Rebecca: Herr Schürz, Sie haben zwei Jobs: Als Vermögensforscher beschäftigen Sie sich mit sehr reichen Menschen, als Psychotherapeut mit traumatisierten Kindern, die oft in Armut aufwachsen. Wie prägt das Ihren Blick auf Reichtum?
Martin Schürz: Dass ich diese Arbeit gewählt habe, hat auch mit meinem persönlichen Hintergrund zu tun. Ich komme aus armen Verhältnissen und bin durch Bildung von einer Klasse in die andere aufgestiegen. Das hat Identitätsprobleme und Beschämungserfahrungen mit sich gebracht. Die Arbeit mit armen Kindern ist deshalb wie ein Zurückkehren in eine vertraute Welt. Ich glaube, wenn man über Reichtum redet, muss man immer auch über Armut sprechen. Meine Arbeit als Psychotherapeut hilft mir enorm, als Vermögensforscher einen realistischen Blick auf die Dinge zu haben – und nicht nur einen zahlengeleiteten.
Haben Sie da ein Beispiel?
Es gibt ja diesen Mythos, dass alle reich werden wollen. Dass das nicht stimmt, sehe ich anhand dessen, was die Kinder erzählen, die zu mir ins Ambulatorium kommen. Ihre Konsumwünsche fallen meistens sehr bescheiden aus. Manchmal hat jemand große Fantasien von Luxusautos. Aber es geht nie um Reichtum.
Warum?
Viele Menschen empfinden Reichtum überhaupt nicht als etwas Gutes. Wenn wir das anerkennen, könnte man beginnen, darüber zu reden, was Nachteile von Reichtumskonzentration sind. Ich verwende deshalb den Begriff Überreichtum.
Was ist Überreichtum?
Ein Einspruch gegen die positiven Konnotationen, die Reichtum sonst hat, wenn wir beispielsweise von den „Superreichen“ sprechen. Überreichtum dagegen soll mit unangenehmen Dingen verbunden sein.
Wie meinen Sie das?
Normalerweise werden arme Menschen gefragt: Was machst du falsch? Bist du zu faul? Bist du zu wenig ausgebildet?
Sprechen wir von Überreichtum, verständigen wir uns als Gesellschaft zum Beispiel darüber, dass es nicht unser gemeinsames Ideal ist, Milliardäre zu werden. Sondern dass wir bei solchen Vermögenskonzentrationen aufpassen müssen, weil sehr vermögende Menschen ihre Macht auch missbrauchen könnten. Dann müssen sehr reiche Menschen Fragen beantworten. Zum Beispiel: Wie können sie ihren Reichtum begründen, wenn in Afrika Kinder zur selben Zeit verhungern?
Macht es einen Unterschied, wie jemand zu seinem Vermögen gekommen ist? Also, ob es ererbt ist oder ob jemand als wagemutige Unternehmerin Erfolg hatte?
Nein, macht es nicht. Als Ökonom interessiert mich natürlich die Herkunft des Vermögens. Aber ich halte Überreichtum grundsätzlich nicht für okay. Weder wenn jemand wahnsinnig tolle Mobiltelefone erfunden hat, noch wenn jemand geerbt hat.
Ist es nicht fair, durch Leistung zu Wohlstand zu kommen?
Für mich ist Leistung nicht die Kategorie, an der sich entscheidet, ob Reichtum begründet ist oder nicht. Von armen Menschen zum Beispiel verlangt man ja auch immer Leistung. Wer erbt, leistet aber nichts. Man könnte also denken, dass Erbe höher besteuert werden muss als Arbeit, wäre etwas, worauf sich alle politischen Lager einigen können. In einer Leistungsgesellschaft scheint das so evident wie kaum etwas. Die Realität sieht aber ganz anders aus. In Österreich gibt es gar keine Erbschaftssteuer. In Deutschland gibt es lauter Ausnahmen, die Erbschaftssteuer ist löchrig wie ein Emmentaler Käse.
Warum ist das so, wenn eine Erbschaftssteuer doch eindeutig gerecht wäre?
Weil hier so viel an Familienwerten und an Gefühlen hinsichtlich des Todes drinsteckt. Die meisten Eltern versuchen, ihre Kinder zu privilegieren. Deshalb ist die Familie hier ein Gerechtigkeitshindernis.
Wie meinen Sie das?
Mein Vater war Fabrikarbeiter – und gegen eine Erbschaftssteuer. Ich konnte ihn nicht überzeugen, dass erstens das Proletariat nichts erbt, wie Karl Marx sagte, und es daher kein Anliegen von ihm sein kann. Ich konnte ihn zweitens auch nicht die völlig ungerechtfertigten Vorteile von vermögenden Erben darlegen. Nach seinem Tod habe ich erfahren, dass er mir was vererbt hat. Er hat trotz eines wirklich niedrigen Einkommens in der Lederbranche, eine der schlechtest bezahlten Branchen in Österreich, etwas für seinen Sohn zur Seite gelegt. Ich glaube, dass er sehr stolz auf diese Leistung war, auch unter widrigsten Arbeitsbedingungen etwas für die Familie getan zu haben. Und dass er deshalb nicht für meine Argumente erreichbar war.
Gefühle zementieren also die Ungleichheit.
Ja, auch auf Seiten der Reichen gibt es diese Idee der Dynastie, die Idee der Familie über die Generationen. In der Banca d’Italia hat man das erforscht. Die haben sich die Vermögenskonzentration im Florenz der Medici im Spätmittelalter angesehen, angesichts der Namen der damals herrschenden Familien. Und sie haben eine ganz erstaunliche Kontinuität bis in die Gegenwart festgestellt – trotz Kriegen, trotz Krankheiten, Pandemien, also trotz aller möglichen Vermögensvernichtungen. Das Erbe hat die Kontinuität der Familienherrschaft sichergestellt. Darum greift, wer eine Erbschaftssteuer will, in zentralster Weise die Identität von vermögenden Menschen an. Deshalb wird die Erbschaftssteuer abgeschwächt: durch einen hohen Freibetrag, eine lange Ausnahmenliste, niedrige Steuersätze und eine Privilegierung der Familie.
Es gibt in Deutschland viele Stiftungen, in denen ererbtes Geld für gemeinnützige Zwecke verwendet wird. Man könnte ja auch sagen, wenn das Geld für einen guten Zweck verwendet wird, ist doch alles super.
Philanthropie halte ich für sehr gefährlich. Denn sie bedingt für mich eine Aushöhlung der Demokratie.
Wieso denn das?
Es ist vermessen, vermögenden Menschen zuzugestehen, dass sie den Zweck bestimmen, für den dieses Geld verwendet werden soll. Letztlich hat so etwas das Gemeinwesen zu entscheiden. In den Daten können wir außerdem sehen, dass Menschen, die weniger verdienen, im Verhältnis zum Einkommen mehr spenden als die Gutverdiener:innen. Ich will keine Gesellschaft haben, die sich in dankbar, aber beschämt Nehmende und generös, sich selbst überhöhende Philanthropen teilt. Deshalb finde ich die Gefühle schwierig, die da vonseiten der Gebenden mitschwingen.
Welche Gefühle denn?
Vonseiten der Gebenden sind das Gefühle wie Güte und Mitleid. Bei Mitleid schwingt die Verachtung mit, wenn von oben nach unten gegeben wird. Und Güte ist oft mit einer Selbstüberhöhung kombiniert. Die Philantropie ist dann für den Geber angenehm, nicht für den Empfänger. Kommen wir von den Gefühlen zu den Zahlen: Ab wann genau bin ich denn zu reich, also überreich? Mein Kriterium ist allein die Höhe des Vermögens und die möglichen negativen Auswirkungen, die das hat. Ob jemand darüber einen Einfluss auf die Politik nehmen kann. Und diesen Einfluss kann die Erbin nehmen, aber auch der Selfmade-Millionär, den es übrigens nur als Bild oder als Mär gibt. Es muss also eine Verletzung der politischen Gleichheit vorliegen, die Demokratie muss durch den Reichtum gefährdet sein. Dies wird nicht der Fall sein bei Menschen in der Mitte der Gesellschaft, die ihr Vermögen zumeist in einer Immobilie haben.
Was ist mit Milliardär:innen, die einfach ruhig ihr Leben fristen, ohne Machtspiele?
Auch zurückgezogen lebende Überreiche sind ein Problem. Alleine schon, weil sie die Möglichkeit haben, Einfluss auf Gesetzgebung oder das Agendasetting zu nehmen. Weil sie vielleicht die Telefonnummern von Politikern haben und auch deren Ohr und Verständnis. Weil sie in Talkshows viel häufiger ihre Anliegen vertreten können. Alle, denen die Demokratie am Herzen liegt, müssten für eine Begrenzung des Reichtums und dessen unheilvollen Möglichkeiten sein.
Sie fordern eine Reichtumsobergrenze. Wo würde die liegen: bei einer Million, bei fünf – oder erst bei einer Milliarde?
Rein ökonomisch lässt sich das nicht sagen, wie viel Prozent vom gesamten Kuchen das oberste Prozent haben soll. Das empfindet jeder anders, es ist ein Bauchgefühl. Deshalb brauchen wir eine gesellschaftliche Debatte darüber. Wo diese Grenze verläuft, verlangt in einer Demokratie nach sozialen Auseinandersetzungen. Nicht nach technokratischen Lösungen.
Was würde besser werden, wenn es keine Milliardär:innen mehr gäbe?
Mein Ziel ist eine egalitärere Gesellschaft, die allen Menschen erlaubt, einander in Würde zu begegnen. Ich will aber aus dieser Defensive heraus, die bei der Frage nach Umverteilung mitschwingt. Bei Vorschlägen zur Vermögens- oder zur Erbschaftssteuer müssen Sie immer begründen, warum Sie jemandem etwas wegnehmen. Sprechen wir über Überreichtum, drehen wir die Debatte: Dann müssen Sie erklären, warum manche so viel mehr haben als die anderen. Denn ich gehe von Gleichheit aus und frage dann: Wie viel an Ungleichheit ist begründet? Und zur politischen Gleichheit gehört, dass es keine zu starken Konzentrationen gibt, etwa von Grund und Boden oder von Geld. Deshalb muss bei beschränkten Ressourcen irgendwo eine Grenze gezogen werden.
Und wofür verwenden wir das Geld, das wir den Milliardär:innen weggenommen haben?
Auch das ist demokratisch zu entscheiden. Ich kann Ihnen aber sofort sagen, wofür ich es verwenden würde. Für null Armut, klar! Innerlich habe ich keine Freude, wenn ich sehe, dass Geld für Militärausgaben zweckgewidmet wird. Aber diese Ambivalenzen muss man aushalten. Es geht aber nicht, dass ein Ökonom der Politik sagt: So und so ist das zu machen. Das wäre ein imperialistischer Anspruch von Ökonomen, der unsere Kompetenz überschreitet.
Als Ökonom können Sie aber diese Frage beantworten: Wie ungleich ist denn unsere Gesellschaft?
Das wissen wir gar nicht, denn die Daten fehlen. Oder es werden die falschen herangezogen: In fast allen Debatten landen die Diskutanten bei irgendwelchen Einkommensunterschieden. Da sind die Differenzen aber vergleichsweise gering. Bei den Vermögen dagegen sind die Unterschiede so groß, dass man sich gar keine Vorstellung davon machen kann. Unsere Bilder für Reichtum passen deshalb auch nicht. Ein Champagnerglas, eine Yacht, eine Luxusvilla, das stellen wir uns unter Reichtum vor. Aber das ist nur ein Bruchteil dessen. Das teuerste Haus der USA kostet 140 Millionen Dollar. Aber was besitzt ein Milliardär, der 200 Milliarden hat? Wie stellen wir uns das vor? Das können wir nicht, deshalb brauchen wir Daten.
Und dann?
Die schlichten Daten würden offenlegen: Nur über Arbeit ist Reichtum nicht erreichbar. Sondern über Familienverbünde, über Schenkungen, Erbschaften, über staatliche Hilfeleistungen. Daten würden erlauben, günstige Gefühlszuschreibungen gegenüber den Reichen zu prüfen. Zum Beispiel dieses Bild, das Sie vorhin erwähnten, vom mutigen, innovativen Unternehmer, der so viel Risiken auf sich nimmt und daher belohnt werden muss. Bei allen Daten: Auch Ökonomen setzen sich übrigens zu selten mit Gefühlen auseinander.
Ihr Vorschlag, eine Obergrenze für Reichtum einzuführen, ist relativ weit weg von der Lebensrealität.
Sie haben das sehr höflich formuliert. Mir ist völlig klar: Erfolg werde ich keinen haben. Allzu oft wird aber so getan, als ob etwas Blödsinn wäre, bloß weil es nicht durchsetzbar ist. Aber soll man deswegen sagen, es ist alles wunderschön und die Armut ist eine Folge davon, dass manche nicht genügend Initiative haben? Mein Argument ist wichtig, auch wenn die Erfolgschancen minimal sind.
Entmutigt Sie das nicht?
Viele der Kinder und Jugendlichen, die zu mir in die Therapiesitzung kommen, müssen durch lange Phasen der Ohnmacht gehen. In diesen Zeiten geht es einfach darum, durchzuhalten. Dieser Gedanke hilft mir.
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Vielen Dank an Robert, Helene, Stefan, Axel, Ulrike, Jens, Elvira, Johannes und Daniel für ihre Fragen
Redaktion: Thembi Wolf; Fotoredaktion: Philipp Sipos; Illustration: Philipp Beck; Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger