Stellen wir uns das Vermögen in Deutschland als Sandstrand vor. Manchen gehört ein großer Strandabschnitt, auf dem sie sogar Volleyball spielen können. Andere können sich noch nicht mal umdrehen, ohne an den nächsten nackten Körper zu stoßen. Was denkst du, wenn du das liest? Wie viel Strand gehört der Volleyball-Fraktion? Und wie viel dem Rest?
Die Deutschen sind bei der Frage gespalten, ob Ungleichheit hierzulande ein Problem ist: 41 Prozent der Deutschen denken ja. Zu dem Ergebnis kommt das Ungleichheitsbarometer der Universität Konstanz. Das bedeutet aber auch, dass knapp 60 Prozent glauben, der Strand sei gerecht aufgeteilt.
Die politische Einstellung beeinflusst, welche Statistiken zur Ungleichheit man sich merkt. Denn nackte Zahlen sind bei politischen Fragen nicht neutral, sondern aufgeladen. Wenn du frühere Texte von mir kennst, weißt du, auf welcher Seite ich stehe: Ich halte es für einen der größten Skandale unserer Zeit, wie ungleich der Sandstrand verteilt ist. Deshalb widme ich mich dem Thema gemeinsam mit meinem Kollegen Sebastian Klein in einer neuen Serie. Das hier ist Teil eins.
Für diesen Text habe ich meine politische Einstellung beiseitegelassen und mir die Strandaufteilung differenziert angeschaut. Ich habe sieben Grafiken zur Verteilung von Einkommen und Vermögen gesammelt und mir angeschaut, wie Herkunft und Geschlecht die Größe des Strandabschnittes beeinflussen. Manche dieser Statistiken haben selbst mich überrascht. Etwa, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland zuletzt leicht zurückgegangen ist. Oder was Mutter werden finanziell für Frauen bedeutet.
Deutsche Haushalte besitzen im internationalen Vergleich verblüffend wenig Vermögen
Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Deshalb ist es umso verblüffender, über wie wenig Vermögen deutsche Haushalte im Median verfügen: Laut der Europäischen Zentralbank (EZB) knapp über 100.000 Dollar. Im Median besitzen slowenische Haushalte mehr und griechische nur etwas weniger.
Dass Deutschlands Haushalte vergleichsweise wenig besitzen, liegt am Vermögen der Mittelschicht. Das besteht nämlich vor allem aus Immobilien. Aber Deutschland ist eine Mieternation. Im europäischen Vergleich landet Deutschland bei der Eigentümerquote auf dem vorletzten Platz, wie eine Erhebung des statistischem Amtes der EU, Eurostat, zeigt. In der Slowakei besitzen zum Beispiel 92 Prozent der Haushalte eine Immobilie, in Deutschland sind es noch nicht einmal die Hälfte.
Der Grund ist nicht, dass Deutsche besonders gerne Vermieter:innen haben, damit sie sich über sie beschweren können. Es hat einen historischen Ursprung: Nachdem Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hatte, bombardierten die Alliierten in den kommenden Jahren zahlreiche deutsche Städte. Sie zerstörten dabei viele Wohnhäuser – und damit Eigentum.
Als dann nach dem verlorenen Krieg noch 12 Millionen Vertriebene unter anderem aus dem damaligen Schlesien, der damaligen Tschechoslowakei und dem damaligen Ostpreußen flohen, verschärfte das die Wohnungsnot noch weiter.
Also wurden schnell Mietskasernen hochgezogen, die bis heute vielerorts das Stadtbild prägen. Die meisten Deutschen konnten es sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht leisten, in Eigentumswohnungen zu investieren. Und in der DDR gab es außerdem kaum privates Wohneigentum. Auch ein Vermögen konnte man dort kaum anhäufen. Zusammengenommen erklären diese Faktoren bis heute, warum in Deutschland so viele zur Miete wohnen.
Das Vermögen ist in Deutschland extrem ungleich verteilt, aber die Ungleichheit ist zuletzt gesunken
In Deutschland gehören dem reichsten einen Prozent ein Drittel des Nettovermögens. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Jahr 2020. Den oberen zehn Prozent gehören sogar über zwei Drittel des gesamten Vermögens in Deutschland.
Die Ungleichheitsforscherin Martyna Linartas verwendet noch lieber einen anderen Vergleich: In Deutschland besitzen zwei Familien so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Und über die Hälfte des Vermögens wird heute nicht mehr erarbeitet, sondern vererbt. Damit war Vermögen 2021 in Deutschland ähnlich ungleich wie in Mexiko oder Singapur verteilt. Zu dem Ergebnis kam die nicht gerade für linksradikale Thesen bekannte Schweizer Bank Credit Suisse.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Zwischen 2010 und 2021 ist die Vermögensungleichheit hierzulande leicht zurückgegangen. Das ist am Gini-Koeffizient zu erkennen. Sein Wert liegt immer zwischen Null und Eins, wobei null bedeutet, dass alle in einer Gesellschaft genau gleich viel hätten. Und eins, dass einer Person alles gehört. In Deutschland lag er 2010 noch bei 0,76, im Jahr 2021 war er auf 0,73 gesunken. Aktuellere Zahlen gibt es noch nicht.
Markus Grabka, der am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu Ungleichheit forscht, erklärt diesen Rückgang mit zwei Phänomenen, die die Zehner-Jahre prägten. Erstens an den steigenden Preisen für Wohnungen und Häusern. Denn die machen einen großen Teil des Vermögens der Mittelschicht aus, die so von den Wertsteigerungen profitierte und den Abstand zur Oberschicht verkleinerte. Zweitens damit, dass wir uns zwischen 2008 und 2022 in einer Niedrigzinsphase befanden. Das erleichterte es gerade ärmeren Haushalten, ihre Kredite abzubezahlen. So sank in dieser Zeit die Zahl der ver- und überschuldeten Haushalte. Das Ganze hat allerdings einen Haken: Inzwischen haben Immobilien an Wert verloren und die Zinsen sind gestiegen. Grabka glaubt zwar nicht unbedingt, dass die Vermögensungleichheit in den kommenden Jahren steigen wird. Aber er geht auch nicht davon aus, dass sie weiter sinkt.
Eine Bayerin vererbt Schnitt 18-mal so viel Geld wie eine Sachsen-Anhalterin
Diese Karte zeigt die Erb-Ungleichheit auf einen Blick: Im Durchschnitt vererbte ein Bayer 180.000 Euro, während eine Sachsen-Anhalterin nur knapp über 10.000 Euro zum Weitergeben hatte. Bayer:innen haben also im Schnitt 18-mal so viel Geld zu vererben. Damit hat die finanzielle Ungleichheit zwischen Ost und West über drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung immer noch direkte Auswirkungen auf das Leben von Kindern und Enkel:innen. Denn ererbtes Geld hilft bei finanziellen Durststrecken im Leben, ermöglicht den Kredit für die Traumwohnung und lässt sich durch Dividenden und Zinsen in Einkommen umwandeln.
Der effektive Steuersatz für Milliardär:innen hat sich in den vergangenen 30 Jahren halbiert
Es hat kaum jemand mitbekommen, wie stark die Steuersätze für die Allerreichsten in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten gesunken sind. In den 90er- und Nullerjahren reformierten Politiker:innen eine ganze Reihe von Steuern zum Vorteil der wirklich Reichen. Denn der Großteil des Vermögens von Milliardär:innen besteht aus Unternehmensanteilen. Sie zahlen deshalb vor allem Steuern auf Unternehmen und auf ausgeschüttete Gewinne. Genau hier haben viele Reformen angesetzt. Deswegenmüssen Milliardär:innen seit den Nullerjahren weniger von Gewinnen in Holdings und Unternehmen an den Staat abgeben. Dazu kommt die Aussetzung der Vermögenssteuer 1997.
Was die Steuerreformen genau bedeuten, hat Julia Jirmann vom Netzwerk Steuergerechtigkeit am Beispiel der BMW-Erbin Susanne Klatten durchgerechnet. Dafür hat Jirmann verglichen, wie hoch Klattens effektiver Steuersatz auf ihre Erträge aus dem BMW-Vermögen 1996 und 2022 war. Das heißt, wie viel Prozent Steuern wirklich fällig wurden. Sie kommt zu dem Schluss, dass Klatten inzwischen 66 Prozent weniger Steuern zahlt als in den 1990er- Jahren. Dazu muss man wissen: Klatten hielt 2022 jede fünfte BMW-Aktie und bekam eine Dividende von 1,5 Milliarden Euro ausgeschüttet.
Auch für Normalverdiener:innen ist der Steuersatz im Vergleich zu den 90er-Jahren zwar gesunken – aber nur um 17 Prozent.
Bezieht man Sozialabgaben wie etwa zur Kranken- oder Arbeitslosenversicherung bei der Rechnung mit ein, sind es sogar nur acht Prozent weniger.
So kommt es, dass die Durchschnittsverdiener:innen 2022 doppelt so viel für Steuern und Sozialabgaben gezahlt haben wie Susanne Klatten auf ihre Erträge aus der ererbten BMW-Beteiligung.
Die Ungleichheit bei Stundenlöhnen ist gesunken
Kommen wir zu dem Geld, das die meisten Deutschen Monat für Monat auf ihr Konto überwiesen bekommen: ihrem Einkommen. Hier steht Deutschland recht gut da. Die Einkommensungleichheit liegt beim Gini-Koeffizient bei 0,3. Zur Erinnerung: Der Gini geht von Null bis Eins, wobei Null totale Gleichheit wäre. Damit ist Deutschland zumindest, was das Einkommen betrifft, etwas gleicher als der OECD-Durchschnitt.
Neben dem Gini-Koeffizienten sind Perzentile eine zweite wichtige Methode, um ökonomische Ungleichheiten zu messen. “We are the 99 percent”, der Slogan der Occupy-Bewegung, zeigt gut, was dabei passiert: Einkommens- oder Vermögensgruppen werden danach gebildet, über wie viel Geld sie verfügen. Ungleichheitsforscher:innen laufen dann aber eher selten skandierend durch die Straßen, sondern vergleichen die oberen ein Prozent mit den restlichen 99. Oder, wie im Fall dieser Statistik: Sie schauen sich an, wie viel mehr die oberen zehn Prozent der Einkommensskala im Verhältnis zu den unteren 90 Prozent für eine Stunde brutto verdienen. Dieser Rechnung zufolge hat sich der Abstand zwischen Armen und Reichen verringert, wenn wir uns die Bruttostundenlöhne anschauen.
Zwischen 2005 und 2015 erreichte die Lohnungleichheit ein hohes Plateau. Während die oberen zehn Prozent 1997 noch 3,2-mal so viel Lohn pro Stunde wie die unteren 90 Prozent bekamen, waren es 2011 dann viermal so viel. Seit 2015 ist die Zahl wieder gesunken.
Sowohl den Anstieg als auch das Abflachen haben wir der SPD zu verdanken. Das zeigt, wie sehr Politiker:innen das Ungleichheitslevel in einer Gesellschaft beeinflussen können. 2005 führte nämlich die rot-grüne Regierung unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder Hartz IV ein. Aufgrund dessen etablierte sich in Deutschland ein großer Niedriglohnsektor. 2007 arbeiteten 23,6 Prozent der Deutschen dort – und damit für weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns. Der Niedriglohnsektor war damit auch im europäischen Vergleich groß. Und während er wuchs, erreichte eben auch die Lohnungleichheit neue Höhen.
Dann machte die SPD den gesetzlichen Mindestlohn zu ihrem zentralen Thema bei der Bundestagswahl 2013 – mit Erfolg. Denn zum ersten Januar 2015 trat zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein gesetzlicher Mindestlohn in Kraft. Es brauchte ein paar Jahre, dann begann in der Folge auch der Niedriglohnsektor deutlich zu schrumpfen: Innerhalb von fünf Jahren um acht Prozentpunkte. War 2017 noch fast jeder Vierte hier beschäftigt, waren es 2022 nur noch 15,2 Prozent.
Aber diese Erfolgserzählung ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn die Einkommensungleichheit stagniert seit Jahren. Seit 2008 hat sich an ihr kaum etwas verändert, schreibt das DIW.
Wie kann das gleichzeitig sein? Das liegt an zwei Entwicklungen: Erstens gibt es – wenig überraschend – Überschneidungen zwischen denen, die viel verdienen und denen, die über ein hohes Einkommen verfügen. Und anders als bei den Stundenlöhnen, um die es gerade ging, zählt zum Einkommen nicht nur der Lohn, sondern auch Erträge aus Unternehmenseinkünften und Vermögen. Und unter anderem auch: die Einnahmen aus Mieten. Auch die sind in der Vergangenheit gestiegen. Davon profitieren vor allem die Einkommensstärksten. Der zweite Punkt ist eine eigene Grafik wert:
Es gelten mehr Menschen als arm – vor allem wegen der Zahl der Geflüchteten
Denn bei denen, die am wenigsten verdienen, ist die Zahl der armutsgefährdeten Personen in den vergangenen Jahren gestiegen. Der Niedriglohnsektor ist zwar geschrumpft, aber längst nicht alle Menschen in Deutschland können arbeiten, selbst wenn sie wollen.
Markus Grabka nennt Migrationsbewegungen den wichtigsten Grund für den Anstieg. Denn jeder Dritte, der mit ausländischen Pass in Deutschland lebt, gilt als arm. Damit sind Ausländer:innen zweieinhalb Mal so oft von Armut betroffen wie Deutsche. Und 2022 lebten vier Millionen mehr Ausländer:innen in Deutschland als 2015.
Viele davon sind Geflüchtete. Insgesamt gab es 2022 über 3 Millionen Schutzsuchende in Deutschland, schreibt das Statistische Bundesamt.
Wer nach Deutschland flüchtet, spricht die Sprache meist nicht, ist häufig traumatisiert – und darf die ersten Monate gar nicht arbeiten. So können sich Asylsuchende keinen Job suchen, während sie in einer Erstaufnahmeeinrichtung wohnen, schreibt das Arbeitsministerium. Auch deshalb sind Menschen mit ausländischem Pass häufiger von Armut betroffen. Geflüchtete Ukrainer:innen gelten zwar nicht als klassische Asylsuchende und dürfen deshalb sofort in Deutschland arbeiten. Aber 40 Prozent von ihnen sind Alleinerziehende und ihre Kinder, so das Statistische Bundesamt.
Für Mütter ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schon dann schwierig, wenn sie in ihrem Herkunftsland leben und einen Partner oder eine Partnerin haben. Womit wir zu einer der größten Ungerechtigkeiten bei Löhnen kommen.
Mütter zahlen in Deutschland eine besonders hohe finanzielle Strafe dafür, Kinder zu gebären
Frauen in Deutschland verdienen nach dem ersten Kind deutlich weniger als Männer, wenn sie Väter werden. Diese sogenannte Strafe fürs Mutterwerden ist in Deutschland härter als in Großbritannien, Schweden oder Österreich.
Das zeigt eine Studie von 2019, auf der diese Grafik basiert. Dort werteten Ökonom:innen aus, wie sich die Gehälter von Männern und Frauen mit der Geburt des ersten Kindes veränderten. Als Vergleichspunkt wählten sie das Kalenderjahr vor der Geburt, hier das -1 auf der x-Achse. Dort liegen die Einkommen in dieser Statistik bei 100 Prozent. Sicherheitshalber schauten sich die Forscher:innen aber die ganzen fünf Jahre vor und die zehn Jahre nach der Geburt an. Die Grafik zeigt deutlich: Für Männer änderte die Geburt nichts an ihrem Lohn. Bei Frauen bricht er dagegen im Schnitt um 80 Prozent ein und erholt sich kaum. Auch zehn Jahre nach der Geburt verdienen Frauen im Durchschnitt 60 Prozent weniger als vorher.
Das liegt vor allem am Ehegattensplitting. Denn verheiratete Paare oder eingetragene Lebenspartner:innen können in Deutschland zusammen eine gemeinsame Steuererklärung abgeben. Die lohnt sich umso mehr, je größer der Unterschied zwischen den beiden Einkommen ist. Nach der Geburt bleiben fast immer die Frauen zu Hause, arbeiten danach in Teilzeit oder in Minijobs. Gerade dann lohnt es sich steuerlich oft nicht, die Arbeit weiter aufzustocken. So landen viele Frauen in der Minijob-Falle, schreibt etwa die Bertelsmann-Stiftung.
Wie ungerecht man den Strand wahrnimmt, hängt davon ab, welchen Vergleichswert man sich anschaut: Ob man Vermögen mit Einkommen vergleicht, Männer mit Frauen oder Geflüchtete mit Deutschen. Noch immer sind die reichsten Deutschen fast ausschließlich weiße westdeutsche Männer.
Warum ändert sich daran nichts, obwohl sich so viele Menschen in einem kleinen Strandabschnitt drängen? Das hängt auch mit bestimmten Glaubenssätzen zusammen, mit denen die meisten Deutschen aufwachsen. Welche das sind und wie sie wirken, erklärt mein Kollege Sebastian Klein in Teil 2 unserer Serie.
Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Rico Grimm, Fotoredaktion: Philipp Sipos