Ein Mann läuft mit seiner Matratze durch die Straßen von Buenos Aires, Argentinien  am 21. Oktober 2019.

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Geld und Wirtschaft

Die Mutter aller Staatspleiten

Viele Deutsche sind sicher: Schulden sind schlecht. Trotzdem verschuldet sich der Staat gerade mit Milliardensummen. Dass das nicht in einem Desaster enden muss, zeigt ausgerechnet der Fall Argentinien – der größte Bankrott der Geschichte.

Profilbild von Rebecca Kelber
Reporterin für eine faire Wirtschaft

Wenn Frauen mit Perlenketten und Dauerwelle Fenster von Bankfilialen einschlagen, um an die Geldautomaten zu kommen, schaut man entweder einen Apokalypse-Blockbuster – oder ist in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires im Jahr 2002.

Dort hatte die Regierung gerade Wirtschaftsreformen durchgesetzt, nach denen Uni-Professoren montags nicht mehr wussten, wie sie ihr Essen am Mittwoch bezahlen sollten, wo plötzlich der Tauschhandel wieder zurückkehrte (Eier gegen eine Zahnbehandlung) und innerhalb von zehn Tagen fünf verschiedene Präsidenten das Land regierten.

Vor diesen Reformen waren die Arbeiter:innen Argentiniens die bestbezahltesten Lateinamerikas. Danach waren sie die schlechtbezahltesten. Argentinien durchlebte am Anfang des Jahrtausends die schlimmste Staatspleite der modernen Geschichte: Das Land hatte 155 Milliarden Dollar Schulden und kein Geld mehr.

Die Geschichte von Argentiniens Bankrott 2001 ist eine Geschichte der Superlative. Und ausgerechnet diese Geschichte kann Antworten geben auf eine Frage, die uns die KR-Leser:innen immer wieder stellen: „Woher kommen die Milliarden für die Corona-Hilfen, wenn die meisten Staaten völlig überschuldet sind? Es macht mir oft Angst, die schwindelnd hohen Summen zu hören. Irgendwann muss doch mal Schluss sein.“ So hatte es uns ein KR-Mitglied geschrieben.

Deutschland hat 2020 wegen der Corona-Krise 160 Milliarden Euro neue Schulden aufgenommen und plant für 2021 weitere 180 Milliarden Euro Schulden. Das wäre in zwei Jahren mehr als in den vergangenen 18 Jahren zusammen. Einige, vor allem konservative Ökonomen warnen deshalb. „Kurzfristig sind die hohen Schulden für Deutschland kein Problem, mittelfristig könnten Sie aber eines werden“, sagte Ludger Schuknecht, stellvertretender OECD-Generalsekretär, dem Handelsblatt. Die Frage, die sich unsere Leser:innen stellen, ist wichtig – sie führt aber auch den gesunden Menschenverstand in die Irre.

Denn die Schulden von Staaten gehorchen anderen Regeln als die Schulden der berühmten „schwäbischen Hausfrau“, deren Sparsamkeit sprichwörtlich ist. Es beginnt schon damit, dass die meisten Staaten ihre Schulden noch nie wirklich zurückgezahlt haben.

Was Staaten von schwäbischen Hausfrauen unterscheidet

Werden die Schulden von Staaten fällig, platzieren sie einfach neue Staatsanleihen, um die alten zurückzuzahlen. Das funktioniert, weil Staaten anders als Menschen theoretisch unsterblich sind. Sie können die Rückzahlung deshalb potentiell bis in die Unendlichkeit verlagern.

Und es gibt auch keinen festen Zeitpunkt, ab dem Staatsverschuldung zum Problem wird. Deutschland etwa hat 2020 eine Staatsverschuldung von 67 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), ohne dass die Höhe seiner Schulden ein Problem ist. Aber Argentinien hatte kurz vor der Staatspleite 2001 nur 53,7 Prozent.

Problematisch werden Staatsschulden erst, wenn die Zinsen auf Staatsanleihen steigen. Werden die alten fällig, muss die Regierung neue kaufen, auf die die Zinsen jetzt aber höher sind, und so einen immer größeren Anteil ihrer Einnahmen verwenden, um die Zinsen zu bezahlen. „Das passiert in dem Moment, wenn das Vertrauen verloren geht. Wenn die Finanzmärkte das Gefühl haben, die Schuldentragfähigkeit des Staates gerät in Gefahr“, sagt Jens Südekum, Volkswirtschaftler an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Denn auf diesen Finanzmärkten werden Staatsanleihen gehandelt.

Und genau das sollte Argentinien 2001 passieren. Dabei ging der Staatspleite ein Aufschwung voraus, wie ihn das Land seit 70 Jahren nicht mehr erlebt hatte.

Eine Gruppe von vier Männern steht auf den Seiten einer adhoc Auslage welche mit unterschiedlichen, vorrangig Automobil, Ersatz- und Einzel-teilen beladen ist.

Wenn Menschen Autoteile gegen Essen tauschen, ist die Situation ernst. Hier auf einer Handelsmesse in Mendoza, Argentinien, am 3. November 2002, von denen es nach dem Zusammenbruch von Argentiniens Wirtschaft viele gab. © Getty Images / Darren McCollester

Akt 1: Der Aufschwung

Bis 1983 war Argentinien eine Militärdiktatur – bis zu 40.000 Menschen verschwanden unter der Herrschaft der Generäle. „Verschwinden“ konnte heißen: über dem offenen Meer aus einem Hubschrauber gestoßen werden. Es war denn auch ein politischer Häftling, der charismatische Populist Carlos Menem, der in der neuen Demokratie den Aufschwung begründete. Er privatisierte Unternehmen, lockerte die Vorgaben für die Märkte – und berief Domingo Cavallo zum Wirtschaftsminister, einen Ökonom mit einem Doktor-Titel aus Harvard, der in der Diktatur nicht im Gefängnis gesessen, sondern die argentinische Zentralbank geleitet hatte.

Cavallo sollte in den nächsten Jahren zwei wirtschaftspolitische Reformen umsetzen, die das Land für Jahre verändern. Die erste hatte mit dem Wechselkurs zum Dollar zu tun. In Europa entwickelt sich an Märkten je nach Angebot und Nachfrage, wie viel ein Euro im Vergleich zum Dollar wert ist. Wollen gerade besonders viele US-Amerikaner:innen einen VW Golf kaufen, brauchen sie dafür Euro. Weil die Nachfrage nach Euro steigt, wird er mehr wert, also teurer zu kaufen. In Argentinien war es ähnlich, allerdings schwankte der Wechselkurs extrem. So lässt sich nicht wirtschaften.

Deswegen band Cavallo den argentinischen Peso 1991 fest an den Dollar. Ab diesem Zeitpunkt war ein argentinischer Peso genauso viel wert wie ein Dollar. Und die Zentralbank konnte nur so viele Peso erschaffen, wie es Dollar im Land gab.

Das änderte die Situation. Während Deutschland ab Mitte der Neunzigerjahre als der kranke Mann Europas galt und die Zinsen für deutsche Staatsanleihen bei 7,5 Prozent lagen, erlebte Argentinien Boomjahre. Die Wirtschaft wuchs zwischen 1990 und 1998 um 50 Prozent und die Preise stabilisierten sich. Der Argentinier Gabriel Pasqini beschreibt diese Zeit bei Zeit Online so: „Wir flogen zum Einkaufen nach Paris und feierten Weihnachten in New York. Wir kauften Häuser mit Krediten, die es nie zuvor gegeben hatte, wir kauften unglaubliche Geräte zu minimalen Raten.“

Das war eine Revolution in einem Land mit einem der stärksten schwankenden Wechselkurse der Welt. Weil die Mittelschicht vor allem Produkte kauft, die importiert sind, prägt der schwankende Dollar-Kurs den Alltag in Argentinien. Manchmal ist es also günstig, einen neuen Rasenmäher zu kaufen – wann anders wieder deutlich teurer als in Deutschland. Auf einmal hatte sich dieses Problem in Luft aufgelöst: Die Preise waren endlich stabil.

Argentinien galt in den 90ern als der wirtschaftliche Star Lateinamerikas und Investoren aus der ganzen Welt steckten ihr Geld in das Land, in Unternehmen und in argentinische Staatsanleihen: Sie liehen der argentinischen Regierung wieder Geld. Auch wenn in dieser Zeit die Arbeitslosigkeit von sieben auf 15 Prozent stieg, schien es für einen Moment so, als würde Argentiniens turbulente Geschichte die Zukunft des Landes nicht länger beeinflussen.

Wir Deutschen kennen das ja. Auch Deutschland hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Hyperinflation und Diktatur erlebt. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg und einer Währungsreform stabilisierte sich das Land. Die Wirtschaft wuchs und alle Welt wollte Maschinen und Autos made in Germany. Warum sollte es in Argentinien also nicht gelingen?

Deutschland hatte nach dem Krieg das Wertvollste bekommen, was es in der Finanzwelt gibt: Vertrauen. Schulden, Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit – alles wichtig, aber Vertrauen ist die eigentliche Währung in den internationalen Märkten. Deutschlands Vertrauens-Schatzkammer füllt sich seit den 1950er Jahren stetig, auch wenn es in den Neunzigern kurz so ausgesehen hatte, als ob das Land ins Wanken käme.

In Argentinien allerdings war das anders. Der Tresor war schnell wieder leer.

Akt 2: Absturz

1998 schlitterten sogenannte „Emerging Markets“-Länder wie Thailand, Russland oder Südkorea in eine heftige Währungs- und Finanzkrise. Die Investoren hielten ihr Geld zusammen und verliehen weniger an solche Schwellenländer-Regierungen.

Das Problem: Argentiniens Wirtschaft war auf die ausländischen Kredite für den Staat und die Wirtschaft angewiesen, um weiter wachsen zu können. Als dieses Geld nicht mehr so freigiebig floss, brach die Wirtschaft ein, was an sich schon ein Problem ist. Aber die Währung Argentiniens, der Peso, war per Regierungsbeschluss fest an den Dollar gekoppelt. Ein Peso für einen Dollar? Das war auf dem Papier richtig, die wirtschaftliche Realität spiegelte es aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wider. Denn der Dollar war inzwischen viel mehr wert als der Peso. Dadurch waren Produkte aus Argentinien im internationalen Vergleich sehr teuer – und nicht wettbewerbsfähig.

Und wenn Anfang der 1990er Jahre diese Dollar-Peso-Kopplung noch wie eine Wunderwaffe gewirkt hatte, war sie es jetzt, die die Spielräume der argentinischen Regierung extrem verkleinerte. Für Reformen brauchte man politisches Kapital und für ein Konjunkturprogramm finanzielles. Beides hatte die damalige Regierung kaum noch.

Normalerweise würde in so einer Krise die heimische Währung von allein abgewertet. Das heißt, ihr Kurs würde im Verhältnis zu anderen Währungen fallen. Eine abgewertete Währung führt dazu, dass die eigenen Waren für dass Ausland billiger sind. Genau diesen Effekt hat Deutschland in den Fünfzigern genutzt. Weil Autos und Maschinen aus Deutschland vergleichsweise günstig waren, ließen sie sich überall in der Welt gut verkaufen. Aber für Argentiniens Präsident war es keine Option zu sagen: Jetzt kostet es zwei Pesos, einen Dollar zu kaufen. Denn der fixe Wechselkurs war in Argentinien zur Glaubensfrage geworden. Sie änderten ihn also nicht – bis es zu spät war.

Was also tun? Der Internationale Währungsfonds (IWF) gab Argentinien Not-Kredite. Aber die Investoren vertrauten dem Land trotzdem nicht: Die Zinsen für argentinische Staatsanleihen stiegen immer weiter. 2000 musste die Regierung 15 Prozent ihres Haushalts nur für Zinsen verwenden. Denn die Zinsen auf Staatsanleihen lagen bei 35 Prozent. Und die Regierung brauchte Dollar, um die Staatsanleihen zu bezahlen: Im März 2001 waren 93 Prozent der argentinischen Staatsverschuldung in Dollar, nicht in Pesos. Wollte die Regierung ihre Schulden bezahlen, brauchte sie also die ausländische Währung. 2001 hatte Argentinien noch ein BIP von 270 Milliarden Dollar, ein Jahr später war es auf 90 Milliarden Dollar abgesackt.

Trotzdem war ein Ende des festen Wechselkurses noch immer keine Option, genauso wenig wie eine Staatspleite. Stattdessen ernannte der inzwischen neue Präsident Fernando de la Rúa in einem verzweifelten letzten Versuch wieder Cavallo zum Wirtschaftsminister, obwohl sie politische Gegner waren. Und Cavallo probierte immer ungewöhnlichere Maßnahmen, um das Land vor der Staatspleite retten zu können. Die Zinsen für die Staatsanleihen stiegen unbeeindruckt weiter.

Ungefähr zu dieser Zeit kaufte der amerikanische Hedgefonds-Manager Paul Singer seine ersten argentinischen Staatsanleihen. Er wird noch eine Schlüsselrolle spielen und aus der Krise mit sagenhaften 1.200 Prozent Gewinn herausgehen.

Am 1. Dezember 2001 schließlich traf Wirtschaftsminister Cavallo die zweite Entscheidung, die seinem Namen einen Platz in den Geschichtsbüchern sicherte: Um in dieser Situation irgendwie die Dollar im Land zu behalten, entschied Cavallo, sämtliche Dollar-Konten über Nacht einzufrieren. Und auch von den Peso-Konten durfte jede:r im Monat höchstens 250 Pesos abheben. Die Menschen tauften diese Maßnahme Corralito, auf Deutsch: Laufställchen.

Die meisten Argentinier:innen sparten aber in Dollar, auch Arbeits- und Mietverträge waren in Dollar verfasst. Denn nach zwei Hyperinflationen vertrauten die Argentinier:innen den Pesos kaum. Jetzt kamen sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr an ihr Geld, gleichzeitig zog die Inflation mal wieder an.

Wie soll man einer Regierung vertrauen, die einem wortwörtlich die Ersparnisse wegnimmt? Die Menschen gingen auf die Straße und verlangten den Rücktritt aller Politiker:innen, sie riefen: „Werft sie alle raus, kein Einziger soll bleiben.“ Es kam zu Straßenschlachten mit mehreren Toten, die den Präsidenten Fernando de la Rúa am 22. Dezember dazu brachten, im Hubschrauber aus dem Land zu fliehen. Bis heute bewahren die meisten Argentinier:innen ihr Erspartes nicht bei der Bank auf, sondern verstecken es lieber hinter dem Schrank oder unter ihrem Kopfkissen.

Anfang 2002 gab Argentiniens neuer Präsident zu: Das Land kann Schulden in der Höhe von 155 Milliarden nicht mehr bezahlen. Es war pleite. Und wenig später löste er auch den Peso vom Dollar. Der Peso stürzte sofort ab.

Eine Frau sitzt mit einem Kind, welches sichtlich verängstigt ist, mit dem Rücken zu einer Postenkette von berittener Polizist:innen

Frauen mit Kindern gegen berittene Polizei: Im Dezember 2001 kam es überall im Land zu Unruhen und Plünderungen. © Getty Images / Ricardo Ceppi

In Deutschland sind ähnliche Szenarien im Moment weit weg, denn der Euro ist anders als der Peso eine international geachtete Währung, was verschiedene Vorteile mit sich bringt. Der wichtigste für die Schuldenfrage ist aber: Die Europäische Zentralbank kann besser auf Krisen reagieren, weil sie die Geldpolitik des Euros beeinflussen kann: Sie kann neue Euro ausgeben oder die Zinsen senken. Außerdem kann sie selbst Staatsanleihen kaufen und so die Nachfrage erhöhen – wodurch die Zinsen niedrig und bezahlbar bleiben. Genau das hat sie zum Beispiel in der Griechenlandkrise gemacht und das Land damit vor dem Zusammenbruch bewahrt. Argentiniens Zentralbank kann das nicht, weil eben das Vertrauen in den Peso so gering ist, dass die meisten Staatsanleihen in Dollar laufen. Und Dollar kann die argentinische Zentralbank nicht erschaffen.

Akt 3: Die Erholung – und die nächste Pleite

2003 hatte Argentinien ausnahmsweise mal Glück: Der Preis für Soja auf dem Weltmarkt stieg wieder. Und Soja ist Argentiniens Exportschlager Nummer 1. Das Land erholte sich und das Leben ging weiter wie vor der Staatskrise.

Fast wie davor. Denn die ausländischen Investoren sollten Argentinien für mindestens die nächsten 15 Jahre nicht mehr vertrauen. Das ist Paul Singer zu verdanken. Singer hat die Aura eines Großvaters: weißer, sorgfältig gestutzter Bart, Halbglatze, Brille, gütiges Lächeln. Er setzt sich innerhalb der republikanischen Partei für die Homo-Ehe ein. Und er ist ein sogenannter aktivistischer Investor, vor dem sich Regierungen und Unternehmen gleichermaßen fürchten. Denn Singer kauft bei Firmen, die er als zu wenig profitabel ansieht, viele Aktien und sorgt dafür, dass sie schnell mehr Gewinn abwerfen – koste es, was es wolle.

Paul Singer, Gründer und Präsident der Elliot Management Corporation, spricht auf der Bühne während der New York Times DealBook-Konferenz im One World Trade Center am 11. Dezember 2014 in New York City

Paul Singer, Gründer und Präsident der Elliott Management Corporation, nennt sich selbst einen aktivistischen Investor. © Getty Images for New York Times/ Thos Robinson

Sein Hedgefonds NML Capital hatte kurz vor der Staatspleite 2001 für ungefähr 117 Millionen Dollar argentinische Staatsanleihen gekauft, deren Buchwert aber bei 617 Millionen Dollar lag, dazu traumhafte Zinsen. Als die argentinische Regierung dann ankündigte, ihre Schulden nicht mehr bezahlen zu können, verhandelte sie mit ihren Gläubigern. Ihr Angebot: Sie würde ihnen 30 Prozent der Staatsschulden zurückzahlen. 93 Prozent stimmten zu. Singer nicht. Er wollte das komplette Geld haben, das ihm seiner Meinung nach zustand.

Die neue Präsidentin Argentiniens Cristina Kirchner kämpfte hart gegen die Hedgefonds, nannte sie „Aasgeier“. Es folgte ein jahrelanger Rechtsstreit mit schmutzigen Mitteln, bei dem die Investoren sogar ein argentinisches Segelschulschiff in Ghana festhielten. 2016 einigte sich Kirchner mit Paul Singer darauf, dass er drei Viertel des Geldes bekommen sollte: 2,28 Milliarden Dollar.

Versetzen wir uns kurz in die Situation eines großen Pensionsfonds oder einer großen Bank: Wir haben ein Land, das erst pleite geht, dann wieder pleite geht und sich dann 15 Jahre lang weigert und durch ein ausländisches Gericht gezwungen werden muss, einen Teil der Restschulden zurückzuzahlen. Würdest du diesem Land Geld leihen? Vertraust du ihm?

Wie erschüttert das Vertrauen in Argentinien war, zeigte sich 2019, bei der nächsten Staatspleite (Nummer acht in der Geschichte des Landes). „Die argentinische Regierung verschuldete sich um drei bis vier Prozent des BIP, das ist eigentlich keine dramatische Höhe. Aber weil die Investoren dem Land so wenig vertrauen, floss das Geld sofort in andere Märkte, als es ihnen in Argentinien unsicher erschien“, sagt die Ökonomin Barbara Fritz von der Freien Universität Berlin. Statt in Argentinien steckten die Investoren ihr Geld also lieber in andere Märkte.

„Es gibt Staaten, die sich sehr hoch verschulden können, ohne in eine Krise zu geraten, während andere schon bei einem geringen Anstieg der Schulden schnell ins Wanken geraten“, sagt Christoph Trebesch vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. Genau so ein Land ist Argentinien. Er nennt diese Länder schuldenintolerant. Sie teilen oft bestimmte Merkmale: Sie sind arm, politisch instabil und haben bestimmte Rohstoffe im Land, von denen sie abhängig sind.

Deutschland dagegen hat dieses chronische Problem nicht. Wir konnten uns die Wiedervereinigung leisten, ohne in die Nähe einer Staatspleite zu kommen und wir können uns auch jetzt gerade neue Staatsschulden leisten.

Das erklärt sich, wenn wir die Checkliste durchgehen: Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt, wir klagen nach fast 16 Jahren Merkel eher über zu viel politische Stabilität und der wichtigste Rohstoff im Land ist Bildung. Wir leben in einem schuldentoleranten Staat. Schulden sind nicht schlecht für Deutschland.

Ein Einwand, der so oder so ähnlich immer wieder zu hören ist: „Schön und gut, aber unendlich kann das mit den Schulden doch auch für Deutschland nicht gut gehen!“ Die Zahlen der letzten 27 Jahre erzählen das Gegenteil. Seit 1993 sinken die Zinsen auf deutsche Staatsanleihen. Seit 2008 gibt die Regierung jedes Jahr weniger Geld für Zinsschulden aus, 2019 waren es weniger als vier Prozent ihres Haushaltes. Zum Vergleich: In Argentinien waren es während der Krise vor 20 Jahren 15 Prozent.

Natürlich könnten sich die Zinsen wieder ändern: Zum Beispiel, wenn die deutsche Wirtschaft kollabiert, während die AfD in Deutschland an die Macht kommt und wir den Euro verlassen. Oder wenn sich der jahrzehntelange globale Megatrend niedriger Inflation auf einmal wieder umdreht. Hier sind wir aber im Bereich der Wahrsagerei. Mit Zukunftsvorhersagen lagen Journalist:innen und Wirtschaftswissenschaftler:innen schon sehr oft daneben. Deshalb kann ich nur eine Aussage über die Gegenwart treffen: Stand jetzt sind Deutschlands Schulden kein Problem.

Und in der Gegenwart 2020 haben Deutschland und Argentinien Corona ganz unterschiedlich verkraftet. In Argentinien sind die Preise weiter so instabil, dass KR-Mitglied Julia in Buenos Aires die Inflationsrate fast jeden Tag nachschaut. Die illegalen Wechselstuben florieren, weil jeder Mensch in Argentinien nur 200 Dollar im Monat abheben darf. Jeder Taxifahrer in Argentinien hat eine ausgetüftelte Meinung zum Wechselkurs. Und im Mai musste die Regierung schon wieder eingestehen, 66 Milliarden Dollar Schulden nicht bezahlen zu können. Einige im Land fürchten, dass Argentinien zum nächsten Venezuela werden könnte, zu einem Staat, der langsam zerfällt.

Nicht, dass in Deutschland 2020 alles glatt gelaufen wäre. Im Moment hat Deutschland sogar ein sehr besonderes „Problem“: Es bekommt Geld dafür, sich Geld zu leihen. Die Zinsen sind negativ. Das ist so, als würde die Sparkasse der schwäbischen Hausfrau jedes Jahr Geld dafür schenken, dass sie bei ihr einen Kredit aufnimmt. Klingt absurd? Ist es auch.

In der Welt der Staatsschulden ist es aber Alltag.


Danke an die KR-Mitglieder Ivo und Rico, an Julia für das ausführliche Gespräch und an Anke für die Frage!

Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele