Die Lieferketten funktionieren seit der Pandemie nicht mehr reibungslos. Über 80 Prozent der deutschen Unternehmen im Einzelhandel und im verarbeitenden Gewerbe haben im Dezember 2021 berichtet, dass es für sie immer schwerer wird, an Waren zu kommen.
Chris Rogers ist Lieferkettenökonom und arbeitet für das Logistikunternehmen Flexport. Er befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen Logistiknetzwerken, Handelspolitik und industriellen Entscheidungen. Hier erklärt er, dass auch die Kunden an den Engpässen schuld sind und wieso Deutschland vergleichsweise gut wegkommt.
Wenn ich mir ein E-Auto, eine Playstation oder ein Fahrrad kaufen will, muss ich zurzeit monatelang warten. Warum ist das so?
Das offensichtliche Problem ist, dass die Menschen in der Corona-Pandemie häufiger krank werden. Wer krank ist, kann nicht in die Fabrik gehen oder Lastwagen fahren. Fest steht: Die Lieferketten sind zurzeit viel anfälliger als sonst. Es gibt aber auch noch tieferliegende Gründe dafür.
Bevor wir zu diesen Gründen kommen, würde ich gerne die Grundlagen verstehen: Was genau macht eine Lieferkette aus?
Bevor ein Produkt, etwa die Playstation, bei Ihnen ankommt, wird es hergestellt. Aber um vom Herstellungsort zu Ihnen zu gelangen, muss es viele Stufen durchlaufen. Es muss von der Fabrik in ein Lagerhaus gebracht werden, wo es in Kisten oder in Container verpackt wird. Vom Lagerhaus muss es zu dem Hafen, von dem es verschifft wird. Sagen wir, etwa in eine Hafenstadt in China. Wenn es an diesem Hafen ankommt, muss es durch den Zoll. Jemand muss sich also um den ganzen Papierkram kümmern. Dann wird es auf ein Schiff verladen. Das Schiff fährt über den Ozean, und alles muss in umgekehrter Richtung passieren: ausladen, verzollen, weitertransportieren. Dann kommt es in einem Lagerhaus an, geht an ein Geschäft oder eine Lagerhalle, um über eine Webseite verkauft zu werden, und dann kommt es schlussendlich zu Ihnen.
An diesem Prozess sind mehr als ein Dutzend Unternehmen beteiligt. Es braucht nur ein Problemchen an einem Punkt zu geben und alles verzögert sich. Zum Beispiel ein Streik in einem Hafen. Oder ein Hochwasser auf einem Fluss, das einen Lastkahn aufhält. Verzögerungen in Lieferketten gab es also schon immer. Hinzu kommt: die Playstation wird nicht nur in einer Fabrik hergestellt. Das Gehäuse, die Chips, das Laufwerk – alles kommt aus anderen Orten.
Warum haben Unternehmen seit den 1980ern immer weniger Produkte gelagert und sich alles direkt liefern lassen, wenn Lieferketten so anfällig sind?
Aktienunternehmen müssen maximale Gewinne für ihre Eigentümer erwirtschaften. Dazu gehört auch, möglichst wenig Kapital in Vorräten gelagert und somit gebunden zu haben. Denn dann kann es nicht als Dividende ausgezahlt oder für das Wachstum reinvestiert werden. Deshalb setzen viele auf die Just-in-time-Produktion.
Die Pandemie hat die Lieferketten also anfälliger gemacht als je zuvor. Sie sprachen aber von tieferliegenden Problemen. Welche sind das?
Das erste Problem habe ich schon erklärt: Überdurchschnittlich viele Menschen sind gleichzeitig krank. Oder eine Regierung will nicht, dass die Seeleute die Boote verlassen, weil sie die Krankheit verbreiten könnten. Das sind alles Probleme, die während der gesamten Pandemie aufgetreten sind, die aber mit der Geschwindigkeit, mit der sich Omikron ausbreitet, an Bedeutung gewinnt.
Aber es gibt noch ein zweites Problem, an dem wir alle schuld sind: Wir haben in der Pandemie mehr Gebrauchsgegenstände gekauft. In den Lockdowns haben die Menschen ihr Geld entweder gespart oder es statt für einen Theaterbesuch für neue Fahrräder oder Laptops ausgegeben. Und die Leute geben weiterhin mehr für Waren aus als vor der Pandemie. Deshalb müssen mehr Waren durch ein Logistiknetz transportiert werden, dass viel löchriger ist als üblich.
Trotzdem trifft das Problem Länder sehr unterschiedlich. In den USA kamen Halloweenkostüme teilweise erst im Januar an, hier in Deutschland bekommen wir die Lieferkettenengpässe weniger zu spüren. Woran liegt das?
Die Konsumausgaben sind in den USA stärker gestiegen als in Europa, weil deren Konjunkturpaket größer war. Außerdem kommen in den USA die meisten Konsumgüter aus Asien über den Pazifik und kommen in nur zwei oder drei Häfen an. Es gibt also eine starke geografische Konzentration. In Europa verteilt sich das viel mehr, keiner der Häfen ist überlastet.
Es gibt auch eine technische Seite: Viele europäische Häfen sind stärker automatisiert. Wenn Menschen krank werden, sind die Auswirkungen also geringer.
Wie lösen Logistikkonzerne diese Probleme?
Wir raten unseren Kunden: Okay, wenn ihr eure Transport-Deadlines nicht mit großen Schiffen und in große Häfen schaffen könnt, dann verwendet kleinere Schiffe, die kleinere Häfen anlaufen können. Es ist aber, als wenn im Supermarkt an einer Kasse eine lange Schlange ist und eine Verkäuferin eine weitere aufmacht. Alle sagen: „Oh, lasst uns dorthin gehen“. Sie stellen sich an – und die nächste Schlange staut sich.
Eine andere Möglichkeit ist es, Waren mit Flugzeugen einzufliegen. Das ist viel teurer. Aber dann sind sie immerhin pünktlich da.
Das ist eine kurzfristige Strategie. Welche langfristigen Lösungen gibt es?
Wir haben eine Kapazitätengrenze bei den Containerschiffen erreicht. Da hilft nur, mehr Containerschiffe zu bauen. Die brauchen aber ein paar Jahre, bis sie ausgeliefert werden. Tatsächlich haben wir einen großen Aufschwung bei der Nachfrage nach neuen Schiffen erlebt. Heute werden viermal so viele Schiffe gebaut wie zu Beginn der Pandemie.
Ein besonderes Problem, das auch mit den Lieferketten zusammenhängt, ist, dass Halbleiter fehlen. Sie werden für die Chip-Herstellung gebraucht. Das hat eine weltweite Krise ausgelöst.
Auch hier haben wir die Kapazitätsgrenze erreicht. Sie können nur eine bestimmte Anzahl an Halbleitern bauen, bevor Sie eine neue Fabrik brauchen. Die Halbleiterindustrie ist sehr effizient aufgebaut. Die meiste Zeit laufen die Fabriken also bereits mit einer sehr hohen Kapazität. Plötzlich wollen aber alle neue E-Autos, in denen viel mehr Halbleiter verbaut werden, als in traditionellen Autos. Jeder will die Playstation, jeder will den Computer, will den Fernseher. Alles ist mit mehr Chips ausgestattet als in der Vergangenheit, aber es gibt keine zusätzlichen Fabriken.
Die großen Chiphersteller sagen jetzt: Seht her! Wir planen, Milliarden von Dollar in neue Fabriken zu investieren. Sie werden im Jahr 2024 fertig sein. Bis dahin dauert es aber eben noch.
Gibt es auch Firmen, die von den Lieferkettenproblemen profitieren?
Im vergangenen Jahr sind die Gewinnspannen für Logistikunternehmen gestiegen. Besonders profitieren Unternehmen, die in der Schifffahrt tätig sind, weil die Frachtraten gestiegen sind. Natürlich profitieren alle Unternehmen, die Halbleiter herstellen oder verbauen. Und innerhalb dieser Kette haben komplexe Güter besser abgeschnitten. Der Elektronikmarkt schneidet also besser ab, als etwa der Bekleidungsmarkt.
Wird Corona langfristig etwas an der Lieferantenstrategie ändern??
Ja, ich denke, das ist der wichtigste Punkt. Die Pandemie zwingt die Unternehmen dazu, darüber nachzudenken, wie ihre Lieferketten funktionieren. Vielen Unternehmen ist klar geworden, wie wichtig ihre Lieferkette ist. Die Lieferkette wird jetzt in jeder Vorstandsetage besprochen und nicht nur gelegentlich auf der operativen Ebene. Das Risiko, bestimmte Produkte nicht auf Lager zu haben, ist jetzt allen bewusst.
Viele Unternehmen wollen deshalb nicht mehr auf lange Lieferketten angewiesen sein. Da stellen sich viele Fragen: Verlege ich meine Montage näher an meine Komponenten? Bringe ich das Ganze näher an meinen Kunden heran? Dahinter steht die Frage: Welchen Grad der Globalisierung wollen wir?
Also würden sie tatsächlich sagen, dass es zu einer Art Relokalisierung kommen kann?
Die orthodoxe Sichtweise der vergangenen Jahrzehnte stellen immer mehr Leute in Frage. Also, dass man Dinge dort herstellt, wo sie billig sind, und sie um die ganze Welt zu den Kunden schickt. Aber jede Branche hat ihre eigenen Merkmale. Jedes Unternehmen hat seine eigene Strategie. Die werden sich nun mehr diversifizieren. Aber es ist nicht der Tod der Globalisierung und es ist nicht der Tod von Just-in-time.
Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Was ist ihre Prognose für 2022? Werde ich noch lange auf mein Rad warten müssen?
Die Zeit, die ein Containerschiff braucht, um von China aus den Hamburger Hafen zu erreichen, hat sich während der Pandemie fast verdoppelt. Gerade liegt der Wert bei 107 Tagen, auf dem Höchststand waren es 110. Vor der Pandemie lag der Wert bei der Hälfte.
Zurzeit verringert sich diese Zahl Woche um Woche um ein, zwei Tage. Selbst wenn die Nachfrage wieder normal wäre und niemand in der Logistikbranche krank werden würde, würde es aber noch immer ein paar Monate dauern, um alles in Ordnung zu bringen. Deshalb ist es schwer vorstellbar, dass alle Lieferkettenprobleme in der ersten Hälfte dieses Jahres verschwinden. Ich denke, es wird auch in sechs Monaten noch Probleme geben. Und dann ist schon wieder Weihnachten.
Redaktion: Thembi Wolf und Lisa McMinn; Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger