame im Bordbistro, die ein Ticket mit Bahncard gebucht hatte, aber keine Bahncard hatte, sondern nur eine neun Monate alte Rechnung. Ich habe in der Zentrale angerufen und dort wurde mir gesagt, dass die Dame tatsächlich seit neun Monaten keine Bahncard mehr hat. Ich habe ihr eine Fahrpreisnacherhebung geschrieben. Die Dame ist total durchgedreht, dass sie jetzt 250 Euro zahlen soll. Sie wollte dann auch, dass ich meinen Zugchef hole. Aber er fand auch, dass ich im Recht bin. Ich frage mich schon, was da in ihrem Kopf vorging, sie muss ja gewusst haben, dass ihre Bahncard nicht mehr gültig ist.


Der Fahrdienstleiter: „Würden wir uns an die Regeln halten, kämen die Züge noch später“

Christoph,* 27 Jahre alt, seit 2016 bei der Deutschen Bahn

Wenn ich mich auf den Weg zur Arbeit mache, weiß ich nie, wie viel ich in meiner Schicht zu tun haben werde. Manchmal ist es eher wie Bereitschaftsdienst, manchmal bin ich die ganze Zeit überlastet.

In der Mittelstufe habe ich ein Praktikum bei der Deutschen Bahn gemacht. Danach wusste ich: Dort will ich arbeiten. Nach meinem Abi habe ich meine Ausbildung zum Fahrdienstleiter angefangen.

Meine Aufgabe als Fahrdienstleiter ist es, die Weichen und Signale so zu stellen, dass die Züge reibungslos und sicher von einem Gleis aufs nächste fahren können. Ich sitze in einer der acht Betriebszentralen in Deutschland, von denen aus ein wesentlicher Teil des Bahnverkehrs gesteuert wird. In meiner Betriebszentrale arbeiten pro Schicht mehrere Dutzend Menschen daran, dass die Züge pünktlich kommen. Dafür stehen zehn Monitore vor mir, auf denen ich die Gleise, die Züge und die Weichen vor mir sehe. Im Normalbetrieb „klicke“ ich die Züge dann auf meinem Bildschirm einfach von einem Gleis aufs nächste. Gibt es keine Störung, kümmert sich die Technik um vieles. Aber wenn es zu Problemen kommt, muss ich eingreifen.

Es gibt für beinahe jedes Problem eine Bahn-Richtlinie, die man in einem solchen Fall abarbeiten soll. Aber würden wir uns zu hundert Prozent an diese Richtlinien halten, kämen die Züge noch häufiger und deutlicher zu spät.

Denn mit den Jahren ist das Regelwerk immer umfangreicher und komplizierter geworden. Manche Richtlinien sind inzwischen so kompliziert, dass es zeitlich nicht machbar wäre, nach Vorschrift zu arbeiten. Deshalb halten ich und meine Kollegen uns oft nicht mehr an sie. Denn die Sicherheit lässt sich mit gesundem Menschenverstand und etwas Erfahrung auch so gewährleisten.

Ein Beispiel: Nehmen wir mal an, eine Weiche wird als besetzt angezeigt, obwohl auf ihr eigentlich kein Zug stehen sollte. Wir haben seit Neuestem in der Richtlinie geregelt, dass in einem solchen Fall eine Fachkraft rausfahren und sagen muss, dass diese Weiche frei ist.

„Wenn Reisende ihren Anschluss verpassen, weil ein Zug nicht auf sie wartet, muss mir das offiziell egal sein.“
Christoph

Bis vor einiger Zeit durften wir in einer solchen Situation einfach einen Lokführer über beide Seiten der Weiche fahren lassen, der gerade eh da in der Gegend war. Er hat von uns die Anweisung bekommen, auf Sicht über die Weiche zu fahren, sodass nichts passieren konnte. Und wenn er uns gemeldet hatte, dass das problemlos ging, wussten wir, dass der Weg frei ist. Wegen eines einzigen Unfalls an einer speziellen Weiche müssen wir heute theoretisch jeden Zug über jede Weiche langsamer fahren lassen, bis der Techniker kommt. Je nachdem, wie viel los ist und wie weit die Techniker entfernt sind, kann das schon einige Stunden dauern – und in der Zeit sammeln alle Züge auf der Strecke eine Verspätung. Deshalb arbeiten die meisten Fahrdienstleiter in der Praxis wie früher.

Wenn Reisende ihren Anschluss verpassen, weil ein Zug nicht auf sie wartet, muss mir das offiziell egal sein. Ich muss warten, bis mich das Verkehrsunternehmen anruft und einen Anschluss beantragt. Oft ist der Zeitkorridor dafür aber so knapp, dass der Anruf nicht rechtzeitig kommt. Dann sitzt man da, würde gerne, darf aber offiziell nicht. In der Praxis kümmere ich mich aber darum, dass Reisende den Anschluss bekommen und breche damit die Regeln. Dafür kann letztendlich ich verantwortlich gemacht werden.

Der Grund, dass ich mich nicht um Anschlüsse kümmern darf, ist betriebswirtschaftlich: Ich arbeite in dem Unternehmen, das sich um das Bahnnetz kümmert, der InfraGO. Die Bahnfahrten organisieren aber andere Firmen. Die InfraGO wird pro Zug bezahlt und muss eine Strafe zahlen, wenn sich der Zug verspätet. Mein Ziel ist also, dass jeder Zug pünktlich ankommt.

Bevor ich privat Zug fahre, schaue ich mir die Verspätungsstatistik an. Ich weiß, welche Züge wahrscheinlich pünktlich sind und wo der Umstieg deshalb klappen könnte. Mit diesem Hintergrundwissen komme ich selten zu spät.


Die Lokführerin: „Ich liebe die Freiheit und das Alleinsein, wenn ich als Lokführerin in meinem Führerstand sitze“

Charlene Mehwald, 26 Jahre, seit 2017 bei der Deutschen Bahn

Schon als Kind habe ich gespielt, ich sei Lokführerin. Mein Opa hatte eine Modelleisenbahn auf seinem Dachboden stehen, irgendwann habe ich meine eigene Anlage geschenkt bekommen. Und mein Vater und meine Oma haben beide bei einem Unternehmen gearbeitet, das Modelleisenbahnen herstellt.

Ich habe erst noch einen anderen Beruf ausprobiert, mich aber mit 19 entschieden: Jetzt machst du das, worauf du Lust hast. Das war 2017 und eine der besten Entscheidungen, die ich treffen konnte. Ich liebe die Freiheit und das Alleinsein, wenn ich als Lokführerin in meinem Führerstand sitze. Ich genieße es, zwischen den Städten hin und her zu pendeln.

Zuerst habe ich im Güterverkehr gearbeitet. Dort war ich in meiner Ausbildung und auch danach am Bahnhof immer die einzige Frau. Am Anfang wollten mich meine Kollegen beschützen, nach dem Motto: Lass die nicht so eine harte Arbeit machen. Denn der Rangierdienst ist körperlich anstrengend: Dort stellt man die langen Güterzüge zusammen, die man häufig an Bahnhöfen durchrauschen sieht.

Die Arbeit im Güterverkehr funktioniert so: Man fährt zu einem Kunden in der Umgebung, holt mit einer Diesellokomotive einen oder mehrere Wagen ab und fährt mit denen in den Rangierbahnhof. Dort bildet man einen großen Zug, indem man die einzelnen Wagen kuppelt. Dafür muss man nicht nur viel laufen, sondern sich ständig bücken und die schwere Kupplung heben. Und das bei jedem Wind und Wetter.

2021 wurde die körperlich harte Arbeit doch zu anstrengend und ich bin in den Nahverkehr gewechselt. Hier fühle ich mich sehr wohl.

„Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht eine Verspätung habe.“
Charlene Mehwald

Jeder Eisenbahner kennt die dummen Witze, wenn man sagt, man arbeitet bei der Deutschen Bahn: „Ach, ihr kommt doch immer zu spät!“ Aber das ist mir ehrlich gesagt egal. Ich weiß ja, dass es an der schlechten Infrastruktur liegt. Wir Lokführer, Zugbegleiter, Kundenbetreuer, alle die draußen präsent für den Fahrgast sind, können dafür nichts.

Im Gegenteil: Wir versuchen, das Bestmögliche rauszuholen. Natürlich merke ich die schlechte Infrastruktur der Deutschen Bahn in meinem Alltag: Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht eine Verspätung habe. Heute fahre ich die Siegstrecke, das ist zwischen Köln und Siegen. Die ist sehr ausgelastet, dementsprechend staut es sich oft und wir müssen langsamer fahren oder halten, weil ein Güter- oder Fernzug Vorfahrt hat.

Ich spüre den Personalmangel an meinem Arbeitspensum: Im Schnitt arbeite ich zwischen 40 und 50 Stunden die Woche. Diese Woche sind es bei mir sogar 55 Stunden. Die Länge meiner Schichten schwankt je nach Tag. Heute habe ich um 5.30 Uhr angefangen und werde insgesamt elf Stunden arbeiten. So geht es den meisten Lokführern mit einer Vollzeitstelle, die ich kenne. Nur deshalb können wir alle bestellten Zugfahrten auch wirklich durchführen.

Das klingt nach extrem viel. Aber ich liebe meinen Job so sehr, dass ich auch nach der Geburt meines Kindes schon nach acht Wochen wieder eine Schicht in der Woche gefahren bin. Und seitdem mein Sohn ein Jahr alt ist, arbeite ich wieder Vollzeit.


*Namen und biographische Details wurden geändert, um die Personen zu anonymisieren. Die wirklichen Namen sind der Redaktion bekannt

Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Würden wir uns an die Regeln halten, kämen die Züge noch später”

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