Es war ein Erfolg, mit dem sich die SPD bis heute brüstet: 2015 führte sie einen gesetzlichen Mindestlohn von 9 Euro ein, im Herbst 2022 erhöhte sie ihn auf 12 Euro. Aber längst nicht alle Arbeitnehmer:innen in Deutschland verdienen überhaupt den Mindestlohn. Und damit meine ich nicht all die Fälle, in denen Arbeitgeber den Mindestlohn umgehen. Sondern die Menschen, die noch nicht mal ein Recht darauf haben. Dass der Mindestlohn nicht für alle gilt, wusste ich natürlich (wie jede:r, der oder die schonmal ein unbezahltes Praktikum gemacht hat). Mich hat bei meiner Recherche für diese Newsletter-Ausgabe trotzdem überrascht, wie viele Gruppen ausgenommen sind. Hier habe ich eine Übersicht zusammengestellt.
Erste Gruppe: Jugendliche. Wer unter 18 Jahre alt ist, bekommt keinen Mindestlohn. Als das beschlossen wurde, war ich selbst noch minderjährig. Ich weiß noch genau, wie unmöglich ich die Argumentation dahinter fand: Wenn Jugendliche so viel Geld verdienen würden, würden sie ja in Scharen die Schule abbrechen oder zumindest keine Ausbildung anfangen. Wer so denkt, hält auch nichts von einem Wahlalter ab 16. Diese Regel betrifft alle Teenager, mit 13 darf man nämlich in Deutschland anfangen zu arbeiten. Besonders wirkt sie sich aber vermutlich auf 2,5 Millionen Teenager zwischen 15 und 17 Jahren aus.
Zweite Gruppe: Gefangene. Zum Stichtag des 31. März diesen Jahres waren deutschlandweit knapp 42.500 Personen inhaftiert. 60 Prozent von ihnen arbeiten. Laut Bundesverfassungsgericht verdienen sie dafür zwischen 1,37 Euro und 2,30 Euro die Stunde. Das Bundesverfassungsgericht hat im Juni 2023 entschieden, dass das zu wenig ist. Die Löhne dürften also etwas steigen. Wie sehr, müssen jetzt die Länder entscheiden. Sie werden aber wohl deutlich unter dem Mindestlohn bleiben.
Und wer profitiert von dieser Regel?
Laut einer Recherche des Informationsportals FragdenStaat arbeiteten Gefangene in den vergangenen Jahrzehnten unter anderem für BMW und VW, Würth und Villeroy & Boch Fliesen. Teilweise zahlen diese Firmen zwar den Mindestlohn, der Großteil dieses Geldes fließt dann allerdings an die Gefängnisse und kommt so nie bei den Gefangenen an.
Dritte Gruppe: Menschen mit Behinderungen. Für die 320.000 Menschen, die in Deutschland in Behindertenwerkstätten arbeiten, gilt der Mindestlohn überhaupt nicht. Sie verdienen im Schnitt 1,35 Euro die Stunde. Das heißt, sie bekommen für die Arbeit eines Tages weniger als den aktuellen Mindestlohn. Außerdem haben sie kein Streikrecht und statt Betriebsräten nur Werkstatträte – mit wesentlich weniger Rechten. Dabei haben sich die Behindertenwerkstätten in den vergangenen Jahrzehnten professionalisiert, schreibt der Aktivist und Autor Raul Krauthausen bei Zeit Online. So würden etwa viele Fairtrade-Marken ihre Produkte in Deutschland von Menschen in Behindertenwerkstätten verpacken lassen. Damit gelten für diese Waren dann in anderen Ländern härtere Standards als in Deutschland.
Vierte Gruppe: Langzeitarbeitslose. Wer vor seiner Anstellung mehr als ein Jahr lang arbeitslos war, hat die ersten sechs Monate im neuen Job kein Anrecht auf den Mindestlohn. Im Jahr 2023 waren bisher im Durchschnitt 882.700 Personen langzeitarbeitslos – und damit theoretisch von dieser Regel betroffen. Und wer arbeitslos ist und in einer Maßnahme zur Arbeitsförderung steckt, verdient sowieso keine 12 Euro die Stunde.
Fünfte Gruppe: Azubis und Praktis. Es wird seit Jahren überall über zu wenige Auszubildende geklagt. Wohl deshalb hat die Regierung für sie 2020 endlich einen Mindestlohn eingeführt. Der liegt aber 2023 nicht bei 12 Euro die Stunde, sondern bei 620 Euro im Monat im ersten Lehrjahr. Bei einer 40-Stunden-Woche macht das weniger als 4 Euro die Stunde. Momentan gibt es 1,25 Millionen Auszubildende in Deutschland. Der Azubi-Mindestlohn gilt allerdings nur für die, die keinem Tarifvertrag unterliegen. Auch die 330.000 Praktikant:innen in Deutschland im Jahr 2020 hatten unter bestimmten Bedingungen kein Recht auf Mindestlohn: Wenn das Praktikum nicht länger als drei Monate geht und es ein Pflichtpraktikum im Rahmen eines Studiums ist. Wie viele genau das sind, weiß niemand. Aber jede:r, der oder die seit 2015 schonmal einen Praktikumsplatz gesucht hat, weiß: Seitdem sind sehr viele Praktika dreimonatige Pflichtpraktika.
Sechste Gruppe: Selbstständige. Wer keinen festen Arbeitgeber hat, kann sich selbst problemlos ausbeuten. Besonders trifft das die 1,9 Millionen Solo-Selbstständigen. Wie das ermöglicht, dass dein Paketbote vielleicht nur 4 Euro in der Stunde verdient, habe ich hier beschrieben.
Wie viele Menschen in Deutschland ganz legal für weniger als 12 Euro die Stunde arbeiten, lässt sich aus dieser Aufzählung nicht abschließend ableiten. Nur ein Beispiel: Ein Solo-Selbstständiger kann natürlich auch das Dreifache des Mindestlohnes verdienen. Trotzdem, so viel lässt sich mit einiger Sicherheit sagen: Mehrere Millionen Menschen arbeiten in Deutschland für weniger als den Mindestlohn – und das ganz legal.
Schlussredaktion: Martin Gommel, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert