Im Chat, den die Grünen zu ihrem digitalen Bundesparteitag für ihre Delegierten eingerichtet hatten, war noch ein Echo des Jahres 2007 zu vernehmen. Damals hatte die Partei in hart geführten, ideologischen Debatten über ein Modell für ein Grundeinkommen diskutiert – und es schlussendlich abgelehnt.
In diesem Jahr haben die Delegierten wieder hart diskutiert. Aber bei keinem anderen Thema, nicht bei der Frage nach Einführung bundesweiter Volkabstimmungen (abgelehnt) und nicht bei der leichten Öffnung hin zu Gentechnik (zugestimmt), haben die Delegierten so viel im Chat geschrieben wie beim Grundeinkommen. „Man hat gemerkt, dass die Delegierten heiß darauf sind, über das Bedingungslose Grundeinkommen abzustimmen“, sagte mir Baukje Dobberstein, die zusammen mit einer Gruppe anderer Parteimitglieder vorwiegend aus Baden-Württemberg, das Thema in den vergangenen Jahren auf die Agenda gesetzt hat.
Und tatsächlich: Die BGE-Befürworter:innen innerhalb der Partei konnten sich durchsetzen. Im neu verabschiedeten Grundsatzprogramm steht nun: „Bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme orientieren wir uns an der Leitidee eines Bedingungslosen Grundeinkommens.“
Wörtlich heißt es (PDF, Zeile 151): „Existenzsichernde Sozialleistungen sollen Schritt für Schritt zusammengeführt und langfristig soll die Auszahlung in das Steuersystem integriert werden. So schaffen wir einen transparenten und einfachen sozialen Ausgleich. Verdeckte Armut wird überwunden. Dabei orientieren wir uns an der Leitidee eines Bedingungslosen Grundeinkommens. Soziale Sicherungssysteme sollen so gestaltet werden, dass deren Finanzierung möglichst krisenfest ist.“
Der Satz wirkt harmlos, ist aber für die deutsche Debatte über das Grundeinkommen ein kleiner Meilenstein: Bisher hat sich noch keine große Partei getraut, das Wort „Grundeinkommen“ in ihr Programm aufzunehmen. Immer wieder warben einzelne Politiker:innen für die Idee, es gibt die Experimente zum Grundeinkommen in Kalifornien oder Deutschland, die gerade anlaufen, und die vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen – aber eine echte politische Kraft, die sich der Idee verschreibt? Noch dazu eine, die gute Aussichten hat, nächstes Jahr das Land zu regieren? Gab es bislang nicht.
Ich hatte vor vier Jahren über die neue Partei „Bündnis Grundeinkommen“ geschrieben, die zunächst Achtungserfolge erzielte, aber es nicht schaffte, sich dauerhaft zu etablieren. Davor war es vor allem die Piratenpartei, die das Thema aufgriff.
„Wir haben versucht, das Thema Grundeinkommen anders anzupacken“
Zur Abstimmung auf dem Parteitag standen drei Positionen: gar kein Grundeinkommen im Programm, sich der Idee verpflichten und ein konkretes Modell wie schon im Jahr 2007. Durchgesetzt hat sich die Mittelposition mit mehr als 60 Prozent der Stimmen, also das Bekenntnis zur Idee. Sven Lehmann, Bundestagsabgeordneter und grüner Sozialpolitiker aus Köln, hatte für genau diese Position geworben. Er sagt: „Nach den Erfahrungen von 2007 haben wir versucht, das Thema anders anzupacken. Wir wollten keine polarisierte Debatte Ja/Nein mehr über das Grundeinkommen führen, sondern die Debatte in Richtung Sozialsystem lenken: Wie können wir es schrittweise so verändern, dass es einem Grundeinkommen immer näher kommt?“
Viele Vorstöße, die die Grünen in den vergangenen Jahren gemacht haben, enthielten schon Ideen aus der Grundeinkommensdebatte, so Lehmann. Etwa die Idee einer Kindergrundsicherung, Sanktionsfreiheit oder individuelle Ansprüche statt Bedarfsgemeinschaften bei Hartz-IV-Empfänger:innen.
Auch Baukje Dobberstein sagt: „Wir haben gar nicht mehr so viele Menschen überzeugen müssen, weil es augenscheinlich schon eine große Mehrheit in der Basis und unter den Delegierten gab. Das zeigt das Abstimmungsergebnis.“
Sven Lehmann hat mir erzählt, dass in seiner persönlichen Wahrnehmung in den vergangenen Monaten überproportional viele Menschen zu den Grünen gekommen sind, die sich für ein Grundeinkommen einsetzen.
Vor dem Bundesparteitag hatte das „Grüne Netzwerk Grundeinkommen“ in zahllosen (digitalen) Veranstaltungen für die Idee geworben. Und weil sich zunächst alle Parteimitglieder an der Formulierung des neuen Grundsatzprogramms beteiligen konnten, haben sie auch Anträge geschrieben, am Ende mehr als 200 Stück. Der Erfolg war also auch Handarbeit.
Corona hat die Debatte verändert
Eine prominente Grüne, die sich nun offensiv zur Idee des Grundeinkommens bekannte, war Claudia Roth. In ihrer Rede auf dem Parteitag sagte sie: „Die Corona-Pandemie zeigt schmerzlich die Schwächen unserer Gesellschaft, denn für sehr viele brach nicht nur die soziale Nähe, sondern auch die finanzielle Sicherheit komplett weg. Das heißt: Wir müssen Solidarität neu bestimmen. Die am allermeisten betroffenen Künstler und Künstlerinnen und die Solo-Selbständigen vertrauen doch auf uns Grüne.“ Corona ist also – wie vermutet – ein Katalysator für das Thema Grundeinkommen. Ob es jemals eingeführt wird, ist trotzdem weiterhin fraglich. Wenn es käme, dann nicht mit einem „Big Bang“, sagt Sven Lehmann. „Das wird ein Reformprojekt, das nur Schritt für Schritt geht. Wir dürfen nicht unterschätzen, dass man Verwaltungs- und Steuersysteme nicht von einem auf den anderen Tag umstellen kann.“
Interessant ist auch, dass Claudia Roth in ihrer Ansprache direkt Frank Bsirske, den ehemaligen Vorsitzenden der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und Bundestagskandidaten, anspricht und sagt, dass ein Grundeinkommen nicht das Gegenteil eines starken Sozialstaates sei. Die Gewerkschaften sind bisher bis auf kleine Ausnahmen gegen ein Grundeinkommen, sie befürchten, dass ihre Tarifhoheit untergraben wird und eine Zwei-Klassengesellschaft entsteht.
Ist das Bekenntnis der Grünen zur „Leitidee Grundeinkommen“ also wertlos? Kurzfristig, konkret und politisch: ja. Weil es nur um die Idee geht, nicht um Modelle und weil einem Satz im Grundsatzprogramm einer Partei, die (noch) in der Opposition ist, keine Gesetzesinitiativen folgen. Langfristig ist es aber vermutlich nicht wertlos.
Denn es kann als Türöffner wirken. Bisher war das Grundeinkommen vor allem eine Idee der Zivilgesellschaft, neugierig untersucht von Wissenschaftler:innen, beliebt in der Bevölkerung – gleichzeitig aber offen abgelehnt von der großen Politik genauso wie von den Gewerkschaften. Die anderen Parteien werden sich nun fragen lassen müssen, wie sie zu einem Grundeinkommen stehen. Teile des FDP-Milieus entdecken das Thema gerade für sich. Die SPD wiegelt bei dem Thema seit Jahren ab, stellt sich hinter das „Recht auf Arbeit“, die CDU betont, dass es einen Zusammenhang zwischen Leistung und Hilfe geben müsse.
Aber Erfahrungen aus den USA zeigen, dass das Thema, wenn es einmal gesetzt wurde, eher größer als kleiner wird. Dort hatte der Unternehmer Andrew Yang versucht, mit der Idee eines Grundeinkommens Präsidentschaftskandidat der Demokraten zu werden – mit beachtlichem Erfolg für einen Mann, den bis dato niemand kannte. In einem Feld von 28 Kandidaten hielt er bis zum Februar 2020 durch, getragen von einer enthusiastischen Fanbasis, die sich die „Yang Gang“ nannte und froh war, eine echte Alternative zu den althergebrachten Konzepten der Demokraten und Republikaner zu haben.
Das Forschungsinstitut Pew Research hat wunderbar detaillierte Umfragen zum Grundeinkommen in den USA gemacht, die sich so zusammenfassen lassen: Je jünger, je ärmer, je demokratischer ein US-Amerikaner ist, desto eher befürwortet er ein Grundeinkommen. Unter Schwarzen und Menschen mit lateinamerikanischen Wurzeln gäbe es auch eine Mehrheit.
Baukje Dobberstein sagt: „Wir haben zum ersten Mal auf Bundesebene einen positiven Beschluss zum Grundeinkommen.“ Das setze Kräfte frei. „Die Parteimitglieder können nun an konkreten Konzepten arbeiten.“
Und damit steht absehbar schon die nächste Debatte ins Haus. Denn Grundeinkommens-Konzepte gibt es vermutlich genauso viele wie Grundeinkommens-Befürworter.
Eine lange Übersicht über Modelle findet ihr hier.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke