Die Vereinigten Staaten sind keine konkurrenzlose Weltmacht mehr. In den vergangenen Jahren ist eine Epoche zu Ende gegangen, die als „unipolarer Moment“ bezeichnet wurde. Niemals in der Geschichte, so schrieb der Yale-Historiker Paul Kennedy 2002 in der Financial Times, habe es ein Land gegeben, das so viel mächtiger gewesen sei als seine Konkurrenten. Nicht das Römische Reich, nicht das Fränkische Reich Karls des Großen, nicht das Britische Empire im 19. Jahrhundert. Als Kennedys Artikel erschien, gaben die Vereinigten Staaten mehr Geld für ihr Militär aus als die nächsten neun mächtigsten Staaten dieser Erde, und zwar zusammengenommen. Doch Kennedy schrieb auch: Diese Macht wird nicht ewig währen.
Und er sollte Recht behalten.
Zwar haben die Vereinigten Staaten immer noch das teuerste Militär der Welt, aber der Abstand zu China, dem Land mit den zweithöchsten Militärausgaben, ist stetig kleiner geworden. Und bereits jetzt hat China die USA als größte Volkswirtschaft von der Spitze verdrängt. Prognosen zufolge wird auch Indien die US-Wirtschaft bis 2030 überholen.
Die US-amerikanische Außenpolitik der vergangenen Jahre spiegelt diesen langsamen Abstieg wider. Immer mehr ziehen sich die USA aus internationalen Belangen zurück. Was unter Barack Obama begann, hat Donald Trump mit seiner „America First“-Ideologie fortgesetzt.
Es ist egal, wer im Weißen Haus sitzt, eines ist sicher: Wir werden in einer Welt leben, in der Amerika schwächer ist. Wer wird an seine Stelle treten? Ich werde drei Szenarien durchspielen. Das erste klingt vertraut, das zweite bitter, das dritte birgt Hoffnung.
Variante 1: China wird dominierende Weltmacht
Während die Vereinigten Staaten in den letzten zwanzig Jahren teure und erfolglose Kriege führten und sich innenpolitisch zerstritten, hat sich im selben Zeitraum ein anderes Land zu einer Großmacht entwickelt: China.
Chinas Militärbudget macht mittlerweile 14 Prozent der weltweiten Militärausgaben aus – es hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Der Politikwissenschaftler Roger Cliff hat in einer Studie das Szenario eines chinesischen Angriffs auf Taiwan durchgespielt. Seiner Meinung nach wird es in den 2020-er Jahren immer unwahrscheinlicher, dass die USA so einen Konflikt gewinnen könnten.
Auch Chinas Wirtschaft ist gewachsen. Massiv gewachsen: 2001 machte die chinesische Wirtschaftsleistung vier Prozent der Weltwirtschaftsleistung aus. 2018 waren es über 16 Prozent. Chinas Wirtschaft ist mittlerweile so stark, dass ein Witz von Christine Lagarde, der damaligen Chefin des Internationalen Währungsfonds, wahr werden könnte: Vor ein paar Jahren dachte sie auf einem Podium scherzhaft darüber nach, wo die Organisation im Jahre 2027 ihren Sitz haben könnte – und sagte: „Vielleicht sitzen wir dann nicht mehr in Washington.“
Im Bereich der Künstlichen Intelligenz befindet sich China mittlerweile auf Augenhöhe mit den USA. Von den zwanzig umsatzstärksten Internetkonzernen der Welt sind neun chinesisch. Mit mehr als 200 Supercomputern hat das Land mehr Hochleistungsrechner als jedes andere auf der Welt. Und während viele andere nicht-westliche Länder unter einem hohen Brain-Drain leiden, bildet das Land mehr Natur- und Computerwissenschaftler aus als die USA.
Aber was heißt das? Ein Land mit großer Wirtschaftskraft und hohen Militärausgaben ist noch keine Weltmacht. Möchte China ein Hegemon werden?
Es gibt einige Projekte, die dafür sprechen: Zum Beispiel die Neue Seidenstraße, ein gigantisches Infrastrukturprojekt, das Zugstrecken, Straßen, Häfen, Pipelines und Flughäfen in 100 Länder bringt. Mit 900 Milliarden US-Dollar ist es das größte Investitionsprogramm seit dem Marshallplan von 1948. Auch der Aufbau der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank spricht dafür, einer Konkurrenz zum Internationalen Währungsfonds, der von den Vereinigten Staaten dominiert ist.
Die chinesische Regierung hat Freiheiten in Hongkong eingeschränkt, wiederholt den Luftraum Taiwans verletzt und tritt immer dominanter im Südchinesischen Meer auf. Das könnte ein Vorgeschmack darauf sein, was die Welt in ein paar Jahren erwartet.
Allerdings gibt es einige Politikwissenschaftler, die daran zweifeln. Joshua Shifrinson argumentiert zum Beispiel, dass es in Ostasien einfach zu viele geopolitische Konkurrenten gebe, China werde also eher mit den Vereinigten Staaten kooperieren. Chinas Staatspräsident Xi Jinping hielt im September vor den Vereinten Nationen eine Lobrede auf den Multilateralismus, also die enge Zusammenarbeit der Staaten.
Es bleibt also unklar. Doch selbst wenn China großen Ehrgeiz in einen Weltmachtstatus setzen sollte, ist es fraglich, ob andere Staaten, allen voran die USA, das zulassen.
Variante 2: Es entsteht ein Kalter Krieg 2.0
Falls China tatsächlich Supermacht-Ambitionen hegt und die USA sich nicht mit ihrem relativen Abstieg zufriedengeben, droht ein neuer Kalter Krieg. Was passiert, wenn zwei Großmächte um die globale Vorherrschaft konkurrieren, wissen wir: Der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion beherrschte die Weltpolitik von 1947 bis 1990. Dass es zu einer Neuauflage kommen könnte, diesmal zwischen China und den USA, sagt zum Beispiel die Washington Post voraus.
Ein Blick in die Nationale Sicherheitsstrategie der USA aus dem Jahr 2017 zeigt, dass die Vereinigten Staaten sich auf einen langfristigen Wettbewerb mit China einstellen. In einer Grundsatzrede erklärte der US-amerikanische Außenminister Mike Pompeo: „Es ist die Mission unseres Zeit, unsere Freiheit vor der Kommunistischen Partei Chinas zu verteidigen.“
Was würde ein neuer Kalter Krieg bringen? Zuerst einmal steigende Militärbudgets. Chinas Nachbarn, wie Japan, Vietnam oder Indien müssten sich enger an die USA binden. Ganze Wertschöpfungsketten müssten so umgebaut werden, dass die Abhängigkeit des Westens von China sinkt.
Für Europa und insbesondere für die Handelsnation Deutschland würde diese Politik unangenehme Fragen aufwerfen: Müsste auch Deutschland seinen Handel mit China reduzieren? Was würde passieren, wenn sich Deutschland dem amerikanischen Druck nicht beugen würde?
Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios macht diese Fragen umso dringlicher. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass die USA und ihre Verbündeten in Ostasien Chinas Aufstieg tatenlos zusehen.
Variante 3: Eine Weltregierung wird eingesetzt
Das mag etwas weit hergeholt vorkommen: Eine Weltregierung?
Ich meine damit keine Bill-Gates-will-die-Menschheit-ausrotten-Verschwörungsregierung. Auch nicht die Abschaffung der Nationalstaaten. Sondern eine neue, globale Regierungsebene oberhalb bestehender Staaten. So etwas wie eine Europäische Union, aber weltweit.
Der Grundgedanke dahinter ist folgender: Es mangelt gerade wirklich nicht an globalen Herausforderungen. Viele Bedrohungen für die globale Sicherheit überschreiten nationale Grenzen. Sie sind entweder unabhängig vom Handeln einzelner Staaten, wie die Corona-Pandemie und der Klimawandel. Oder sie stammen aus einzelnen Staaten, aber überschreiten Grenzen – so wie zum Beispiel Nuklearwaffenarsenale: Nationale Abrüstung bringt wenig, wenn anderswo aufgerüstet wird. Man braucht also internationale Lösungen.
Spätestens mit den US-amerikanischen Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 wurden Stimmen immer lauter, eine Kontrollinstanz über den Staaten zu schaffen. So forderten selbst Kritiker einer mächtigen Weltregierung, dass eine Organisation ein Monopol auf die verheerendsten Waffen der Welt haben sollte, inklusive Nuklearwaffen.
Ähnliche Ansätze gibt es in der Charta der Vereinten Nationen. Der heute noch existierende, aber nicht genutzte Generalstabsausschuss des UN-Sicherheitsrats hatte ursprünglich die Aufgabe, in Rüstungsfragen und UN-Militäreinsätzen beratend tätig zu sein. Als Generalstab einer Art Weltarmee sollten ihm Kontingente der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates unterstehen. Auch wenn der Kalte Krieg dazu führte, dass dieses UN-Organ nie wie geplant genutzt wurde, gibt es immer wieder Forderungen, den Generalstabsausschuss wiederzubeleben.
Doch selbst dieser minimalistische Ansatz, der den Aufbau einer Weltregierung einleiten könnte, ist aus heutiger Sicht eher unrealistisch. In der Weltpolitik führen globale Probleme nicht automatisch zu globalen Lösungen.
Und was wird passieren?
Die USA sind machtloser als noch vor fünfzehn Jahren. Es ist noch nicht ganz klar, was das für die Weltordnung des 21. Jahrhunderts bedeutet. Ohne einen bewussten Versuch, eine neue Ordnung zu schaffen, wird das Szenario des Kalten Krieges 2.0 wahrscheinlicher. Ungebremst hören Staaten nicht auf, miteinander zu konkurrieren. Das hätte fatale Folgen für die ganze Welt. Auch für Deutschland.
Wir müssen uns an dieser Stelle einmal klarmachen, was passiert, wenn der Abstieg Amerikas weitergeht: Die USA sind ja so etwas wie eine Weltpolizei. Sie sorgen seit Jahrzehnten zum Beispiel dafür, dass Seewege einigermaßen sicher sind. Sonst gäbe es keinen globalen Handel. Und deswegen sind freie Seewege „von großer strategischer Bedeutung“ für Deutschland, wie die Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) kürzlich sagte.
Ist Europa auf eine Welt mit einem schwächeren Amerika wirklich vorbereitet?
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele.