Seit elf Jahren kämpft die Bundeswehr – um Nachwuchs. Im Jahr 2011 setzte der Bundestag die Wehrpflicht aus. Eine Ära ging zu Ende, in der Jugendliche aller Herkunft verpflichtend über den Armeedienst nachdenken mussten. Wer heute noch zum Bund geht, muss überzeugt werden. Macht das die Bundeswehr zur Armee der Armen?
Das jedenfalls vermutete der Militärbischof Sigurd Rink 2018 im Tagesspiegel. Immer mehr Menschen „von der ökonomischen Verliererseite“ würden in die Bundeswehr eintreten. Er befürchtete eine „Unterschichtarmee“, wenn junge Menschen nur noch wegen des Geldes zur Bundeswehr gingen und am Ende auch für Deutschland in den Krieg zögen. Billiges Kanonenfutter für die Kriege der Oberschicht, sozusagen.
Aber stimmt das? Franziska* ist 23 und gehört zu den Menschen, die Rink beschreibt. Franziska ist Soldatin, eine der über 5.000 Student:innen bei der Bundeswehr – und kommt aus einem armen Haushalt. Ihre Eltern, beide ohne Hochschulabschluss, verdienten gerade so viel, dass es für Wohnung und Essen reichte. Wenn ihre Klassenkamerad:innen von langen Sommerurlauben erzählten, träumte Franziska auch vom Wegfliegen. „Für mich gab es nur Urlaub, wenn die Stadt Förderprogramme für sozial benachteiligte Kinder ausgeschrieben hatte“, sagt sie.
In einem Jahr wird Franziska ihre Abschlussarbeit abgeben und Oberleutnant sein. Sie wird mehr verdienen als ihre Eltern und sich die Indienreise leisten können, die in ihrer Jugend unerreichbar schien.
Franziska hat die Verpflichtung als Soldatin den Bildungsaufstieg ermöglicht. Sie bekommt eine kostenlose Ausbildung und die Bundeswehr eine loyale Mitarbeiterin. Warum also ist es problematisch, wenn junge Menschen durch Militärdienst eine Chance auf sozialen Aufstieg haben?
Zwischen Patriotismus und Poverty Draft
In den USA wird darüber schon seit Jahrzehnten diskutiert. In einem Gastbeitrag im Atlantic schrieb der Militärsoziologe Charles Moskos 1986: „Für arme Schwarze und arme Weiße gab es schlicht nichts anderes als die Armee.“ Die kämen aus den strukturschwachen Regionen der USA, seien gebeutelt von Arbeitslosigkeit und – im Falle der schwarzen Bevölkerung – benachteiligt durch rassistische Diskriminierung.
Dieser Text ist Teil der Artikelserie „Was du über die neue Bundeswehr wissen musst“. In der Serie habe ich gezeigt, wie die Bundeswehr sich nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine verändert hat – und was das für Deutschland bedeutet. Das interessiert dich? Dann abonniere hier kostenlos meinen Newsletter.
Die Army warb zu dieser Zeit offen mit schulischen und wirtschaftlichen Vorteilen. Aber auch mit Gemeinschaftssinn und Patriotismus. Gerade den jungen Menschen, die in großer Unsicherheit aufgewachsen sind, bot die Armee ein Gefühl der Stabilität und die Möglichkeit, Teil von etwas zu sein, was viele von ihnen vielleicht noch nie erlebt hatten – ein Leben frei von finanziellem Druck und mit einem starken Korpsgeist. Mit dem Gefühl, sich umeinander zu kümmern. Das hat Folgen: 2005 haben Zahlen des Pentagons gezeigt, dass fast die Hälfte aller neuer Rekrut:innen aus einkommensschwachen oder armen Haushalten kämen. In den Achtzigern etablierte sich dafür der Begriff „Poverty Draft“, also Armutsrekrutierung. „Mit dem Aufkommen der Freiwilligenarmee wurde der weiße Mittelklasse-Soldat zu einer vom Aussterben bedrohten Art“, schreibt Moskos.
Noch heute, 40 Jahre später, ist die Argumentation in US-amerikanischen Debatten ähnlich. Der teure Collegebesuch lässt sich mit einem Armeegehalt viel besser bezahlen. Und Soldat:innen bekommen eine sichere Arbeitsstelle in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit. Diese Haltung zeigt sich sogar in der Rekrutierung. Auf eine Anfrage im Rahmen des Freedom of Information Act des Nachrichtenmagazins „Education Week“ muss die Army zugeben, dass sie in Connecticut mehr als zehnmal so oft in Schulen Anwerbegespräche führen, die in armen Bezirken liegen. Nun könnte man sagen, dass es doch gut ist, dass besonders in den Gegenden nach Nachwuchs gesucht wird, wo die Army wenigstens eine Perspektive gegenüber der Arbeitslosigkeit bieten würde. Zur Erinnerung: Alleine in den Kriegen in Afghanistan und Irak sind über 6.000 amerikanische Soldat:innen gefallen. Und alleine zwischen 2000 und 2010 haben sich 2.700 aktive Soldat:innen das Leben genommen. Die Obdachlosigkeit unter Kriegsveteranen ist groß, ein Viertel aller Obdachlosen hat in den amerikanischen Armeen gedient. Von einem Aufstieg ist da keine Sicht.
„Verostet“ die deutsche Bundeswehr?
Passiert das in Deutschland auch und rekrutiert die Bundeswehr besonders viele arme Menschen? Der Historiker Michael Wolffsohn und der Sozialwissenschaftler Maximilian Benisch formulierten 2016 in der Welt den Vorwurf, die Bundeswehr würde in strukturschwachen Regionen immer mehr zu einer alternativlosen Arbeitgeberin werden.
Wenn junge Menschen nur noch wegen des Geldes zur Bundeswehr gehen, entwickle sich eine Art Parallelgesellschaft. Die regionale Zusammensetzung der Bundeswehr sei dann kein „Spiegel der Gesellschaft“ mehr, sondern beispielsweise des wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Ost-West-Gefälles. „Das Militär verostet“, schrieben die Autoren.
Ganz unrecht haben sie nicht. Auch die Idee der Wehrpflicht war es, die Bundeswehr vielfältger zu machen. Wenn alle gesellschaftlichen Milieus zumindest kurzzeitig bei der Bundeswehr sind, findet ein Austausch statt, der extremistische Tendenzen verringert. Fällt das weg, glauben Expert:innen, könnte die Gefahr durch zum Beispiel rechtsextreme Gruppierungen oder auch mindestens geschmacklose Rituale innerhalb der Truppen wachsen.
Die Bundeswehr ist in Deutschland mit 250.000 Mitarbeiter:innen eine der größten Arbeitgeberinnen. Sie spielt in einer Liga mit Unternehmen wie Rewe und VW und konkurriert mit ihnen um gut ausgebildete Fachkräfte. Der Kampf um junge Menschen ist hart.
Auch zu Zeiten der Wehrpflicht war das schon so, das habe ich selbst erlebt. Für die Musterung musste ich kurz vor meinem 18. Geburtstag nach Düsseldorf ins Kreiswehrersatzamt fahren. Graue Gänge, viele junge Männer, die unmotiviert darauf warteten, von dem Bundeswehrarzt auf ihre Tauglichkeit untersucht zu werden. Ein paar haben Strategien ausgetauscht, um ausgemustert zu werden.
Zum Termin gehörte auch eine kurze Präsentation der Bundeswehr als Arbeitgeber: Tolle Karrieremöglichkeiten wurden mir angepriesen. Auch nach der Zeit bei der Bundeswehr hätten wir ausgezeichnete Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Als Abiturient und angehender Akademiker schien ich besonders interessant für den Rekrutierer. Aus Höflichkeit – und weil es tatsächlich spannend klang – behauptete ich, ich würde mal über das Angebot nachdenken. Ich hatte als Jugendlicher immer Geldprobleme und wenig Ambitionen, da schien mir eine Karriere mit automatischen Gehaltssprüngen sehr verlockend.
Ein paar Monate später, nach meiner Verweigerung, erhielt ich einen Brief: Meine Verweigerung sei abgelehnt worden, weil ich doch Interesse an der Bundeswehr gezeigt hätte. Erst meine zweite Verweigerung wurde angenommen und ich trat zum Zivildienst in einem Altersheim an.
Indienreise statt Nebenjob
Franziska, die junge Soldatin mit der Indienreise, entschied anders. Auch sie stand nach ihrem Abitur vor einer schwierigen Entscheidung. Ein Studium kostet Geld: Das Deutsche Studentenwerk rechnet zwischen 36.000 und 75.000 Euro über fünf Jahre. Wohnen, Essen und Lehrmaterial kosten eben. Für Franziska war das undenkbar. „Meine Eltern hätten mir niemals ein Studium finanzieren können. Und ich wollte mich nicht verschulden, nur um am Ende vielleicht niemals einen Job zu finden.“
Gerade mal 27 von 100 jungen Menschen, die aus einem Nichtakademiker:innenhaushalt kommen, entscheiden sich für ein Studium. Haben die Eltern studiert, sind es 79 von 100. Auch während des Studiums bestimmt die Herkunft das Leben. Um das Studium zu finanzieren, arbeiten fünf Prozent weniger Kinder aus Akademikerhaushalten als ihre Kommiliton:innen aus Nichtakademikerhaushalten. Und die, die es tun, haben auch noch höher qualifizierte Jobs.
Bei der Bundeswehr verdient Franziska während des Studiums Geld und weiß, dass sie nach ihrem Abschluss noch neun Jahre einen festen Job und eine planbare Karriere vor sich haben wird. Sie wird Führungsverantwortung haben, die auch nach ihrer Zeit bei der Bundeswehr im Lebenslauf steht.
Franziska hatte nach dem Abitur ein Angebot für eine Ausbildung als Mediengestalterin. Von den 600 Euro Ausbildungsgehalt hätte sie selbst ein WG-Zimmer nicht bezahlen können. Wäre Franziska auch zur Bundeswehr gegangen, wenn die Eltern ihr ein ziviles Studium bezahlt hätten? Franziska überlegt lange. Dann sagt sie: „Vermutlich nicht. Sich 13 Jahre zu verpflichten, ist eben auch eine ganz schön lange Zeit.“
Ist die Bundeswehr also tatsächlich ein Aufstiegsmotor – oder lockt sie als Arbeitgeber ohnehin schon benachteiligte Menschen mit Geld in einen gefährlichen Beruf?
Wer zur Bundeswehr geht
Das Problem: Es gibt kaum Daten darüber, wie die Bundeswehr zum sozialen Aufstieg beiträgt. Am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr wollte ein Dissertationsprojekt diese Frage beantworten, zu Ende geführt wurde es aber nie.
Es bleiben nur ältere Befragungen. Die bestätigen, dass die Student:innen an den Bundeswehruniversitäten in Hamburg und München häufiger aus Nichtakademiker-Haushalten kommen, als es an zivilen Universitäten der Fall ist. 2007 haben Forscher:innen zeigen können, dass in der Offiziersausbildung 38 Prozent der Student:innen aus einem Akademikerhaushalt stammen. Noch früher hat eine Studie, die die soziale Herkunft der Soldat:innen untersucht, gezeigt, dass sich viele Soldat:innen von den Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten der Bundeswehr überzeugen ließen. Junge Menschen, die bereits auf dem Weg zur akademischen Karriere sind, seien seltener darunter. Die Autorin Nina Leonhard schreibt: „Viele Abiturienten nehmen die Streitkräfte als Beschäftigungsfeld erst gar nicht wahr.“
Auch in Deutschland taucht der Vorwurf immer wieder auf, die Bundeswehr würde arme Menschen ausnutzen und mit einem sicheren Arbeitsplatz locken. Die Linke erfragte 2007 beim Verteidigungsministerium, ob die Bundeswehr eigentlich direkt bei den Arbeitsagenturen rekrutiere. Die Bundesregierung bestätigte, dass die Bundeswehr sich Hartz-IV-Empfänger:innen als „attraktive berufliche Perspektive“ anbiete. Eine Studie von 2010 ergab, dass junge ostdeutsche Männer in überproportionaler Zahl an Auslandseinsätzen teilnahmen.
Der verteidigungspolitische Sprecher der Linksfraktion, Matthias Höhn, sagte damals: „Die Entscheidung für den gefährlichen und verantwortungsvollen Einsatz mit der Waffe sollte nicht durch sozioökonomische Zwänge befördert werden.“
Aufwärtstrend trotz Lebensgefahr
Soldat:in zu sein ist kein Job wie jeder andere. Das Töten gehört zum Berufsbild, und im Einsatz besteht Lebensgefahr. Seit Beginn der Auslandseinsätze der Bundeswehr 1992 sind etwa 400.000 Soldat:innen im Ausland gewesen. 115 von ihnen gefallen und alleine 2021 sind bei 210 Soldat:innen Posttraumatische Belastungsstörungen durch ihren Einsatz diagnostiziert worden.
Auch für Student:innen an Bundeswehr-Hochschulen gilt die Verpflichtung, an einem Auslandseinsatz teilzunehmen. Franziska wusste, worauf sie sich eingelassen hatte. Bei den Bewerbungsgesprächen sei immer sehr klar gewesen, dass „das Gewehr nicht nur zur Zierde“ sei. Es habe natürlich Diskussionen in der Familie und im Freundeskreis gegeben, sagt Franziska. „Besonders meine Mutter hatte lange Zweifel.“ Auf der Internetseite, auf der die Bundeswehr für eine Laufbahn als Soldat:in wirbt, präsentiert sich die Truppe als moderne Arbeitgeberin. Es gibt Diversity-Beauftragte, bei denen „berufliche Weiterbildung groß geschrieben wird“ und selbst Heimarbeit und Job-Sharing seien möglich.
Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges interessieren sich tatsächlich mehr Menschen für eine Karriere bei der Bundeswehr. Alleine im März 2022 kamen 11.000 Menschen zu den Beratungsterminen bei den Bundeswehr-Karrierecentern – fast doppelt so viele wie vor dem Krieg.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger