Ein Jahr später hat Marwan Mustafa den Vorfall immer noch nicht verarbeitet. Er kann seinen Mittelfinger nicht mehr bewegen, Schreiben oder Arbeiten mit der rechten Hand sind ihm unmöglich. Mustafa ist ein Opfer seines Ausbilders geworden, doch verantwortlich fühlt sich niemand.
Er ist Teil einer Ausbildungsinitiative mit dem Namen „Mubarak-Kohl“, benannt nach dem ehemaligen ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak und Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl. Das ägyptische Bildungsministerium verkauft das Versprechen einer guten Ausbildung an Schüler:innen. Für aktuell 50.000 junge Menschen hat sich die Ausbildung jedoch in einen Alptraum verwandelt. Insgesamt sind 3.000 Betriebe und 275 Berufsschulen in Ägypten betroffen.
Diese Recherche legt offen, wie Auszubildende des Programms als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Sie stützt sich auf die Berichte von 50 Auszubildenden. Darunter sind 20 Interviews, zehn Zeugenaussagen und 20 Beschwerden, die bei der NGO Ägyptisches Zentrum für das Recht auf Bildung eingegangen sind.
Die Betriebe versprechen den Jugendlichen eine Berufsausbildung – verstoßen stattdessen aber gegen Gesetze, die Kinder und Jugendliche schützen sollen. Das zuständige ägyptische Ministerium hat es versäumt, die Betriebe zu überwachen. Auch das deutsche Entwicklungsministerium hat es nicht geschafft, sichere Arbeitsbedingungen durchzusetzen.
Die Vergehen der Betriebe sind vielfältig: Beschimpfungen sind darunter, unzählige Misshandlungen, manche Jugendliche trugen dauerhafte Behinderungen davon. Es gibt keine offiziellen Zahlen, wie viele Auszubildende bei der Arbeit schwer verletzt oder sogar getötet wurden. Doch allein diese Recherche deckt auf, dass sich sieben Jugendliche schwer verletzt haben – und drei starben.
Diese Recherche ist im Juli 2020 auf zwei Nachrichtenportalen erschienen: dem ägyptischen ZatMasr und Raseef22 aus Beirut. Krautreporter hat den Text übersetzt und bearbeitet sowie die Antworten der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit ergänzt.
Das deutsche System ist Vorbild für Ägypten
Die Idee für das Ausbildungssystem entstand 1991. Der damalige ägyptische Präsident Hosni Mubarak und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) einigten sich auf ein spezielles Ausbildungsprogramm. Vier Jahre später startete die Mubarak-Kohl-Initiative. Heute heißt das Programm „Enhancement of the Egyptian Dual System“ (Weiterentwicklung des ägyptischen Dualen Systems, EEDS), die Ziele haben sich aber nicht geändert.
Das Entwicklungsministerium beteiligt sich an verschiedenen Projekten in Ägypten, die Wirtschaft und Gesellschaft stärken sollen. Zum Beispiel finanzierte es einen Windpark und versucht, den Wassersektor zu reformieren. In Ägypten finden viele Jugendliche keinen Job, gleichzeitig fehlen Fachkräfte. Die duale Ausbildung soll hier helfen. Deshalb beauftragte das Entwicklungsministerium die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) damit, die Berufsausbildung in Ägypten zu etablieren und zu verbessern.
1991 hat das deutsche Entwicklungsministerium dem ägyptischen Bildungsministerium über 28,5 Millionen Euro zugesichert. Inzwischen gibt es keine finanzielle Unterstützung mehr, hauptsächlich berät die GIZ das ägyptische Bildungsministerium.
Heute können sich die Schüler:innen in Ägypten zwischen 49 Ausbildungsberufen entscheiden, zum Beispiel in Autowerkstätten, Lebensmittelfabriken oder der Bekleidungsindustrie. Sie arbeiten vier Tage im Betrieb und gehen zwei Tage zur Schule. In einem Jahr haben sie vier Wochen Urlaub. Eine Sechs-Tage-Woche ist in Ägypten Standard.
Der Ausbilder griff ihn mit einer Schere an
Am 5. Februar 2019 beginnt der damals 15-jährige Marwan Mustafa seine Ausbildung in einer Fabrik für Textilverarbeitung und Druck namens „Fayrisat“ in der Nähe von Kairo. Die vermeintliche Ausbildung besteht jedoch daraus, Anweisungen der „Ostas“ zu befolgen, erzählt Mustafa später. „Al-Osta“ ist ein in Ägypten gebräuchlicher Begriff und bedeutet „Meister“. Die Ostas beaufsichtigen die Arbeiter:innen in den Fabriken.
Mustafas Tätigkeiten beschränken sich auf alltägliche Besorgungen wie Essen bringen, den Boden fegen oder Kisten umräumen. Einmal will er etwas über das Druckwesen lernen und stellt sich einfach nur neben die Ostas, um ihnen bei der Arbeit zuzuschauen. Doch sie schicken ihn weg.
Am Tag des Vorfalls befiehlt ihm einer der Ostas, eine Maschine mit Lösungsmittel zu reinigen. Mustafa hat eine Allergie: Kommt seine Haut mit Lösungsmittel in Kontakt, bekommt er Ausschlag. Deshalb bittet er darum, Handschuhe benutzen zu dürfen. Die Antwort des Ostas: „Muss ich immer noch auf dich Hurensohn warten?“ Mustafa, völlig schockiert, erstarrt. Einen Moment später muss er sich mit der bloßen Hand gegen die Schere wehren, die auf ihn zufliegt. Die Schere verletzt die Beugesehne des Mittelfingers seiner rechten Hand. Die Folgen: Operation, Gipsverband, Physiotherapie.
Für die Recherche habe ich mich mit Marwan Mustafa und seiner Familie getroffen. Wir sind bis heute in Kontakt. Die Vorfälle konnte ich überprüfen: Mustafas Familie hat Anzeige erstattet, ich konnte den Polizeibericht einsehen und habe auch das Dokument des Arztbesuchs gelesen.
Mustafas Familie versucht jetzt auf juristischem Wege, das Leid ihres Sohnes wiedergutzumachen. Das Verfahren läuft immer noch. Mustafa wurde in das Büro einer anderen Fabrik versetzt, wo er Anwesenheitslisten führt und einfache Arbeiten mit der linken Hand erledigt. Die Möglichkeit, sich beruflich weiterzuentwickeln, hat er nicht mehr. Eine Anfrage an die Fabrikleitung zu dem Vorfall blieb unbeantwortet.
Sie verstoßen gegen Gesetze und Verträge – und niemand kontrolliert sie
Verantwortlich für die Jugendlichen sind die Betriebe, in denen sie arbeiten, die Schulen und die Bezirksregierung. Doch beschützt hat die Jungen und Mädchen niemand.
Es gibt Ausbildungsverträge, in denen ihnen verschiedene Rechte zugesichert werden. Zum Beispiel ist das Gehalt festgelegt, das im ersten Jahr bei monatlich 300 ägyptischen Pfund liegt. Das entspricht etwa 19 US-Dollar und ist auch für ägyptische Verhältnisse extrem wenig. Der Durchschnittslohn liegt zwischen 1.800 und 4.000 ägyptischen Pfund im Monat.
Die meisten Betriebe halten sich nicht an die Verträge. Sie drücken den ohnehin schon niedrigen Lohn, lassen die Jugendlichen Besorgungen machen, die nichts mit der Ausbildung zu tun haben und erwarten Arbeitszeiten von bis zu zwölf Stunden pro Tag. Das ist illegal: Minderjährige dürfen nicht mehr als sechs Stunden täglich arbeiten und nach spätestens vier Stunden müssen sie eine Pause machen.
Abdel Hafeez Tayel ist Leiter des Ägyptischen Zentrums für das Recht auf Bildung. Seine Organisation hat dokumentiert, was in den Fabriken passiert und dafür 500 Jugendliche befragt. „Die Auszubildenden sind der Gnade der Fabrikbesitzer ausgeliefert“, sagt Tayel. Die dürfen nämlich selbst entscheiden, welche Arbeit sie den Auszubildenden zuteilen, das ist im Ausbildungsvertrag festgehalten.
Das Bildungsministerium ist zwar dafür zuständig, die Betriebe zu kontrollieren. Eine Lehrkraft soll einmal pro Woche die Betriebe besuchen und die Schüler:innen betreuen. Doch laut Tayel passiert: nichts.
Die Näher:innen sind überlastet und verletzen sich oft
In Fayyoum, in der Nähe von Kairo, ist die Situation nicht anders. Shaimaa A. macht ihre Ausbildung in der Textilfabrik „Tayabah“. Sie sagt: „Wir sollen 100 bis 200 Stück pro Tag zu produzieren, wir sind überlastet – wie in aller Welt sollen wir dabei gesund bleiben?“ An einem Arbeitstag dürfen sie maximal 20 Minuten Pause machen, erzählt sie.
Dass sie sich bei der Arbeit verletzen, ist normal, sagt eine von Shaimaas Kolleginnen. „Unsere Hände sind voller Schnitte und Wunden, entweder durch die Maschinen oder die Scheren.“ Doch medizinische Versorgung gebe es auf dem Gelände nicht.
Mahmoud Al-Badawi, Experte für Kindergesetzgebung und Leiter der ägyptischen Vereinigung zur Unterstützung von Jugendlichen, kritisiert die Duale Ausbildung scharf. Es sei „eine Form der Ausbeutung von Kindern und die schlimmste Form der Beschäftigung überhaupt.“
Ahmad Al Attar hat seine Ausbildung 2017 in der Fabrik „Qatn Misr“ in Sharquia, nordöstlich von Kairo, abgeschlossen. Er sagt: „Den Studierenden stehen keine Rechtsmittel oder Beschwerden zur Verfügung. Der Direktor kümmert sich nicht darum, was mit uns in der Fabrik passiert, und wenn das Ministerium einen Ausschuss in die Schule schickt, beschweren wir uns bei ihnen, doch sie schauen alle weg.“
Ein 15-Jähriger stirbt und das Ministerium tut nichts
Macarius Shukri starb am 29. Mai 2018 mit nur 15 Jahren. Jeden Tag verließ er das Haus um Punkt sieben Uhr morgens und kehrte erst um 19 Uhr zurück. Er arbeitete in der Lebensmittelfabrik „Humto“ in Giza, in der Nähe von Kairo. Am Ende des Monats erhielt er 250 ägyptische Pfund, also rund 15 US-Dollar. Beschwert hat er sich nie, erzählt sein Bruder Mina, obwohl die Arbeit anstrengend war.
Shukri fuhr im Fabrikaufzug, der mit schweren Stahlplatten beladen war. Was genau passiert ist, weiß niemand. Als sich die Aufzugtüren wieder öffneten, hatten die Stahlplatten ihn unter sich begraben. So erzählt es sein Bruder später, Genaueres weiß er nicht.
Das Bildungsministerium veröffentlichte eine Erklärung, in der es der Familie von Macarius sein Beileid ausspricht und ankündigt, den Unfall zu untersuchen. Bis heute hat das Ministerium nichts getan.
Macarius’ Bruder Mina Shukri erstattete Anzeige gegen die Fabrik, doch seine Familie ließ die Anklage wieder fallen. Im Gegenzug erhielten sie eine finanzielle Entschädigung. „Es war die einzige Möglichkeit“, sagt Mina. „Wir hatten keine Chance, den Prozess gegen die Fabrik zu gewinnen.“
In einem Schreiben konfrontierte ich die Fabrikleitung mit den Vorwürfen des Missbrauchs der Schüler:innen, der Ausbeutung und den illegalen Arbeitszeiten. Bis heute gibt es keine Antwort.
Niemand weiß, wie viele unbemerkte Unfälle es noch gibt, die nur nicht an die Öffentlichkeit gedrungen sind. „Niemand überwacht die Fabriken“, sagt Huda Ibrahim, ein Berufsschullehrer. „Und niemand macht sie dafür verantwortlich, was mit den Auszubildenden auf ihrem Gelände geschieht.“
Werden die erschütternden Fälle doch öffentlich, ist es so gut wie unmöglich, herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. 2015 starb Salma Saber Hussein, Auszubildende in der „Konfektionsfabrik für Männer“ in Qalyubia. Sie verlor ihr Leben durch einen Stromschlag – mehr Informationen gibt es nicht zu dem Fall. Der damalige Bildungsminister kündigte eine Untersuchung an. Passiert ist nichts.
Die deutsche Entwicklungshilfe schafft es nicht, die Arbeitsbedingungen zu verbessern
Aber auch die deutsche Seite trägt Verantwortung. Auf Anfrage verwies das Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit an die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).
Der GIZ seien „die problematischen Arbeitsbedingungen in vielen Branchen der beruflichen Bildung bekannt“, schrieb eine Sprecherin. Man nehme „die Vorfälle sehr ernst.“ Die GIZ habe daher einen Katalog mit Qualitätsstandards entwickelt. „Viele Unternehmen erfüllen diese Standards aktuell nicht“, räumte die Sprecherin ein. Daher arbeite man mit den zuständigen ägyptischen Stellen zusammen, die die Ausbildungsbetriebe prüfen und ihnen auch die Zulassung entziehen können. Die GIZ versuche auf politischer Ebene, die Rechte und Befugnisse dieser Prüfstellen zu stärken.
Außerdem habe es die Ausbildungsverträge überarbeitet und Arbeitszeiten und Mindestlohn festgelegt. Die Sprecherin ging nicht darauf ein, dass sich die meisten Betriebe nicht an diese Verträge halten.
Die GIZ versucht über Fortbildungen und Schulungen, die Qualität der Ausbildungen zu verbessern. Beispielsweise hätten 500 Ausbilder bereits an einem Training zu den Qualitätsstandards teilgenommen. Darunter sei kein Ausbilder aus einem der in diesem Text vorkommenden Betriebe gewesen. Außerdem gebe es eine Dialogplattform, wo sich Schülervertretungen beschweren könnten. Die hier dokumentierten Fälle seien dort nicht thematisiert worden, so die GIZ.
Die Sprecherin antwortete nicht auf die Frage, ob die Zusammenarbeit nach 2020 noch weitergehe.
Das GIZ-Büro in Kairo schrieb auf Anfrage, dass es Teil der Ausbildung sei, in einem realen Umfeld zu arbeiten. Zur schlechten Bezahlung schrieben sie: „Da die Auszubildenden nicht über die gleichen Fähigkeiten, Fachkenntnisse oder Produktivität verfügen wie die anderen Mitarbeiter, ist es ihnen nicht möglich, die vollen Gehälter zu erhalten.“ Einen Teil der Verantwortung schob die GIZ auch auf das ägyptische Bildungsministerium: Dort sei man für die Gesundheit und Sicherheit in den Fabriken zuständig.
Das Ministerium spielt die Probleme herunter
Doch dort hilft man den Auszubildenden nicht. Der stellvertretende Bildungsminister Mohammad Mujahid räumt im Gespräch mit mir ein, dass es „negative Aspekte“ gebe. „Aber wir sollten auch nicht übertreiben und verallgemeinern, damit wir das duale Ausbildungssystem nicht verlieren“, sagt er. Er versprach, etwas gegen die Ausbeutung der Jugendlichen zu tun. Bis heute ist nichts passiert.
Mohammad Hilmi Hilal ist einer, der für die Überwachung der Fabriken zuständig ist. Er behauptet, nichts von Zehn-Stunden-Tagen zu wissen. Er sagt: „Unsere Kinder müssen Männer sein und Not ertragen, solange es ein gutes Einkommen gibt.“ Er gab allerdings zu, dass einige Kinder als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Außerdem versprach er, an den Fehlern zu arbeiten und das System zu reformieren. Zu den Unfällen der Auszubildenden sagte er: „Solange es eine Industrie gibt, wird es Verletzungen geben.“
Für die Jugendlichen waren viele Menschen verantwortlich. Das ermöglichte es jeder Partei, mit dem Finger auf andere zu zeigen und die Schuld abzuwälzen. Hauptverantwortlich bleibt aber das ägyptische Bildungsministerium. Es muss die Auszubildenden der Mubarak-Kohl-Initiative vor den unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Fabriken schützen.
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele