Es ist Ostersamstag und ich schiebe mich durch Menschenmassen und atme warme, parfümierte Luft. Zum ersten Mal, seitdem ich in Berlin wohne, besuche ich das Kadewe, das weltberühmte Luxus-Kaufhaus in Charlottenburg. Cartier, Tiffany, Rolex: Sie alle haben hier separate kleine Geschäfte, gefüllt mit Waren, die ich nur aus Anzeigen in Hochglanzmagazinen kenne und die von eigenen Türstehern geschützt werden.
Außer mir scheint es hier nur zwei Menschengruppen zu geben: Tourist:innen, zu erkennen an ihren praktischen Rucksäcken, vor allem aber an den vorsichtig tastenden Blicken, mit denen sie die Klamotten im Laden messen. Und Leute, für die ein Einkauf im Kadewe eine natürliche Samstagmittagsbeschäftigung darstellt: Sie durchschreiten die Etagen, als wüssten sie genau, in welcher Ecke der Pullover ihrer Lieblingsmarke hängt. Sie sind ganz proper: Haare, Make-up, Klamotten, alles frisch gemacht. Meine weißen Sneakers dagegen sind schmutzig und die Ecken meines Rucksacks abgestoßen. Ich bin hier, um herauszufinden, ob mich der Reichtum anderer neidisch macht.
Warum ich versuche, meinem Neid zu begegnen
Normalerweise bemühe ich mich, meinen Neid nicht allzu genau anzuschauen. Damit bin ich nicht alleine. Nietzsche nannte Neid den Schamteil der Seele. Buddhistische Mönche versenken sich auch deshalb jahrzehntelang in Meditationen, um sich von negativen Anhaftungen wie Neid befreien zu können. Und im Christentum gilt er als eine der sieben Todsünden.
Dass ich mich im dritten Teil des Zusammenhangs über Reichtum entschieden habe, meinem Neid zu begegnen, liegt ausgerechnet an einer anderen Todsünde: dem Zorn. Denn ich ärgere mich jedes Mal, wenn irgendjemand Diskussionen über Ungleichheit mit einem einzigen Wort abtut: Neiddebatte.
Mit diesem Argument erklärte sich zum Beispiel das Handelsblatt, warum es nicht alle tutti fanden, als der Finanzminister Christian Lindner im Sommer 2022 eine Luxus-Hochzeit auf Sylt feierte – und gleichzeitig die Hartz-IV-Sätze für Langzeitarbeitslose kürzen wollte. In der NZZ tut so ein Journalist die Forderung nach höheren Steuern für Besserverdienende in Deutschland ab.
Es gibt gute Gründe, auf reiche Menschen neidisch zu sein
Und Ralf-Dieter Brunowsky geht in der Welt in seinem Kommentar „Lasst die Reichen doch reich sein“ noch weiter: Er schreibt, die Reichen würden viel zu selten verteidigt. „Ich bin kein Reicher, aber ich habe nichts gegen Reichtum, den jeder Lottospieler anstrebt. Die Reichen investieren ihr Geld, es liegt nicht in Dagoberts Keller. Und weil sie es investieren, nimmt ihr Vermögen zu, das ist doch selbstverständlich! Wem schadet das? Wir müssen endlich aufhören, diese Neiddebatten zu führen.“
Dann spricht er sich gegen Statistiken über reiche Menschen aus. Dabei wissen wir sowieso skandalös wenig über Deutschlands Hochvermögende. Dieses Wissen brauchen wir aber, damit wir überhaupt darüber diskutieren können, inwiefern Vermögen gerecht verteilt ist – oder eben nicht.
Hinter dem Schlagwort „Neiddebatte“ steckt eine ganz einfache Logik: Neid sei ein individuelles, ein unpolitisches, vor allem aber ein unmoralisches Gefühl. Deshalb hat automatisch unrecht, wer neidisch ist. So dient das Argument der Neiddebatte als Schutzschild, an dem jeder Ruf nach höheren Steuern für Vermögende abperlt. Du kannst Gerechtigkeit fordern, zumindest etwas Umverteilung in einer Welt, in der die Zahl der Milliardär:innen wächst, während Bürgergeld-Empfänger:innen nach Spenden fragen, um ihr Essen bezahlen zu können. Solange dir dann jemand Neid vorwirft, scheint er oder sie kein weiteres Argument zu brauchen. Dem Handelsblatt-Kommentator bleibt damit Denkarbeit erspart. Als ob es für Neid auf Reichere keine guten Gründe geben könnte!
Aber ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Ich glaube, dass wir den Wert von Neid völlig verkennen, wenn wir ihn tabuisieren. Klar, Neid ist kein schönes Gefühl. Aber wie die meisten unschönen Gefühle hat er eine Funktion: uns auf Missstände aufmerksam zu machen.
Wenn wir dazu stehen, neidisch auf Reichere zu sein, kann der Neid uns sprachfähig machen. Er kann das Tabuthema Geld in Freundschaften und Familien aufbrechen. Und damit die Grundlage für ehrliche Diskussionen bieten, welche Ungleichheit gerecht ist – und welche schon lange nicht mehr. Damit kann Neid uns helfen, den Tatsachen ins Auge zu blicken, dass es eben nicht reicht, sich einfach ein bisschen mehr anzustrengen, um besser über die Runden zu kommen. Und dann können wir gemeinsam darüber reden, welche Art von Umverteilung es vielleicht doch bräuchte.
Wieso es langfristig zufrieden machen kann, neidisch zu sein
Der Sozialpsychologe Jens Lange forscht seit Jahren zu Neid. Er erklärt: Neid entsteht, wenn ich mich nach oben vergleiche, mit einer Kollegin, einer Nachbarin oder einem Freund, der etwas hat, was ich auch gerne hätte, weil es mir wichtig ist. Aber weil man diese Leistung, Errungenschaft oder diesen Besitz eben nicht hat, spürt man ein negatives, schmerzhaftes Gefühl.
Ich bin zum Beispiel neidisch auf Menschen, die im verrückten Berliner Wohnungsmarkt eine gut geschnittene Altbauwohnung im S-Bahn-Ring finden – weil sie die richtigen Kontakte haben. Oder auf Leute, deren Eltern bereit sind, ihnen eine Wohnung hier zu kaufen. Denn in einer schönen Umgebung zu leben, ist mir wichtig.
Der Neid sorgt dafür, dass ich versuche, den Unterschied zwischen mir und meiner Freundin mit der schönen Wohnung auszugleichen. Dafür hat man zwei Möglichkeiten: Erstens kann man versuchen, zu der vermeintlich höherstehenden Person aufzusteigen. In der Sozialpsychologie wird das als gutartiger Neid bezeichnet. Ich könnte mich also umhören, ob mir nicht auch jemand eine schöne Wohnung im S-Bahn-Ring vermitteln könnte. Wenn man seinen Neid so nutzt, kann er tatsächlich sogar hilfreich sein. So ging es KR-Mitglied Martina: Der Neid spornte sie an, ihr Studium zu beenden und das vermeintlich gute Leben mit dem Job zu führen, auf den sie neidisch war. Die Daten legen nahe, dass diese Art von Neid Menschen sogar langfristig zufriedener macht – weil sie es so schaffen, in den Dimensionen voranzukommen, die ihnen wichtig sind.
Aber ich kann mich noch so sehr anstrengen, ich werde nicht auf einmal Eltern haben, die es sich leisten könnten, mir eine Wohnung kaufen. Wenn ich nicht glaube, dass ich in die gleiche Position kommen kann wie diejenige, die ich beneide, empfinde ich wahrscheinlich bösartigen Neid. Das gilt genauso, wenn ich den Vorteil der anderen Person für sehr ungerecht halte. So könnte es zum Beispiel Stephanie gehen. Sie schreibt, dass sie auf ihren Bruder neidisch ist: „Er tätowiert und schwimmt im Geld, ich mache soziale Arbeit und kann kaum mehr meine Miete zahlen.“ Beim negativen Neid missgönne ich der Person, was sie hat und möchte den Unterschied ausgleichen, indem sie zu mir heruntersteigt.
Neid lässt Menschen hässliche Dinge tun
Weil Neid sich also erstmal zwischen mir und Personen in meinem Umfeld abspielt, wirkt dieses Gefühl viel unpolitischer als zum Beispiel Wut über gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. Gleichzeitig lässt Neid Menschen hässliche Dinge tun, egal ob wir ihn gutartig oder bösartig nennen. Er sorgt dafür, dass wir über unsere Geschwister lästern, uns nicht freuen können, wenn ein Schulfreund befördert wird – oder sogar versuchen, Personen zu sabotieren.
Und auch bei vermeintlich gutartigem Neid kann ich miese Mittel an den Tag legen, um mich nach oben durchzukämpfen. Etwa, wenn ich Kolleg:innen unterbuttere, anlüge oder manipuliere. Daher kommt der schlechte Ruf von Neid.
Wenn es um sehr reiche Menschen geht, schwingt aber noch etwas anderes mit, wenn jemand das Argument der Neiddebatte verwendet, sagt der Philosoph Martin Hartmann: „Der Neidische will eine Abkürzung nehmen. Statt zu leisten, will er es denen wegnehmen, die sich ihr Vermögen doch verdientermaßen erarbeitet haben.“ Denn auch höhere Steuern für Wohlhabende zum Beispiel würden ja bedeuten, dass wir ihr Vermögen umverteilen. Das ärgert Hartmann besonders: „Die Leute, die weniger haben, sind also nicht nur unten in der Verteilung, sondern werden auch in gewisser Weise dafür beschimpft, dass sie dann angeblich auch noch neidisch sind.“
Auch ohne Luxus zu lieben, kann ich im Kadewe Spaß haben
Ich sage mal so: Im Kadewe gäbe es auf jeden Fall jede Menge Vermögen zum Umverteilen. Im ersten Stock spricht eine Kadewe-Verkäuferin meine Begleitung und mich an: Ob wir schon von der ein bisschen verrückten Aktion heute mitbekommen hätten? Auf das ganze Haus verteilt gäbe es verschiedene Stationen, an denen wir heute kostenlos Minigolf spielen, Popcorn essen, Keramik bemalen und Blumensträuße binden können. Wenn wir dafür Stempel auf einer Karte sammeln, gäbe es zur Belohnung ein Glas Champagner oder eine Schoko-Überraschung.
Ein kostenloses Glas Champagner? Zur Belohnung dafür, dass wir umsonst Spaß haben? Wir durchforsten sofort alle Stockwerke, um die Stationen zu finden. Beim Blumenstrauß binden teilen wir uns einen Tisch mit Frauen mit großen Taschen mit wichtigen Emblemen, beim Minigolfspielen sind wir die einzigen Erwachsenen. Nur wir halten die Zahl unserer Schläge bis zum Loch auf einem Block fest. Der Tisch zum Keramik bemalen ist immer voll, sodass wir uns stattdessen vom Popcorn den Mund verkleben lassen. Nachdem eine Illustratorin mit niederländischem Akzent uns Blumen auf eine Osterkarte malt, haben wir es geschafft: Die Stempelkarte ist voll und wir fahren für den ersten Champagner meines Lebens in den sechsten Stock.
Es ist kurz vor Ladenschluss, wir müssen uns etwas hetzen, um noch einen der Orte zu finden, an dem wir unseren Gutschein einlösen können. In der Champagner-Bar schaut der Kellner irritiert auf unsere Zettel, dann auf uns. „Die habe ich ja noch nie gesehen. Und dafür bekommt man kostenlosen Champagner?“ Wir nicken. Er zuckt die Achseln und macht uns beiden ein großes Glas voll. Zu meiner Überraschung schmeckt er hervorragend: angenehm mild und das Prickeln steigt mir in den Kopf. Neben mir sitzt ein Grüppchen Männer und Frauen, um die 30. Sie tragen Anzug und Blazer und lachen über die Anekdoten des Mannes in ihrer Mitte. Ich breche verstohlen ein Stück Croissant aus meiner Bäckertüte ab und schiebe es mir in den Mund. Ich bin überzeugt davon, dass niemand hier so viel Spaß hat wie wir. Vom Neid weit und breit keine Spur.
Wieso die sogenannte Neiddebatte oft ein Fake-Argument ist
Selbst in den Momenten, in denen ich mir fremd vorkam, wollte ich nicht mit den Kadewe-Stammgästen tauschen. Das liegt nicht einfach daran, dass ich ein guter Mensch bin oder mir Geld nicht wichtig wäre. Das begreife ich, als der Sozialpsychologe Jens Lange sagt: „Um neidisch zu sein, müssen die Leute einem in gewisser Weise ähnlich sein.“ Ich muss mich sinnvoll mit ihnen vergleichen können. Wer weiß, vielleicht hatten meine Sitznachbar:innen in der Champagner-Bar die Zeit ihres Lebens. Aber ich kann mir die Freuden und Ärgernisse ihres Alltags nur begrenzt vorstellen, weil sie mir zu weit weg von meinen eigenen scheinen.
Tatsächlich sind die Vermögen in Deutschland und der Welt so ungleich verteilt, dass wir sie uns kaum vorstellen können: Die reichsten zehn Prozent der Welt verfügen über drei Viertel des Vermögens und die reichsten zehn Männer besitzen sechsmal so viel wie die ärmsten 3,1 Milliarden Menschen, schreibt Oxfam. Wenn ich schon daran scheitere, neidisch auf die Kadewe-Besucher zu sein, wie soll ich dann Neid für Jeff Bezos oder Elon Musk empfinden? Sowohl Hartmann als auch Lange sind sich deshalb einig, dass Neid bei wirklich großer Ungleichheit keine Rolle spielt.
Wollte ich es mir einfach machen, könnte dieser Text mit dieser Erkenntnis enden. Ich glaube aber, dass wir dann eine wichtige Dimension von Neid übersehen würden. Denn neben der extremen Ungleichheit gibt es ja auch noch die, die wir im Alltag mitbekommen. Ich zum Beispiel bin mit Hartz IV aufgewachsen. Seitdem ich mit elf Jahren aufs Gymnasium gewechselt bin, war ich immer hauptsächlich von Menschen umgeben, deren Eltern wohlhabender waren als meine, wenn auch vielleicht nicht super- oder überreich. Aber sie hatten genug, um keine Sonderanträge stellen zu müssen, damit sie mit ins Schullandheim fahren konnten. Und das Vermögen der Eltern bildete einen Puffer, wenn Kommiliton:innen von mir waghalsige Karriereentscheidungen trafen oder ihr Studium abbrachen.
Vielleicht hatten die Eltern die richtigen Kontakte, wenn es um ein Praktikum in einem begehrten Unternehmen ging oder sie vermittelten ganz indirekt, wie du richtig auftreten musst, um das Praktikum auch ohne solche Kontakte leichter zu bekommen. Gleichzeitig sind mir diese Freund:innen oder Bekannten in vielen Punkten sehr ähnlich. Deshalb war ich auf sie über die Jahre immer wieder neidisch. Dem lag ja aber eine tatsächliche gesellschaftliche Ungerechtigkeit zugrunde.
Was eine gebatikte Wollhose mir über meinen Neid verriet
Ich glaube: Jede:r ist manchmal neidisch auf Menschen mit mehr Geld. Und wenn wir einander zugestehen, über unseren Neid zu sprechen, machen wir das Leben für die ein Stück leichter, die völlig zu Recht neidisch sind: Weil sie seit Jahren mit einem lädierten Fahrrad über die Schotterpassagen des Lebens rumpeln, während andere diese mit dem SUV durchqueren. So schrieb mir ein Krautreporter-Mitglied: „Ich lebe aufgrund von Krankheit von Grundsicherung, ich würde auch gerne einfach mal essen gehen, ins Kino oder einfach nur ein paar unnötige Leckereien im Supermarkt kaufen, ich bin neidisch auf über 90 Prozent der Gesellschaft, ich würde einfach gerne partizipieren.“ Kann man es ihm verübeln?
Glücklicherweise habe ich viele Freund:innen, mit denen ich auch offen über unsere Herkunft und die Rolle von Geld sprechen kann. Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich manchmal vielleicht ein bisschen neidisch bin. Und dafür bin ich dankbar, denn sonst würde ich mich mit diesem Gefühl sehr einsam fühlen.
In der Umfrage stoße ich auf einen sehr klugen Satz von einem KR-Mitglied: Man muss es sich leisten können, nicht neidisch zu sein. Denn wenn das Geld nicht fürs Leben reiche, sei es schwerer, zufrieden zu sein. Schließlich bedeute finanzielle Freiheit auch, sicherer durchs Leben gehen zu können. Wohl deshalb steht „Finanzelle Freiheit“ in der Umfrage unter KR-Mitgliedern auf Platz 1 der Gründe, warum sie neidisch sind. Ein Kadewe-Besuch dürfte zumindest nach Selbstauskunft dagegen auch viele kaltlassen, die Neid auf Reichere empfinden. In der Neid-Umfrage kommt „Ich möchte mir gerne mehr schöne Dinge kaufen können“ nur auf Platz 3. Ein KR-Mitglied beschreibt das so: „Ich bin neidisch auf die absolute Wahlfreiheit: Dir gefällt ein Job nicht, du hast Ärger mit Chef oder Kollegen? Dann geh und suche dir was Neues. Oder mache erstmal Pause. Vielleicht möchtest du ja lieber etwas ganz anderes machen? Oder Zeit in ein Projekt stecken, das dir wichtig ist.“ Finanzielle Freiheiten erlauben einem ja nicht nur, spannende Projekte anzugehen, Geld schützt auch vor Altersarmut und vor schlaflosen Nächten, wenn alles teurer wird.
Und diese Art von Neid spürte ich sehr wohl auch bei meinem Kadewe-Besuch und zwar als ich mich auf die Suche nach dem hässlichsten und gleichzeitig teuersten Kleidungsstück im Kadewe gemacht habe. Ich fand einen Pulli und eine Wollhose, gebatikt in Blau, Braun, Weiß, Einheitsgröße, die an mir herunterhängen würden wie ein Sack. Hätte ich dieses Ensemble in einem Second-Hand-Laden oder in einer Verschenkekiste liegen sehen, ich wäre weitergegangen. Stattdessen hängen sie prêt-à-porter in der Bekleidungsabteilung des Kadewe und würden mich drei Monatsgehälter kosten.
Da stand ich also, hielt die Wollhose in meinen Händen und spürte definitiv ein leichtes Stechen. Ich bin zwar nicht neidisch auf die schönen Gegenstände oder den Luxus. Aber schon darauf, dass es Menschen gibt, die ihr Geld leichtsinnig für solche Scheußlichkeiten verprassen können.
Geld macht vielleicht nicht immer glücklich, aber doch zufrieden
Wie viel leichter ein Leben mit mehr Geld sein kann, merke ich, als ich KR-Mitglied Sven Hertz* in seinem Zuhause in Berlin-Kreuzberg besuche. Er hat in den 1990ern in Immobilien in Berlin und Karlsruhe investiert – und sich so ein richtiges Vermögen aufgebaut. Er ist Multimillionär im mittleren zweistelligen Bereich.
Hertz hat graue Locken und trägt eine goldene Daunenjacke. Er erklärt, er wollte eigentlich nie reich werden, sondern „nur“ finanziell unabhängig. Mit 40 wollte er genug Geld haben, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Dafür habe er in den Neunzigerjahren in Immobilien investiert – erst in Karlsruhe, dann in Berlin. Und er erreichte sein Ziel: „Der 40. Geburtstag war grandios. Ab da habe ich mich immer gefragt: Warum arbeite ich noch? Und trotzdem genauso weitergemacht. Inzwischen bin ich 58 und will aber gerne weiterarbeiten, bis ich 80 bin.“
Auch wenn er betont, dass er phasenweise wahnsinnig viel gearbeitet hat in seinem Leben, konnte er es sich vor der Pandemie leisten, drei Monate im Jahr in den Urlaub zu fahren. Im Kadewe hätte ich ihn wahrscheinlich nicht getroffen, denn Luxus ist ihm nicht besonders wichtig. Er nutzt sein Geld aber, um sich die neuesten Zelte und Schlafsäcke für seine vielen Outdoor-Hobbys zu kaufen. Macht Geld glücklich? Sven sagt: „Es hat schon ein großes Zufriedenheitspotential.“ Er weiß, dass er einfach auch Glück hatte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, deshalb nennt er sein Vermögen „Spielgeld“ und betont, dass er sehr gerne seine Steuern zahlt. Seine Wohnungen vermietet er vor allem an Bekannte und Freund:innen – deutlich unter marktüblichen Preisen. Deshalb hat er auch kein Problem damit, Vermieter zu sein.
Sven sagt, er erlebe immer wieder, dass Menschen neidisch auf ihn sind. Er hat fünf Steuerprüfungen in wenigen Jahren hinter sich, wie er glaubt, weil er angezeigt wurde, obwohl es bei den beiden letzten Prüfungen rein gar nichts zu beanstanden gegeben hätte.
Ich dagegen bin bei meinem Treffen mit Sven nicht wirklich neidisch. Denn ich weiß, dass ich mich in den 90ern nicht getraut hätte, mehrere Häuser zu kaufen. Ich hätte auch keine Lust gehabt, Nächte durchzuarbeiten, wie Sven das die ersten Jahre gemacht hat.
Vielleicht will ich selbst nicht Vermieterin sein oder so reich sein wie Jeff Bezos. Aber trotzdem möchte ich nicht, dass es überhaupt Milliardär:innen gibt, weil ich das erstens einfach ungerecht finde und mich zweitens beunruhigt, wie viel gesellschaftliche und politische Macht so viel Reichtum kaufen kann.
Dahinter steckt bei mir ein Ungerechtigkeitsempfinden und vielleicht auch Wut, aber auch ein Missgönnen, ganz ohne Neid. Das sind subtile, aber wichtige Unterschiede: Wenn ich jemandem missgönne, fünf Yachten zu besitzen, muss es dafür nicht mein sehnlichster Wunsch sein, selbst auf einer rumschippern zu können. Es reicht, davon überzeugt zu sein, dass niemand so viel Geld anhäufen sollte, dass er oder sie sich fünf Yachten kaufen kann.
Aber niemandem möchte ich nach dieser Recherche seinen oder ihren Champagner missgönnen. Dafür, das weiß ich nun, schmeckt er einfach zu gut. Stattdessen werde ich versuchen, meinen Neid zu nutzen, um öfter Champagner zu trinken. Und sei es bei der nächsten Osterrallye im Kadewe.
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Vielen Dank an die über 600 KR-Leser:innen, die an meiner Umfrage teilgenommen haben!
Redaktion: Thembi Wolf und Rico Grimm, Fotoredaktion und Fotos: Philipp Sipos, Illustration: Philipp Beck, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert