Collage: Ein ICE, davor steht ein Schaffner und winkt mit einer Kelle.

Thierry Monasse, Andreas Rentz/Getty Images, Deutsche Bahn, Unsplash

Geld und Wirtschaft

Die Deutsche Bahn, verständlich erklärt

Warum ist die Bahn viel unpünktlicher als früher? Wie kann es besser werden? Und wieso betreibt sie anscheinend auch Geisterbahnen? In diesem Text beantworte ich die wichtigsten Fragen.

Profilbild von Rebecca Kelber
Reporterin für eine faire Wirtschaft

Neulich fuhr ich Bahn und es war großartig.

Auf dem Weg von Köln nach Berlin hatten mein Begleiter und ich einen Viererplatz mit Tisch für uns, ganz ohne schlechtes Gewissen. Denn der Zug war leer. Wir spielten ein Gesellschaftsspiel. Um uns herum wurde leise gemurmelt, kein Geschrei, kein lautes Telefonieren. Und dann erreichten wir auch noch auf die Minute genau unser Ziel.

Ich wünschte, das würde mir auch bald mal wieder passieren.

Das verstehe ich. Denn dafür, dass man eigentlich nur sitzt, ist Zug fahren oft sehr anstrengend. So schreibt etwa KR-Mitglied Heidi, die pendelt: „Ich merke mir nicht mehr wie früher die Abfahrtszeiten. Durch die ständigen Ausfälle und Verspätungen sind die fast irrelevant.“ Sie berichtet von plötzlich nicht mehr angezeigten Zügen an den Anzeigetafeln und Verspätungen, die sich im 5-Minutentakt erhöhen, bis nach einer Stunde der Zug komplett ausfällt.

Oh Gott ja, das kenne ich.

Zehn Jahre lang habe ich die Bahn verteidigt. Ich fand das Meckern über die Deutsche Bahn pedantisch und übertrieben. Das Essen im Bordbistro mag überteuert und bestenfalls mittelmäßig sein, aber immerhin bekommen dort Kinder Spielzeug-Züge mit Namen wie Günni Güterzug oder Ida IC geschenkt.

Spielzeugmodell eines Zuges der Deutschen Bahn mit anthropomorphisierten Zügen, erkennbar an den blauen Augen und dem Gesicht auf der Front. Der Zug ist in den typischen Farben der Deutschen Bahn gehalten, mit einem hellblauen Dach und einem rotbraunen Körper, auf dem das DB-Logo zu sehen ist.

Sieht genauso grimmig aus, wie so mancher Passagier: Günni Güterzug. © bahnshop.de

Und wer kommt schon mit dem Auto genau zu der Zeit an, von der das Navi beim Losfahren ausgeht?

Aber in den vergangenen Jahren ist die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn geradezu eingebrochen.

2023 kamen ein Drittel der Züge im Fernverkehr mit mehr als sechs Minuten Verspätung an – ausgefallene Züge nicht mitgerechnet. 88 Prozent der Bahnfahrer:innen und Nicht-Bahnfahrer:innen denken laut einer Allensbach-Studie zuallererst an „Unpünktlichkeit“, wenn sie Deutsche Bahn hören.

Selbst der Infrastrukturvorstand der Deutschen Bahn gibt in der Talk-Sendung „Hart aber fair“ zu, mit der Pünktlichkeit „ausgesprochen unzufrieden“ zu sein. Ida IC müsste also eigentlich eine eingebaute Bremse haben.

Dabei ist die Unpünktlichkeit nur das offensichtlichste Problem der Deutschen Bahn.

Warum kommen die ICEs denn so oft zu spät? Das hat was mit der Infrastruktur zu tun, oder?

Um es mit einer Bahndurchsage zu sagen, die der X-Account „Bahnansagen“ sammelt:

„Guten Morgen, Sie wundern sich sicherlich, warum wir so langsam fahren. In 4,3 Kilometern sind die Schienen kaputt. Das heißt auch: Hier ist demnächst wieder Baustelle. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn wir schneller fahren können.“

Selbst Bahn-Chef Richard Lutz hat zugegeben, dass die überalterte Infrastruktur der Hauptgrund ist, warum Züge so häufig zu spät kommen.

Aber die Probleme der Deutschen Bahn greifen tiefer. Sie haben ihren Ursprung darin, dass lange niemand so richtig zu wissen schien, wozu die Deutsche Bahn eigentlich da ist – und das liegt auch an der Bahn selbst. Wir werden in diesem Text auf Verbindungen zwischen Politik und Bahn an der Grenze zur Korruption treffen und darüber reden, wieso ausgerechnet unter dem CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer die Bundespolitik begann, die Bahn ernster zu nehmen. Wenn du diesen Artikel gelesen hast, wirst du wissen, warum du so oft im DB Navigator die Verspätungen nicht angezeigt bekommst – und warum die Bahn von ihren eigenen Baustellen überrascht zu werden scheint.

Aber lass uns mit den Bahnschienen, Brücken und Weichen beginnen, derentwegen Züge langsamer fahren müssen oder nicht überholen können. Dafür gibt es auf den ersten Blick eine einfache Erklärung: Deutschland investiert zu wenig in die Schiene. Das zeigt der europäische Vergleich.

Balkendiagramm mit dem Titel "Deutschland investiert im europäischen Vergleich wenig in die Schiene". Es zeigt Pro-Kopf-Investitionen auf Bundesebene in die Schieneninfrastruktur in Euro für das Jahr 2022. Die Balken stellen verschiedene europäische Länder dar, mit Luxemburg an der Spitze mit 575 Euro und Frankreich am unteren Ende mit 46 Euro. Deutschland liegt im unteren Mittelfeld mit 114 Euro, hervorgehoben durch einen roten Balken. Die Quellenangabe unten rechts gibt "Allianz pro Schiene 07/2023 auf Basis von BMF, EZV (Zusammenstellung VDV), BMK, MfPT, SBB Verkehr GmbH" an.

Jahrelang sah es sogar noch schlechter aus: Noch 2019 investierte Deutschland nur 76 Euro pro Kopf in die Schiene, inzwischen sind es immerhin 114 Euro.

In was für einem miserablen Zustand viele Schienen, Weichen und Brücken sind, hat die Bahn angeblich selbst überrascht. Jahrelang erfüllte sie bei einer Vereinbarung mit dem Bund ihre selbst gesteckten Sanierungsziele. Dann veröffentlichte sie für das Jahr 2021 zum ersten Mal einen Netzzustandsbericht, wie es ihn in Österreich schon lange gibt. Und die Ergebnisse waren ernüchternd. Die Infrastruktur erreichte 2022 einen Durchschnittswert von 3,01 auf einer Skala von eins bis fünf.

Klingt erstmal nicht so schlecht? 3 heißt doch bestanden?

Mit einem 3er-Abi würden sich auch die wenigsten brüsten. Mehr als die Hälfte der Strecken befanden sich laut dem Bericht für das Jahr 2022 in mittelmäßigem, schlechtem oder mangelhaftem Zustand. Ein Fünftel aller Gleise muss mittelfristig erneuert werden. Das sind 12.000 Schienenkilometer.

Und gerade auf den hochfrequentierten Strecken, etwa zwischen Frankfurt und Mannheim oder von Berlin nach Hamburg, ist der Zustand noch schlechter. Hier liegt die Durchschnittsnote bei 3,15. Dabei bräuchte es gerade dort ein Hochleistungsnetz, wie die Bahn selbst zugibt. Dafür müssten 18 Prozent aller Anlagen laut Bericht mittelfristig erneuert werden.

Der bahnpolitische Sprecher der Grünen Matthias Gastel sprach beim Tagesspiegel von einem Nachholbedarf von 90 Milliarden Euro.

Oha. Also wurde hier jahrelang gespart?

Nicht nur jahrelang. Seit 120 Jahren investieren wir zu wenig ins deutsche Bahnnetz. Das sagt der Direktor des Instituts für Eisenbahn- und Verkehrswesen Ullrich Martin an der Uni Stuttgart bei Spektrum.

Die Folge ist auch ein extrem zerstückeltes Bahn-Netz. Viele der Bahn-Brücken in Deutschland stammen noch aus der Kaiserzeit. Ein Hochschulprofessor mit dem Schwerpunkt Bahn hat mir erzählt: Das älteste Stellwerk der Deutschen Bahn ist von 1899. Er meinte: „Das ist sicher, aber auch extrem teuer in der Wartung.“ Und es führt dazu, dass es vier verschiedene Stellwerksgenerationen gibt. Bei den alten, mechanischen Stellwerken kann aber eine einzelne Person einen viel kleineren Bereich abdecken als bei den modernen elektronischen. Das macht den Betrieb noch komplizierter – und personenintensiver.

Andere Länder haben da schon früh andere Prioritäten gesetzt: In Österreich etwa investiert der Staat seit Langem mehr in die Schiene als in die Straße.

Aber wieso ist das bei uns anders?

Da ein Bild ja mehr als tausend Worte sagen kann:

Eine Reihe von fünf verschiedenen deutschen Autos präsentiert nebeneinander, mit der Front zum Betrachter gerichtet. Jedes Auto hat eine andere Farbe, von links nach rechts: Orange, Weiß, Blau, Schwarz und Rot.

Autos machen Günni Güterzug und Ida ICE Konkurrenz – zumindest auf politischer Ebene. © Future Publishing, Sjoerd van der Wal,NurPhoto, Emanuele Cremaschi, VCG/Getty Images

Wenn der Staat nur begrenzt Geld für Infrastruktur ausgeben will, muss er priorisieren. Deutschland ist ein Land, in dem der ADAC mehr Mitglieder hat als die katholische Kirche. Wir haben eine riesige Autoindustrie und eine dementsprechende Lobby. Da war klar, was wichtiger war.

Zwischen 1960 und 1992 steckte der Bund 230 Milliarden Euro in den Straßenbau, aber nur 29 Milliarden Euro in neue Bahnstrecken, schreibt Thomas Wüpper in seinem Buch „Betriebsstörung“.

Okay, aber hätte die Bahn nicht selbst in die Schiene investieren können? Sie verdient doch auch Geld mit ihren Ticketverkäufen?

Klar. Aber ohne staatliche Zuschüsse fährt die Deutsche Bahn nicht. Zwischen 2019 und 2021 bekam sie das meiste Geld vom Bund. Also mehr, als sie mit Ticketverkäufen oder Nutzungsgebühren für die Trassen verdient hat. Und das, obwohl die Bahn für letztere im europäischen Vergleich besonders hohe Gebühren verlangt.

Also sind die Bundesregierung und das Verkehrsministerium schuld?

Das ist auf jeden Fall ein Teil der Geschichte. Aber wer Schuld an der Misere der Deutschen Bahn hat, darauf gibt es unterschiedliche Antworten, je nachdem, wen man fragt. Manche sehen die Hauptschuld im Verkehrsministerium, andere bei der Bahn selbst.

Und was stimmt?

Beides. Für die Kritik an der Bundesregierung sprechen die Zahlen oben. Mindestens genauso wichtig ist aber, dass der Bund bis heute nicht so richtig zu wissen scheint, was genau er von der Bahn eigentlich will. Will er, dass die Bahn möglichst günstig ist? Oder möglichst pünktlich und kundenfreundlich? Soll sie jedes Dorf anfahren? Möglichst viele Güter transportieren? Das ist ein zentraler Kritikpunkt des Bundesrechnungshofs in seinem Bericht über die Dauerkrise der Deutschen Bahn. Und auf die Folgen werden wir in diesem Text immer wieder stoßen.

Aber ich habe mit verschiedenen Experten aus dem Bahnsektor geredet. Und manche weisen auch der Bahn eine gehörige Mitschuld zu. „Die DB ist eine unglaublich effiziente Lobbying-Organisation, die ihre eigenen Interessen auch durchsetzt“, sagt etwa der Bahnexperte Christian Böttger. Und diejenigen, die in den Top-Positionen bei der Deutschen Bahn arbeiten, hätten ein Interesse daran, die Strukturen so zu erhalten, wie sie sind – mit all ihren Problemen.

Aber jetzt müssen wir uns auf eine kleine Zeitreise in die 90er-Jahre machen. Denn kurz nach der Wiedervereinigung, unter Bundeskanzler Helmut Kohl hat der Bundestag ein Gesetzespaket verabschiedet, in dem viele den Ursprung der Bahn-Übel sehen: die Bahnreform von 1994.

Wurde die Bahn nicht damals privatisiert?

Naja, nicht so richtig. Aber dazu kommen wir gleich.

Tatsächlich galt die Bahn in Westdeutschland schon in den Jahrzehnten davor als Sorgenkind. „Die Eisenbahn – einst Vorbedingung und Symbol der Industrialisierung – ist in der Bundesrepublik zu einem öffentlichen Ärgernis geworden“, schrieb der Spiegel 1977. Nur noch acht Prozent der Reisenden fuhren damals mit der Deutschen Bahn, 1950 waren es noch 37 Prozent.

Weil sich in der Zwischenzeit viele ein Auto leisten konnten?

Zumindest in der BRD: Ja. Die Reichsbahn in der DDR erlebte keinen solchen Einbruch – die zehn Jahre Wartezeit auf einen Trabbi dürften dabei geholfen haben.

Dann kam die Wiedervereinigung und dem Bund gehörte neben der Bundesbahn nun auch die Reichsbahn. Beide waren damals de facto insolvent. Nur weil Anlagen in den Bilanzen überbewertet waren, war das bisher nicht aufgefallen. Zu diesem Schluss kam ein Bericht der Regierungskommission „Bundesbahn“ von 1991.
Es musste sich also dringend was ändern. Die Eisenbahnreform hatte zwei Ziele: Sie sollte erstens den Niedergang der Bahn stoppen und wieder einen größeren Teil des Verkehrs auf die Schiene verlagern. Und zweitens sollte sie dafür sorgen, dass die Bahn den Staat weniger Geld kostete. Der Bericht der Regierungskommission „Bundesbahn“ skizzierte, ohne Reform würden auf den Bund in den folgenden zehn Jahren Kosten von 400 Milliarden D-Mark zukommen.

Dazu kam: die Bundesregierung musste zu dieser Zeit einen Beschluss der EU umsetzen, das europäische Schienennetz für mehr Wettbewerb zu öffnen. Dafür sollten alle EU-Staaten die Schieneninfrastruktur und die Bahnunternehmen trennen. Das sollte es Bahnunternehmen ermöglichen, auch auf fremden Gleisen zu fahren.

Ganz schön viele verschiedene Ziele. Wie genau sah die Reform denn aus?

Mehr zum Thema

Die Behörde Bundesbahn wurde mit der Reichsbahn zusammengelegt und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt: Die Deutsche Bahn AG. Nun konnte der Bund nur noch über den Aufsichtsrat Einfluss üben, statt wie vorher direkt politische Entscheidungen treffen. Außerdem übernahm der Bund 34 Milliarden D-Mark Altschulden der Bundesbahn, damit das neu gegründete Unternehmen sorgenfrei in die Zukunft starten konnte. Durch die Reform waren für den Nahverkehr jetzt nicht mehr der Bund, sondern die Bundesländer zuständig. Für Sally S-Bahn war also ein anderes Unternehmen und ein anderer Teil des Staates zuständig als für Ida IC.

Ende der 1990er wurde die Deutsche Bahn dann in fünf eigenständige Aktiengesellschaften untergliedert: Zum Beispiel die DB Regio AG, die DB Fernverkehr AG oder die DB Cargo für den Gütertransport und Gesellschaften für die Bahninfrastruktur.

Moment mal, nach einer richtigen Trennung von Bahnverkehr und Infrastruktur klingt das für mich aber nicht, wenn beide Teile weiter zu einem Unternehmen gehörten?

Ja, das ist auch einer der Kritikpunkte an der Bahnreform. Wir kommen gleich dazu, warum.

Ein zweiter wichtiger: Als Aktiengesellschaft musste die Deutsche Bahn nun gewinnorientiert wirtschaften. Gleichzeitig sollte die Deutsche Bahn es Menschen überall in Deutschland ermöglichen, mit dem Zug von A nach B zu kommen, also den Bürger:innen möglichst viel nutzen. In der Praxis waren das zwei Ziele, die einander oft widersprachen. Und, wie oben erwähnt: Gleichzeitig gab es vonseiten der Politik keine klaren Vorgaben, was für ein Unternehmen die Bahn in fünf oder zehn Jahren sein sollte.

Ich ahne, welches Ziel dann meistens die Überhand gewonnen hat.

Ja, es war sehr oft der Gewinn.

Sollte die Bahn damals nicht sogar an die Börse gehen?

Das war in den Nullerjahren das große Ziel, um das es viel Hickhack gab. Auch daran zeigte sich, dass es im Verkehrsministerium keine konsistente Strategie für die Deutsche Bahn gab.

Die Privatisierungspläne gingen neben Schröder auf die Kappe eines Mannes, der zwar seit 15 Jahren die Bahn nicht mehr führt, die aktuelle Misere der Bahn jedoch mitzuverantworten hat.

Balkendiagramm mit dem Titel "Seit 2022 sind die Fernverkehrszüge der Deutschen Bahn deutlich unpünktlicher". Es zeigt die Pünktlichkeit der Züge in Prozent von 2017 bis 2023. Die Werte fallen von 78,5% im Jahr 2017 auf 64% im Jahr 2023, mit einem Höhepunkt von 81,8% im Jahr 2020.

Hartmut Mehdorn, von 1999 bis 2009 Bahnchef und von 2013 bis 2015 Vorsitzender der Geschäftsführung beim Flughafen BER.

Mehdorn bekam den Job nicht, weil er sich mit der Bahn auskannte. Er führte zuvor das Unternehmen „Heidelberger Druckmaschinen“. Er mochte Bahnfahren noch nicht mal. So erklärte er öffentlich, dass es eine Tortur sei, länger als vier Stunden im Zug zu sitzen. Wenn er von Frankfurt nach Berlin müsse, nehme er deshalb das Flugzeug. Konsequenterweise orderte er zu Beginn seiner Amtszeit 500 Dienstwagen für Führungskräfte. So beschreibt es Arno Luik in seinem Buch „Schaden in der Oberleitung“.

Und was macht jemand mit der Bahn, der sich nicht für Züge interessiert?

Seine Aufgabe war es, den Laden möglichst profitabel zu machen, dafür hatte die Bundesregierung ihn geholt. Die Deutsche Bahn sollte endlich aufhören, den Bund so viel Geld zu kosten, stattdessen Gewinn machen und so an die Börse gehen.

Dafür verfolgte Mehdorn drei Strategien, die bis heute nachwirken:

Erstens, sparte er rigide innerhalb der Bahn: Er gab Regionalstrecken auf, schaffte mit dem Interregio eine gesamte Zuggattung ab und ließ Weichen und Überholgleise herausreißen. Die Verspätungen deines ICEs liegen auch an Mehdorns Sparwahn in den Nullerjahren. Denn wegen der fehlenden Überholgleise kann heute ein ICE nichts machen, wenn vor ihr ein langsamer Regio fährt. Dabei kosteten die Überholgleise im Erhalt ein paar tausend Euro im Jahr. Sie neu zu bauen, braucht jedes Mal mehrere Millionen Euro, sagt ein ehemaliger Bahnangestellter.

Zweitens, expandierte die Bahn unter Mehdorn. Und zwar ins Ausland und in Geschäftsbereiche, die nichts mit Zugverkehr zu tun hatten. Mehdorn verkündete: „Unser Markt ist nicht Deutschland. Unser Markt ist die Welt.“ So wollte er der Bahn zu größeren Gewinnen verhelfen. 1999 machte die Deutsche Bahn mehr als 95 Prozent ihres Umsatzes im Inland und mehr als 90 Prozent mit der Schiene.

2022 erwirtschaftete sie rund die Hälfte ihres Umsatzes mit Geschäften, die nichts mit Bahnfahren in Deutschland zu tun haben – genau wie in vielen Jahren vorher.

Die Zugbegleiter:innen und Weichenmechaniker:innen dürften das in ihrem Arbeitsalltag zwar kaum spüren. Aber der Vorstand und die Manager:innen der oberen Ebenen kümmern sich nicht nur darum, den Bahnverkehr in Deutschland bestmöglich zu gestalten. Sie müssen viele unterschiedlichen Sparten im Blick behalten. Der Bundesrechnungshof kritisiert deshalb die Deutsche Bahn für diese Strategie scharf.

Drittens, stoppte der geplante Börsengang die vollständige Trennung von Bahnverkehr und Schieneninfrastruktur. Denn die Schienen, Brücken und restliche Infrastruktur waren das wertvollste Eigentum der DB AG und sollten sicherstellen, dass die Deutsche Bahn mit einem vernünftigen Aktienkurs startete.

Klingt erstmal vernünftig?

Es gibt aber gute Argumente dafür, beides noch stärker zu trennen und die Infrastruktur gemeinwohlorientiert auszurichten. Denn sie dient der Daseinsvorsorge. Wir erwarten auch von Schulen nicht, dass sie Gewinn machen. Sie sollen möglichst gut statt profitabel sein. Der laufende Bahnbetrieb dagegen soll wirtschaftlich funktionieren.

Gäbe es eine gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft, würde die ihre Erträge nutzen, um das Bahnnetz zu sanieren oder zu erweitern. Sie würde keinen Überschuss machen, weil das nicht ihr Ziel wäre. Die Bahn AG machte aber jahrelang mit ihrer Infrastruktursparte Gewinn in Milliardenhöhe. Und subventionierte damit ihren Bahnbetrieb quer. Auch das ist ein Grund, warum die Infrastruktur der Bahn heute so heruntergewirtschaftet ist.

Mit seinem Kurs war Mehdorn zumindest kurzfristig erfolgreich: Unter ihm verdoppelte sich der Umsatz der Bahn, der Gewinn verzwanzigfachte sich.

Wendelin Wiedeking Vorstandsvorsitzender des deutschen Sportwagenherstellers Porsche AG, und Deutsche Bahn-Chef Hartmut Mehdorn schauen aus dem Fenster einer neuen Lokomotive, die Porsche von der Deutschen Bahn am 3. Februar 2006 im Berliner Hauptbahnhof erhalten hat.

Hartmut Mehdorn streckt den Daumen nach oben, mag Züge aber gar nicht so gern. © Sean Gallup/Getty Images

Aber gab es nicht auch viel Kritik an diesem geplanten Börsengang?

Ja. Denn das Grundgesetz verbietet eine Privatisierung der Infrastruktur, deshalb hätte die Deutsche Bahn zu 51 Prozent Bundeseigentum bleiben müssen. Die Befürchtung war, dass die Deutsche Bahn die Kapitalmärkte und den Bund gegeneinander hätte ausspielen können und bei schlechten Entscheidungen niemand mehr hätte eingreifen können. Der Bahnexperte Böttger sagt, mit dem Börsengang wäre aus der Bahn ein „Steuerungszombie“ geworden. Damit war er nicht allein: Bei einer Anhörung im Verkehrsausschuss des Bundestags sprachen sich 2006 elf von elf Experten gegen diese Variante der Privatisierung aus. So steht es in Wüppers Buch „Betriebsstörung“.

Wenn es so offensichtlicher Quatsch war, wieso sollte die Bahn überhaupt privatisiert werden?

Mehdorn argumentierte so: Die Deutsche Bahn brauche viel Geld, um sich und ihr Schienennetz zu modernisieren. Der Bund wollte ihr die nötigen Milliarden aber nicht geben. Deshalb werde er sich das Kapital von privaten Investor:innen holen.

Okay, schon diese Argumentation zeigt, dass es für die Politik keine besonders hohe Priorität hatte, Geld in die Hand zu nehmen, um das bestmögliche Eisenbahnunternehmen zu schaffen.

Jap.

Und diese Argumente überzeugten dann die Politiker:innen?

Sagen wir mal so: Mehdorn hat sich viel Mühe gegeben, Einfluss auf die Politik zu nehmen. „Es gibt so gut wie keinen Abgeordneten des Verkehrsausschusses, der nicht von Mehdorn angepflaumt, angemacht, eingeschüchtert worden ist“, zitiert der Stern 2008 den Grünen-Politiker Winfried Hermann, der seit 2011 Verkehrsminister von Baden-Württemberg ist.

Gleichzeitig engagierte Mehdorn viele ehemalige SPD- und einige Unions-Politiker:innen, um für seine Interessen zu lobbyieren. Zum Beispiel dem ehemaligen bayerischen Verkehrsminister Otto Wiesheu (CSU). Aber nicht nur: Die Berliner Zeitung listet 2005 auf: „Zu Mehdorns exklusiven Klub gehören unter anderem der ehemalige Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt, Sachsen-Anhalts Ex-Verkehrsminister Jürgen Heyer, sein ehemaliger brandenburgischer Amtskollege Hartmut Meyer, Bremens ehemaliger Regierender Bürgermeister Klaus Wedemeier, Nordrhein-Westfalens Ex-Verkehrsminister Ernst Schwanhold (alle SPD) und der frühere bayerische Finanzminister Georg von Waldenfels (CSU).“

Klüngelei. Dieses Wort fällt mir dazu ein.

Es gab auch in einzelnen Fällen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass es sich hier tatsächlich um Klüngelei gehandelt haben könnte. Zum Beispiel bei Otto Wiesheu, dem vorgeworfen wurde, sich bei den Koalitionsverhandlungen „auffällig stark“ für die Interessen der Deutschen Bahn eingesetzt zu haben – und dann von 2006 bis 2009 im Vorstand der Bahn saß.

Oder beim ehemaligen brandenburgischen Verkehrsminister Hartmut Meyer, dessen Ministerium 2002 ohne Ausschreibung einen Vertrag über zehn Jahre an die Deutsche Bahn vergeben hatte. Kurz darauf schied Meyer aus dem Amt – und hatte einen gut dotierten Beratervertrag für die Bahn in der Tasche. Damals ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen Korruptionsverdacht. Das Verfahren wurde aber eingestellt.

Und trotzdem schaffte Mehdorn es nicht, die Bahn an die Börse zu bringen?

Erst wurde der Börsengang wegen der Finanzkrise 2008 verschoben. Dann musste Mehdorn 2009 gehen. Er hatte Emails von Mitarbeiter:innen ohne deren Wissen überwachen und bei über 170.000 seiner Mitarbeiter:innen Adressen und Kontoverbindungen mit Lieferanten abgleichen lassen. Trotzdem bekam Mehdorn bei seinem Weggang fünf Millionen Euro Abfindung. Bei der Bundestagswahl im selben Jahr kam eine schwarz-gelbe Regierung an die Macht, die den Börsengang nicht weiter verfolgte.

Also war die Bahnreform ein einziges Desaster?

Einige Elemente der Bahnreform waren sinnvoll – sie wurden bloß entweder nie so ausgeführt, wie es die Reform eigentlich vorsah. Oder schlecht umgesetzt. Zum Beispiel die Trennung von Infrastruktur und Bahnbetrieb, um die es oben schon ging.

Oder nehmen wir den Einfluss der Politik auf die Bahn. Den zu begrenzen, unterstützt der Bahnprofessor Christian Böttger. Warum, habe ich besser verstanden, als ich Thomas Wüppers Buch „Betriebsstörung“ gelesen habe. Dort beschreibt Wüpper die Folgen des langen direkten Einflusses der Politik auf die Bundesbahn: Die Behörde sei bei Angeboten, Investitionen und ihrer Preisgestaltung jahrzehntelang ein Spielball politischer Interessen gewesen.

Eine Aktiengesellschaft begrenzt das, denn nun kann die Bundesregierung nur noch indirekt durch den Aufsichtsrat Einfluss üben. Aber durch die Bahnreform kam es für die Deutsche Bahn zu Zielkonflikten: Sollte sie jetzt möglichst profitabel wirtschaften oder eine möglichst gute Eisenbahn für alle schaffen? Der Bund nutzte seine noch vorhandenen Einflussmöglichkeiten nicht, um hier Klarheit zu schaffen. Bis heute gibt es keine ausgearbeitete Eigentümerstrategie des Bundes, die über einzelne Ziele hinausgeht. Warum hat der Bund der Deutschen Bahn zum Beispiel erlaubt, so stark ins Ausland zu expandieren? Einige der Geschäfte, die sie da gemacht hat, waren riskant und brachten Milliardenverluste mit sich.

Der Bund ruft zwar immer wieder einzelne, ambitionierte Ziele für die Bahn aus. Etwa, dass sich die Fahrgastzahlen bis 2030 verdoppeln sollen. Oder dass sie den Anteil der Schiene am Güterverkehr bis 2030 auf 25 Prozent steigern will. Aber beide Ziele wird die Bahn laut Bundesrechnungshof nicht erreichen. Einerseits, weil dafür sehr viel Geld fließen müsste. Aber auch, weil die Ziele von Anfang an unrealistisch sind. Denn es werden nicht auf einmal doppelt so viele Menschen mit der Deutschen Bahn fahren. Die beliebten Zugstrecken, etwa am Sonntagabend zwischen Berlin und Hamburg, sind ja heute schon oft voll. Und andere Wege werden einfach nicht so viel genutzt.

Und bei den Güterzügen gilt: Eine Stunde Verspätung wie bei manchen ICEs wären hier ein Traumwert. Güterzug-Lokführer:innen müssen oft stundenlang warten, bis sie weiterfahren dürfen – weil Personenzüge Vorrang haben. Nach Streiks kann eine Verspätung von Günni Güterzug deshalb sogar mal mehrere Tage dauern.

Gab es auch was Positives an der Reform?

Es gibt zumindest einen positiven Aspekt, über den wir bisher noch nicht geredet haben. Im Nahverkehr führte die Reform zu mehr Ausschreibungen und damit mehr Wettbewerb. Inzwischen macht die Bahn hier nur noch rund 40 Prozent des Betriebs aus. Im Regionalverkehr läuft zwar nicht alles perfekt, aber er ist durch den Wettbewerb günstiger geworden. Alle sechs Experten, mit denen ich für diesen Text gesprochen habe, sagten, der Nahverkehr habe sich verbessert.

Ein zentrales Ziel der Bahnreform hat die Deutsche Bahn inzwischen erreicht: Es fahren tatsächlich wieder mehr Menschen Zug: Der Marktanteil der Schiene ist wieder auf über zehn Prozent gestiegen.

Das ist doch super!

Dafür hat die Reform ein großes grundlegendes Problem geschaffen: Nämlich die Konzernstrukturen der Deutschen Bahn. In denen lasse sich einfach nicht gut arbeiten, sagt 2019 auch der ehemalige Schweizer Bahnchef Andreas Meyer in der FAZ. „Wenn eine derartige Organisationsform in der Schweiz verordnet worden wäre, hätte ich es abgelehnt, die Bahn in der Schweiz zu führen. Weil das riesige Auswirkungen hat; nicht nur auf die Effizienz, sondern auch auf die Pünktlichkeit.“ Er war früher selbst mal bei der Deutschen Bahn angestellt.

Und dann kommen noch die ganzen typischen Probleme großer Unternehmen hinzu: Nehmen wir zum Beispiel den Fachkräftemangel. Den merkst du zum Beispiel, wenn dein vor zwei Wochen gebuchter Zug auf einmal Verspätung hat wegen einer Baustelle. Obwohl die Bahn bestimmt ja nicht erst letzte Woche beschlossen hat, hier zu bauen. Das liegt daran, dass die Bahn gerade überall saniert und gleichzeitig nicht genügend Menschen hat, die Fahrpläne umplanen können. Deshalb werden diese absolut absehbaren Verspätungen wegen Baustellen nicht rechtzeitig mit eingeplant.

Die Bahn überrascht sich selbst?

Und dann haben alle regelmäßigen Bahn-Fahrer:innen wohl schonmal sowas erlebt wie KR-Mitglied Jule: „Heute habe ich versucht, mit dem Zug zu fahren, ich stand am Gleis, aber der Zug kam einfach nicht. In der DB App wurde angezeigt, der Zug würde bereits unterwegs sein. Er kam aber nie an unserer Station vorbei. Keine Meldung. Nach ca. 15 Minuten verschwand der Zug komplett von allen Medien, als hätte er nie existiert.“

Also eine Geisterbahn!

Vielleicht könnte die Bahn sie ja auch als Spielzeugvariante im Bordbistro anbieten.

Aber kommen wir zurück zum Thema.

Was das KR-Mitglied geschildert hat, liegt an zerstückelter EDV in unterschiedlichen Firmenteilen, die nicht immer zusammenpasst. Die Verspätung wird also in Software 1 schon angezeigt, muss dann aber noch in Software 2 und 3 übertragen werden. Erst Anfang dieses Jahr suchten Siemens und die Deutsche Bahn Informatiker:innen für Windows 3.11. Die Software kam Ende 1993 auf den Markt. Die Aufgabe war anscheinend: Führerstands-Displaysysteme der Hochgeschwindigkeits- und Regionalzüge zu pflegen, auf denen die wichtigsten technischen Daten in Echtzeit angezeigt werden.

Und? Tut sich da jetzt irgendwas? Wann wird es besser? Du hast doch vorhin Andreas Scheuer erwähnt, ausgerechnet?

Ja, der CSU-Verkehrsminister Andi Scheuer hat zwar nicht gerade einen guten Ruf: als Autobahn-Freund, der das Maut-Debakel mitverantwortet hat.

Aber während Scheuers Amtszeit wurde der CDU-Mann Enak Ferlemann zum Beauftragten der Bundesregierung für Schienenverkehr. Unter ihm interessierte sich der Bund wieder für die Bahn. Die Investitionen in die Bahn begannen zu steigen.

Seit 2021 gibt der Bund mehr für die Schieneninfrastruktur aus". Es zeigt die Pro-Kopf-Investitionen in die Schieneninfrastruktur in Euro von 2011 bis 2022. Die Balken steigen von 56 Euro im Jahr 2011 auf 114 Euro im Jahr 2022, mit einer Spitze von 124 Euro im Jahr 2021. Die Zahlen sind weiß auf dunkelblauen Balken dargestellt, vor einem ebenfalls dunkelblauen Hintergrund. Eine Fußnote besagt "124€: Nachgeholte DB Eigenkapitalerhöhung für Infrastruktur aus 2020". Die Quellenangabe unten rechts ist "Allianz pro Schiene 07/2023 auf Basis von BMVD und BMF

Das Verkehrsministerium lud zum ersten Mal auch Verbände der Bahnbranche ins Haus ein, statt mit der Bahn unter sich auszumachen, wie viel Geld die Schiene bekommen sollte und was sie dafür zu leisten hatte.

Und nach jahrelanger mühseliger Lobby-Arbeit stieg eine Utopie tapferer Bahn-Nerds zur neuen Vision der Bundesregierung auf: Der Deutschlandtakt.

Der Deutschlandtakt: Ein nach vorn und zwei nach hinten?

Nein! Diese Idee könnte Bahnfahren wirklich besser machen. Denn die Bahnstrecken sollen nun nicht mehr nach Belieben, sondern zielgerichtet gebaut werden. So, dass die Strecken irgendwann einen Taktplan erfüllen können, der alle großen Städte einmal die halbe Stunde durch einen Zug miteinander verbindet. Zwischen allen kleineren Städten sollen stündlich Züge fahren. Das würde das Umsteigen erleichtern – und so Zeit sparen.

Okay, das ist eine Vision, von der auch ich mich begeistern ließe.

Der Deutschlandtakt ist so ein bisschen wie schnelles WLAN in ganz Deutschland: Niemand ist dagegen, wenn man abstrakt drüber redet. Aber bei der konkreten Umsetzung, wenn dann vor deiner Haustür die Straße aufgerissen wird, dann wird es schwierig. Genauso ist es auch, wenn eine neue Schnellstrecke durch den Wahlbezirk eines Bundestagsabgeordneten führen soll.

Wieso braucht es denn eine neue Schnellfahrstrecke?

Damit die Züge auch tatsächlich so aufeinander angepasst ankommen können, dass du nicht lange warten musst, müssen manche Bahnen schneller fahren – und dafür ist hin und wieder eine Schnellfahrstecke nötig. Auch manche Bahnhöfe müssten umgebaut werden. Genauer erfährst du das auf der Website des Deutschlandtakts.

Also wird es doch nicht so leicht?

Wie oft beim Klimaschutz: Bekenntnisse sind das eine – die konkrete Umsetzung dann das andere. Und du kannst dir vorstellen: So ein Deutschlandtakt braucht Geld, viel Geld. Ursprünglich war er mal ab 2030 geplant, inzwischen ist die Rede von „Deutschlandtakt 2030+“.

Ah, ist das diese Idee, die erst 2070 kommen soll?

Ja, das hieß es zwischendrin. Verkehrsminister Wissing meinte im März 2023, dass der Deutschlandtakt in 25 Jahren gelebte Realität sein soll. Die Ampel wollte der Bahn dafür bis 2027 40 Milliarden Euro für den Ausbau des Schienennetzes geben. Auf Grundlage dieser Summe berechnete die Deutsche Bahn ihre Ausbauziele für die kommenden Jahre. Andreas Geißler vom Verband „Allianz pro Schiene“ nennt diese Summe substantiell. „Es hätte sehr geholfen und Planungssicherheit bedeutet, wenn jetzt schon die Mittel in voller Höhe gesichert worden wären.“

Hätte?

Dann kam im Oktober das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse dazwischen und damit der Haushaltsstreit. Jetzt kann Wissing der DB nur 32,5 Milliarden Euro zusagen – gestreckt bis 2029. Deshalb hat die Deutsche Bahn nun viele Ausbauprojekte gestoppt. Sie hoffen, so in den kommenden Jahren die geplante Generalsanierung zu stemmen. In der Bahnbranche sorgte die Entscheidung für Verärgerung, schreibt der Tagesspiegel Background. Geißler sagt dennoch: „Die nun beschlossenen zusätzlichen Milliarden für die Schieneninfrastruktur sind aber trotzdem ein wichtiger Schritt vorwärts.“

Auch ein anderes Projekt der Ampelregierung steht in der Kritik: Seit dem 1. Januar 2024 hat sie zwei Subunternehmen, die für die Infrastruktur zuständig waren, zusammengefasst zur InfraGO. Wobei das GO für gemeinwohlorientiert steht. Sie hat begonnen, Bahnverkehr und Infrastruktur zu trennen. Das fordern Expert:innen seit Langem.

Aber: Die Gemeinwohlorientierung steht zwar in der Satzung. Wie sie genau ausgestaltet ist, bleibt noch offen. Dabei kommt es gerade bei solchen Fragen immer aufs Detail an. Und außerdem hat die Bahngewerkschaft EVG (die ohne Weselsky) durchgesetzt, dass sich an den Strukturen der beiden einzelnen Unternehmen in den kommenden fünf Jahren nichts ändern darf – was es erschweren dürfte, die InfraGO effizienter zu machen als ihre Vorgängerinnen.

Schade, dass es so viele abers gibt. Deswegen beginne ich meine nächste Frage mit einem „Und“. Und was braucht es denn jetzt, damit meine Bahn endlich bald pünktlich ankommt?

Du musst kurz stark sein: Das wird eine Weile dauern. Auch wenn die Regierung ab sofort alles dafür tun sollte, das beste Schienennetz Europas zu bauen, müsste dafür jede Menge gebaut werden. Und mehr Baustellen hieße erstmal längere Zugfahrten. Damit es aber mittelfristig besser wird, braucht es zweierlei:

Erstens, Geld für Sanierungen. Sogar der FDP-Mann Wissing fordert deshalb inzwischen einen Infrastrukturfonds mit Geld für die Bahn. Und zweitens braucht es klare und realistische Zielvorgaben vom Bund. Das ganze Hin und Her der vergangenen Jahre wäre so nicht möglich gewesen, wenn es eine langfristige Strategie für die Deutsche Bahn gegeben hätte, die aus mehr besteht als einzelnen Absichtsbekundungen des Verkehrsministeriums. Es braucht deshalb eine ganzheitliche Eigentümerstrategie des Bundes für die Bahn. Einen ersten Entwurf dafür gibt es seit Oktober 2022, im Dezember 2023 befand er sich noch in der Ressortabstimmung. Neueres wissen wir nicht.

Haben eigentlich nur wir in Deutschland solche Probleme? Was können wir dafür von anderen Ländern lernen?

Das mit dem Lernen ist immer schwierig, denn die Geographie prägt, welche Bahnmodelle erfolgreich sind. Japan zum Beispiel ist bananenförmig, es braucht also nur wenige Schnellzugstrecken von Norden nach Süden. In dem geographisch viel breiteren Deutschland würde das nicht funktionieren.

Und auch die politische Organisation des Landes prägt die Bahn. Im zentralistisch organisierten Frankreich etwa funktioniert der Schnellverkehr gut – solange du über Paris fahren willst. Dass in Deutschland alle Bahnstrecken nach Berlin führen, klingt dagegen absurd.

Und was wäre für Deutschland der richtige Weg?

Zumindest im Fernverkehr hat die Bahn ein Monopol in Deutschland, sie ist für ungefähr 96 Prozent des Zugverkehrs verantwortlich. Die Monopolkommission fordert deshalb ihre Zerschlagung, in eine künftig gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft und in Transportgesellschaften. Diese sollen – anders als heute – dann möglichst wenig miteinander zu tun haben.

Die Monopolkommission und Verbände wie Pro Bahn fordern also mehr Wettbewerb auf der Schiene, auf Grundlage von Ausschreibungen vom Bund.

Bedeutet das nicht eine noch stärkere Privatisierung, die in Großbritannien so daneben gegangen ist?

In Großbritannien war das Problem, dass die Regierung in den 90ern auch die Infrastruktur privatisiert hat. Und das ist daneben gegangen. Nachdem sie das allerdings wieder korrigiert hat, steigen die Fahrgastzahlen: Zwischen 1994 und 2018 um 107 Prozent.

Und auch beim Verkehr zwischen Italien und Frankreich oder in Ländern wie Tschechien hat der Wettbewerb dazu geführt, dass das Angebot besser wurde und die Fahrgastzahlen stiegen.

Wir brauchen also noch mehr Flixtrains?

Das ist in der Branche sehr umstritten. Denn grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Modelle, die in anderen Ländern gut funktionieren: Es gibt Länder wie die Schweiz, in denen staatliche betriebene Bahnen erfolgreich sind. Und andere Länder, wie Spanien oder Frankreich, in denen mehr Wettbewerb dafür gesorgt hat, dass immer mehr Menschen Bahn fahren.

Und was ist jetzt der richtige Weg für Deutschland?

Am wichtigsten wäre, dass sich der Bund für einen Weg entscheidet – und den konsequent durchsetzt. Ich muss an dieser Stelle nämlich noch etwas zugeben: Ich hatte oben gelogen.

Womit genau?

Meine vermeintlich perfekte Bahnfahrt endete bitter. Ich habe beim Gesellschaftsspiel knapp verloren. Selbst wenn alles gut läuft, wird Bahn fahren also wohl nicht immer großartig sein.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Bildredaktion und Grafiken: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert


2018 erschien bei Krautreporter bereits ein langer Text über die Deutsche Bahn von Christian Gesellmann.

Die Deutsche Bahn, verständlich erklärt

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App