Liebe Rebecca,
ich habe in der NZZ einen Text zu steigenden Rohstoffpreisen gelesen, der mich ratlos zurückgelassen hat. Die Weltwirtschaft, schreibt der Autor, stehe vermutlich vor einem neuen Rohstoff-Superzyklus. Wenn ich an Zyklus denke, fällt mir zuallererst die Regelblutung ein und keine teuren Metalle. Was also hat das mit Rohstoffen zu tun und wer bestimmt, wann wir uns in solch einer Phase befinden?
Hilfesuchend und wissbegierig
Tarek
Lieber Tarek,
den Satz: „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie Kuchen essen“, hat die französische Königin Marie-Antoinette zwar nie gesagt, eine Revolution gab es 1789 aber trotzdem. Und wer weiß, ob es wirklich dazu gekommen wäre, wenn die Getreidepreise damals wegen schlechter Ernten nicht in so schwindelerregende Höhen gestiegen wären, dass sich kaum noch jemand Brot leisten konnte.
Und das ist nicht die einzige Revolution, die durch hohe Brotpreise mit verursacht wurde: Einer der Schlachtrufe der Demonstrant:innen auf dem Tahrir-Platz in Ägypten 2011 war „Brot, Freiheit, Menschenwürde!“.
Falls du dich jetzt fragst, was der Brotpreis mit deiner Frage zu tun hat: Getreide zählt genauso als Rohstoff (oder Commodity, wie die Finanzwelt gerne im schönsten Denglisch sagt) wie die teuren Metalle, an die du gedacht hast. Tatsächlich gehören in manchen Definitionen auch lebende Kühe dazu. Rohstoffe sind, nun ja, der Rohstoff für unser Leben. Ohne Weizen keine Brötchen, ohne Lithium und Kupfer keine Energiewende.
Aufschwung, Hoch, Abschwung, Tief – Zyklen wiederholen sich immer wieder
Was aber ist ein Superzyklus? Einem Konjunkturzyklus bist du bestimmt schon mal begegnet, immerhin ist er einer der Grundbausteine wirtschaftlichen Denkens seit der Industrialisierung. Das Modell besagt, dass sich der Zustand der Wirtschaft in Wellenformen entwickelt. Eines hat der Konjunkturzyklus mit der weiblichen Periode dabei tatsächlich gemeinsam: Er wiederholt sich immer und immer wieder.
Es geht los mit einem Aufschwung: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst und die Wirtschaft boomt, bis der Höhepunkt erreicht ist und es zum Knall kommt. Es geht wieder bergab. Danach werden die Zukunftsprognosen düster, die Arbeitslosigkeit steigt. Wir befinden uns in einer Rezession. Zum Glück ist auch hier irgendwann ein Tiefpunkt erreicht, ab dem es wieder bergauf geht – und damit von vorne los. Normalerweise dauert so ein Zyklus sieben bis elf Jahre.
Langfristig wächst das BIP der allermeisten Länder aber mehr, als es schrumpft. Bei dem Versuch, die nächste Rezession vorherzusagen, beißen sich Ökonom:innen schon seit Jahrzehnten die Zähne aus.
Von einem Rohstoff-Superzyklus reden wir, wenn die Rohstoffpreise erst gemeinsam ein paar Jahre steigen, bevor sie dann wieder fallen. Im Schnitt braucht es dafür etwa 30 Jahre, also deutlich länger als bei einem Wirtschaftszyklus.
Niemand beschließt, wie viel Kupfer oder Getreide im nächsten Quartal kosten sollen. Im Kapitalismus ergibt sich ihr Preis aus Angebot und Nachfrage an Märkten. Kupfer zum Beispiel ist gerade so teuer wie seit sieben Jahren nicht mehr – und der Preis steigt immer weiter. Denn die grüne Industrie braucht Kupfer für Windräder und Batteriespeicher, die Nachfrage ist also gestiegen. Wie teuer Rohstoffe sind, hängt aber immer auch von Spekulation ab.
Es gibt gute Gründe, warum Rohstoffe die nächsten Jahre teurer werden könnten
Nachdem die Rohstoffpreise in den Nullerjahren boomten, waren sie in den Zehnerjahren niedrig. Und das ändert sich gerade wieder, prognostiziert zumindest die Investmentbank Goldman Sachs. Deren oberster Rohstoffexperte Jeff Currie hält aus einer ganzen Reihe von Gründen für wahrscheinlich, dass wir am Anfang eines neuen Rohstoff-Superzyklus stehen. Ich konzentriere mich auf zwei: Einer ist die Pandemie, die laut Currie wie ein Katalysator wirken könnte. 2020 war nicht nur für die meisten Menschen, sondern auch für die Weltwirtschaft ein mieses Jahr. China ist die einzige große Volkswirtschaft, deren BIP 2020 gewachsen ist.
Wenn jetzt 2021 alles gut geht mit der Impfung, könnte die Wirtschaft überall auf der Welt boomen, wodurch die Nachfrage steigt – während die Lager für viele Rohstoffe gerade fast leer sind. Denn in den vergangenen zehn Jahren hat es sich wegen der niedrigen Preise für Rohstoffe weniger gelohnt, hier zu investieren, die Produktion war niedrig. Neue Kupferminen können aber nicht innerhalb einiger Wochen entstehen. Wenn die Nachfrage nach Kupfer also schnell steigt, treibt das den Preis in die Höhe.
Ein zweiter wichtiger Faktor: Die meisten Rohstoffe werden in Dollar gehandelt. Im für die USA besonders desaströsen Jahr 2020 ist der Preis des Dollars immer weiter gesunken. Und wenn der Dollar wenig wert ist, steigen die Rohstoffpreise. Warum? Wenn ein Dollar wenig wert ist, brauchst du weniger Euro, Yen oder Rubel, um ihn dagegen einzutauschen. Für Unternehmen in Deutschland, Brasilien oder Russland ist es dadurch günstiger, in ihrer Währung Kupfer oder Öl zu kaufen. Die Unternehmen freuen sich und kaufen mehr Rohstoffe als sonst. Die Nachfrage steigt – und damit auch der Preis.
Wenn jetzt im Wirtschaftsteil der FAZ oder des Economist Artikel über steigende Rohstoffpreise oder Superzyklen stehen, richtet sich das erstmal an Einkäufer:innen in Unternehmen, die wissen müssen, wie viel Kupfer gerade kostet. Und an Investor:innen, die so erfahren, dass viele gerade aus Tech-Aktien aussteigen und stattdessen in Rohstoffe investieren – und dann überlegen, ob sie das nicht auch tun sollten.
Wer von teureren Rohstoffen profitiert
Wenn Metalle teurer werden, ist das vor allem gut für die Wirtschaft der Länder, die sie produzieren. Zum Beispiel für Chile, den größten Kupferexporteur der Welt, oder Argentinien mit seinen endlosen Sojabohnenfeldern (weshalb die zweite Empfehlung für Investoren dann auch lautet, in die Unternehmen dieser Länder zu investieren). Rohstoffreiche Länder sind oft arm. Beim Rohstoffboom in den Nullerjahren wuchs die lateinamerikanische Mittelschicht um 50 Prozent.
Länder, deren Wirtschaft sehr von Rohstoffexporten abhängig ist, trifft es dann aber auch hart, wenn die Preise wieder fallen. Seit 2012 der Ölpreis einbrach, bleiben die Kühlschränke der Mittelschicht in Venezuela leer. Fünf Millionen Menschen haben seitdem das Land verlassen. 2020 lebten nach einer Statistik der katholischen Universität Andrés Bello in Caracas 96 Prozent der Bevölkerung in Armut. Ich wiederhole: Nur vier Prozent der Venezuelaner:innen sind nicht arm!
Selbst wenn alles so kommt, wie es Goldman Sachs vorhersagt, wird sich in Deutschland vermutlich wenig ändern. Deutschland hat keine Kupferminen oder riesigen Sojakonzerne, deren Umsatz durch die höheren Rohstoffpreise steigt. Es gibt kaum Forschung dazu, welche Auswirkungen Rohstoff-Superzyklen auf Industrieländer haben. In deinem Alltag wirst du wahrscheinlich kaum etwas davon spüren. Und in Europa sind die Zeiten, in denen Brotpreise eine Revolution auslösen konnten, schon lange vorbei.
Anmerkung: in einer früheren Version des Artikel stand der Satz „Teure Metalle sind vor allem gut für die Länder, die sie produzieren.” Das ist inhaltlich nicht richtig, ich habe den Satz entsprechend angepasst.
Redaktion: Rico Grimm und Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audio: Iris Hochberger.