Kaum aus der Sommerpause zurück, zerfleischt sich die Ampel-Regierung schon wieder. Die einen blockieren die Kindergrundsicherung, die anderen das Wachstumschancengesetz. Und auch die verkündete Einigkeit nach der Klausurtagung in Meseberg dürfte nicht lange halten. Dabei gibt es durchaus Gesetze, bei denen die Ampel Projekte umsetzt, die so in der Großen Koalition noch undenkbar gewesen wären: In der gleichen Woche, in der Christian Lindner (FDP) die Kindergrundsicherung infrage stellte, verabschiedete das Kabinett drei wichtige Gesetzesvorhaben. Sie planen das Legalisieren von Cannabis, erleichtern Ausländer:innen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen und trans Personen, ihren Geschlechtseintrag zu ändern. Die konkreten Gesetzestexte mögen nicht die besten aller Zeiten sein – aber großer Streit blieb in der Koalition aus.
Dabei unterscheiden sich diese drei Gesetzesvorhaben in einem entscheidenden Punkt von den Streitereien der Koalition: Bei ihnen geht es um deutlich weniger Geld. Dass die Ampel Verteilungskämpfe ausficht, ist so offensichtlich, dass es albern wäre, das ein Geheimnis zu nennen. Denn die Ampel befindet sich in einer selbstgewählten Zwickmühle. Einerseits braucht das Land massive Investitionen. Andererseits hat die FDP ausgeschlossen, Steuern zu erhöhen – und will um jeden Preis die Schuldenbremse einhalten. „Deutschland muss weiter der Goldstandard der Staatsfinanzierung bleiben. Und deshalb darf auf den Doppelwumms nicht die Bazooka und dann der nächste Doppelwumms folgen“, sagte Lindner Ende August in den Tagesthemen.
Nun könnte man sagen, Christian Lindner sei schuld an all den Streits. Oder die FDP. Aber das ist zu kurz gedacht.
In dieser Diskussion geht nämlich etwas unter. Denn Deutschland verpasst eine historische Chance. Dass wir sie nicht nutzen, lassen wir der Ampel nur durchgehen, weil wir die Pandemie verdrängen. Versteht mich nicht falsch: Ich kann es niemandem verübeln, möglichst wenig an Corona denken zu wollen, mir geht es genauso. Aber wir verdrängen nicht nur, wie schwer es sich unter einer FFP2-Maske atmen lässt und wie zermürbend die ständige Angst vorm Anstecken ist, die ständige Isolation. Sondern auch, welche wirtschaftlichen Folgen diese Zeit hatte – und immer noch hat. Dabei bilden diese Auswirkungen den Hintergrund, vor dem sich das Verteilungsdrama der Ampel-Regierung gerade abspielt. Aber wenn man sich an daran erinnert, zeichnet sich eine Lösung deutlich ab. Eine Veränderung, die Christian Lindner nicht gefallen wird – und für die es genau deshalb öffentliche Aufmerksamkeit braucht.
Die Pandemie machte die Reichsten dieser Welt unfassbar viel reicher
Im Frühling 2020 entschieden sich Deutschland und große Teile der Welt nicht nur für einen Shutdown, wie es ihn zuvor noch nie gegeben hatte: Cafés, Kneipen, Kinos, alles machte dicht. Es zeichnete sich auch genau deshalb eine massive Wirtschaftskrise ab.
Um diese abzuwenden, pumpten die Bundesregierung und die Notenbanken Geld ins System, viel Geld. Die meisten werden sich erinnern, wie die Bundesregierung die Schuldenbremse aussetzte, mit einem Wumms und dann einem Doppel-Wumms (um Olaf Scholz zu zitieren, erst als Finanzminister und dann als Bundeskanzler). Davon finanzierte sie Pakete, mit denen sie unter anderem Solo-Selbstständige, den Mittelstand, aber auch Lufthansa entlasten wollte.
Wenige dürften auf dem Schirm haben, was die Notenbanken damals machten: Ihre Politik fügte den Volkswirtschaften weltweit neun Billionen Dollar mehr zu. Das ist mehr als das Doppelte des deutschen BIP. Der Großteil dieses Geldes floss in die Finanzmärkte – und erhöhte damit den Wert so gut wie aller Aktien, ganz besonders denen der Techbranche. Es war die Zeit, in der sogar die sonst so risikoscheuen Deutschen anfingen, darüber nachzudenken, ob sie sich nicht doch an die Finanzmärkte wagen sollten. Die Zeit, in der Apps wie Traderepublic boomten – und Kleinaktionär:innen Gamestop-Aktien zum unverhofften Boom verhalfen. Es war auch die Zeit, in der das sowieso schon unvorstellbare Vermögen der Reichsten dieser Welt noch unvorstellbar größer wurde: Im ersten Corona-Jahr 2020 stieg es um 60 Prozent an, so viel wie seit mindestens 25 Jahren nicht mehr, steht im Bericht der World Inequality Database. Mindestens, denn weiter reichen die Zeitreihen der Datenbank nicht.
Einer, der davon besonders profitierte, war Elon Musk. Forbes schätzte Elon Musks Vermögen 2019 auf 22,3 Milliarden Dollar, 2022 lag es schon bei 219 Milliarden. Es hatte sich also fast verzehnfacht. Twitter kostete Musk 44 Milliarden Dollar. Platt gesagt: Ohne die Pandemie hätte sich Elon Musk Twitter, Verzeihung, x.com nicht leisten können – und uns allen wäre viel erspart geblieben.
Auch in Deutschland stieg das Vermögen der Milliardär:innen 2020 in nur einem Jahr um 100 Milliarden Euro an, schreibt der Ökonom Marcel Fratzscher. All das waren Folgen einer Politik, die den Kollaps unseres Finanz- und Wirtschaftssystems verhindert hatte. Trotzdem, dass die Reichen immer reicher wurden, scheint heute weitestgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Obwohl die Pandemie Ungerechtigkeiten so sichtbar gemacht hat wie selten zuvor.
Wir haben sehr schnell aufgehört, über die Ungerechtigkeiten zu reden, die die Pandemie produziert hat. Das macht der Vergleich mit der Finanzkrise klar: Im Jahr 2008 begann sie mit dem Platzen der Immobilienblase in den USA. Die Banken hatten sich verspekuliert und mussten mit Steuergeldern gerettet werden. Dass hier Gewinne privatisiert wurden, während die Allgemeinheit die Verluste zahlen musste, erschien vielen als ungerecht. Die Öffentlichkeit schrie auf und die Zivilgesellschaft auch. Aufgrund der Finanzkrise entstanden 2011 Bewegungen wie Occupy Wallstreet, die mit Slogans wie „Wir sind die 99 Prozent“ wochenlang in der New Yorker Wall Street campierten. Auch wenn die Bewegung sich bald verlaufen sollte, sie prägt die politische Landschaft der USA bis heute. Ohne Occupy wäre es wahrscheinlich nie dazu gekommen, dass linke Demokraten wie Bernie Sanders zumindest Chancen hatten, US-Präsident zu werden. Dass die demokratische Partei nach links rückte, sorgt dafür, dass die Politik von US-Präsident Joe Biden so keynesianisch ist, wie sie es ist.
Die Finanzkrise löste soziale Bewegungen wegen Ungleichheit aus
Heute, nach der Pandemie, ließe sich ähnlich argumentieren. Eigentlich gelten die Argumente von damals heute umso mehr. Denn schon vor der Pandemie ist die Ungleichheit nicht geschrumpft, sondern weiter gewachsen. Um die aktuelle Ungleichheit verwerflich zu finden, muss man schon lange nicht mehr linksradikal sein oder den Kapitalismus abschaffen wollen. Es reicht eigentlich, politisch ein gemäßigter Sozialdemokrat oder liberaler Konservativer zu sein. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) prangert inzwischen die globale Ungleichheit an. Dabei hat er in den 1990er Jahren die globale Ungleichheit mit seinen Programmen noch weiter verschärft – und war deshalb damals der Lieblingsfeind vieler Linker. Gleichzeitig kostet es den Staat inzwischen wieder einiges, neue Schulden aufzunehmen – und die Bundesrepublik hat sich während der Pandemie massiv verschuldet.
Es gibt kaum ein anderes Land, das Arbeit so hoch und Vermögen so niedrig besteuert wie Deutschland. Das erleichtert es Deutschlands Überreichen, ihr Vermögen zu behalten.
Wenn die Frage ist, wie wir unseren Wohlstand sichern, die Klimakrise bekämpfen und die Ungleichheit verringern, könnte man in so einer Situation sagen: indem wir die Steuern für Reiche erhöhen. Das wäre nur fair. So geben die Reichsten Deutschland einen Teil dessen zurück, was sie in der Pandemie bekommen haben. Christian Lindner aber will die Steuern nicht erhöhen. Was also tut die Politik, die Zivilgesellschaft? Nun: nichts. Sie redet höchstens über die Schuldenbremse. Was könnten wir tun? Mindestens mit dieser Forderung auf die Straße gehen, wie nach der Finanzkrise, wo auch in Deutschland immer wieder Zehntausende auf die Straße gingen.
Das allein würde nicht reichen, wäre aber ein Anfang. Denn will man Steuern für Reiche erhöhen, muss man sie dafür auf die eigene Seite holen. Nur wenn neben den progressiven auch konservative Kräfte überzeugt sind, lassen sich Steuern auf Vermögen einführen. Das zeigt politikwissenschaftliche Forschung zum Thema. Und der beste Zeitpunkt, um die Reichen auf unsere Seite zu holen, sind Krisenmomente, unter denen die Ärmsten am meisten gelitten haben, während sie viel für die Allgemeinheit taten. Das gilt besonders für Kriege: Für den New Deal des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt brauchte es höhere Steuern für Gutverdienende, und die wären ohne den Ersten Weltkrieg kaum einführbar gewesen, bei dem besonders junge Männer aus armen Ländern an der Front ums Leben kamen. Diese Besteuerung von Vermögen und hohen Einkommen hat die Basis für den Wohlstand der USA im 20. Jahrhundert gelegt, und auch in Deutschland halfen Vermögensabgaben dabei, den Wiederaufbau zu finanzieren.
Wenn auch in schwächerer Form: Ähnliches passierte während der Pandemie, als es die Allgemeinheit Pflegefachkräften, Sozialarbeiter:innen und Kassierer:innen zu verdanken hatte, dass der Rest der Gesellschaft sein Leben einigermaßen so weiterführen konnte wie bisher. Dafür mussten die sich einer größeren Gefahr aussetzen als alle, die wie ich bequem im Homeoffice weiterarbeiten konnten.
Warum wir jetzt höhere Steuern brauchen
Die Pandemie ist also genau so eine Krise, theoretisch. Sie könnte den Backdrop für die Veränderungen legen, die wir dringend brauchen. Wenn wir nur über sie reden würden. Die Krisen unserer Zeit werden früher oder später dazu führen, dass eine Regierung die Steuern erhöhen muss, wenn sie die Schuldenbremse nicht aussetzen will. Wenn nicht diese, dann die nächste. Die große Frage ist dann aber, wie. Wird Vermögen besteuert oder müssen alle mehr zahlen?
Ideen für eine gerechtere Besteuerung gibt es genug. Zum Beispiel eine niedrige progressive Vermögenssteuer ab einer Million Euro von einem Prozent, so schlägt es die World Inequality Database vor. Oder deutlich höhere Erbschaftssteuern, ab einer Grenze, von der das Einfamilienhaus der Oma nicht betroffen ist. Und mit Regeln, die kleine Familienunternehmen vor der Pleite schützen. Man könnte auch die Regel abschaffen, dass Aktienvermögen einheitlich mit 25 Prozent besteuert wird – und damit deutlich niedriger als Arbeit.
Eine Besteuerung von Vermögen und hohen Einkommen hat die Basis für den Wohlstand im 20. Jahrhundert gebildet. Jetzt könnte sie helfen, dass die Zukunft etwas weniger düster aussieht. Und nebenbei dafür, dass sich die nächste Regierung nicht über jedes teure Gesetzespaket fetzt.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion und Infografiken: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert