Eigentlich wollte ich diese Woche keinen Newsletter schreiben, aber am vergangenen Donnerstag ist etwas passiert, das uns alle direkt treffen wird: Wirtschaftsminister Robert Habeck hat die Gaswarnstufe 2 verkündet. Hört sich dramatisch an. Ist es auch. Aber was bedeutet dieser Schritt genau? Ich gebe dir Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Warum ist die Lage so dramatisch?
Darauf gibt es eine offensichtliche Antwort und zwei, die wir nicht vergessen sollten. Fangen wir mit der offensichtlichen an: Damit wir in warmen Wohnungen über den Winter kommen und der Industrie das Gas nicht ausgeht, müssen die Gasspeicher über den Sommer gefüllt werden. Auf den ersten Blick sieht es hier ganz gut aus, der aktuelle Speicherstand liegt bei 56 Prozent. Aber seit zehn Tagen leitet Russland 40 Prozent weniger Gas durch die entscheidende Pipeline Nordstream 1. Deshalb können wir die Speicher nicht auf die 90 Prozent füllen, die (aus gutem Grund) gesetzlich vorgeschrieben sind.
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Warum das alles so ist? Jetzt wird es bitter, denn die eine Antwort auf diese Frage lautet: Weil wir die Energiewende verschlafen und uns von Putin abhängig gemacht haben. Dass die letzten Regierungen Gasheizungen gefördert haben, statt dafür zu sorgen, dass es im ganzen Land Wärmepumpen und Windräder gibt, hat uns in diese Situation katapultiert. (Ich hoffe, dass nach dieser Zeit wenigstens kein Journalist jemals wieder fragt, wie viel uns die Energiewende kosten wird.)
Eine zweite bittere Antwort: Wir stecken in dieser Situation auch, weil Putin es sich leisten kann, Deutschland vom Gas abzuschneiden. Das war vor ein paar Monaten noch nicht der Fall. Aber er profitiert von den gestiegenen Gaspreisen und hat außerdem einen neuen Abnehmer gefunden: Russland ist inzwischen Chinas größter Gaslieferer – und deshalb nicht mehr auf Europa angewiesen.
Was bedeutet die 2. Stufe des Notfallplans Gas?
Drei Warnstufen gibt es. Mit Ausrufen der zweiten will Robert Habeck sagen: Es ist ernst. Wir müssen sparen, und zwar alle und sofort. Ein bisschen erinnert mich die Situation an den Beginn der Pandemie, als die Zahlen noch niedrig waren: Gerade ist alles okay. Aber wenn wir weitermachen wie bisher, werden wir bald ein großes Problem haben. Verzicht dürfte bald schon keine freiwillige Entscheidung mehr sein.
Unternehmen haben mit dem Sparen schon vor einer Weile begonnen und verbrauchen deshalb jetzt acht Prozent weniger Gas als noch vor ein paar Monaten. Auch wir sollten an jeder Ecke sparen, an der es geht. Tipps hat die Verbraucherzentrale. Apropos Sparen, kleiner fun fact: Falls du diesen Sommer im Freibadwasser schneller frierst als sonst, hast du das richtige Bauchgefühl. Zumindest in Berlin. Denn dort sind die Becken wegen des Gasmangels zwei Grad kühler als sonst, schreibt der Tagesspiegel.
Das Wirtschaftsministerium bereitet derweil schon die nächsten Schritte vor: Denn mit der Warnstufe ist die gesetzliche Grundlage gegeben, um die Kohlekraftwerke weiter laufen zu lassen. Daneben könnte Gas aber bald auch für uns alle erheblich teurer werden, dazu unten mehr.
Was passiert als Nächstes?
Der Zeitpunkt, auf den gerade alle schauen: Nord Stream 1 wird Mitte Juli wie jedes Jahr für zehn Tage gewartet. In dieser Zeit fließt kein Gas, wie jedes Jahr. Alle befürchten, dass Putin die Wartung als Ausrede verwendet, um die Liefermenge danach noch weiter zu drosseln oder sogar ganz zu stoppen. Tut er das, könnten sich die Preise für Heizen von Gebäuden verdoppeln, vielleicht sogar verdreifachen, sagt der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller.
Und anders als bisher können dann die Gaskonzerne ihre Preise sehr wahrscheinlich direkt an uns alle weitergeben. Denn das erlaubt das Energiesicherungsgesetz, wenn die Bundesnetzagentur eine „erhebliche Reduzierung“ der Gasmengen feststellt, die nach Deutschland importiert werden. Dann steigt die Gasrechnung nicht mehr einmal im Jahr, sondern die Tarife können sich von einer Woche auf die nächste ändern. Auf Zeit Online spricht der Ökonom Jens Südekum davon, dass unsere Rechnungen dann vier- bis sechsmal so hoch ausfallen könnten. Das will eigentlich niemand, noch nicht mal der Lobbyverband der Gaswirtschaft. Deshalb ist Habeck diesen Schritt noch nicht gegangen. Aber wahrscheinlich wird es an irgendeinem Punkt in den kommenden Wochen oder Monaten nicht anders gehen.
Denn weil das vertraglich vereinbarte Gas aus Russland nicht mehr in den gleichen Mengen kommt, müssen die großen Energiekonzerne wie RWE gerade Gas zu den hohen Weltmarktpreisen einkaufen und dafür Sicherheiten hinterlegen. Das bringt sie in finanzielle Schwierigkeiten, die dann noch größer werden. Die Energiekonzerne dürfen aber auf keinen Fall pleite gehen. Denn das könnte die regionalen Energieversorger taumeln lassen, was wiederum die Unternehmen zu spüren bekommen könnten. Im schlimmsten Fall würden alle nacheinander wie Dominosteine umfallen, ähnlich wie in der Finanzkrise 2008 nach der Pleite von Lehman Brothers.
Gerade suchen alle verzweifelt nach einem passenden Ausgleichsmechanismus für die Bevölkerung, in der FAZ zum Beispiel macht Jens Südekum den Vorschlag eines Energiesparbonus. Gleichzeitig hat Habeck am vergangenen Donnerstag im RTL Nachrichtenjournal gesagt, dass er glaubt, eine Preiswelle sei nicht mehr abzuwenden.
Es lässt sich nicht drumrumreden: Das sind alles schlechte Nachrichten. Hoffen wir, dass sich Lösungen finden lassen, unter denen wir möglichst wenig leiden.
Redaktion: Esther Göbel, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert