Kann die Wirtschaft ewig wachsen? Nein, denn die Ressourcen des Planeten sind begrenzt. So klar, so einfach. Muss deswegen aber Wirtschaft ganz ohne Wachstum auskommen? Angesichts von Klimakrise und Artensterben sind diese Fragen dringender denn je. Deswegen hatten wir bei Krautreporter schon im vergangenen Jahr begonnen, über Wachstum nachzudenken (hier findet ihr alle Texte dazu). Eine Frage kam dabei immer wieder auf, in den Kommentaren genauso wie in den Diskussionen in der Redaktion: Wie kann denn eine andere Wirtschaft konkret aussehen?
Claudia Kemfert und Niko Paech sind zwei hervorragende Expert:innen, um sie zu diskutieren. Sie ist Energieökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, berät seit Jahren die Bundesregierung und hat gerade das Buch „Mondays for Future“ veröffentlicht, in dem sie fragt und zeigt, was nach den Protesten des Klimajahres 2019 passieren müsste.
Niko Paech wiederum kann man als die akademische Stimme der deutschen Postwachstums-Bewegung beschreiben. Er lehrt an der Universität Siegen und erforscht seit zwei Jahrzehnten, wie eine Wirtschaft ohne Wachstum aussehen kann, zuletzt in dem Buch „All you need is less“.
Wir haben uns zu einem Video-Treffen verabredet, es ging hin und her, ich kam als Moderator kaum zu Wort: perfekt für ein Streitgespräch – über die wahren Chancen erneuerbarer Energien, die Rolle der Klima-Aktivist:innen und die Frage, wer wirklich in der Lage ist, die Wahrheit über das zu sagen, was nötig ist.
Ihr beide strebt danach, dass die Menschen die Grenzen dieses Planetens respektieren. Allerdings seid ihr euch über den Weg nicht einig. Ob, wie und welches Wirtschaftswachstum wir brauchen – da blickt ihr unterschiedlich drauf. Claudia, wie können wir die ökologischen Grenzen respektieren?
Claudia Kemfert Wir müssen uns abgewöhnen, das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab für Wohlstand zu nehmen und alles nur danach auszurichten. Wir brauchen ein neues Verständnis von Wirtschaftswachstum – eines, das den Planeten belebt statt ihn zu zerstören. Wir brauchen ein Wirtschaftswachstum, das Schäden an Mensch, Umwelt und Klima nicht als heimliche Schulden künftiger Generationen mitschleift, sondern gleich heute denen aufbürdet, die sie verursachen. Dazu müssen wir das Wirtschaftswachstum vom fossilen Energieverbrauch entkoppeln und eine Kreislaufwirtschaft entwickeln, die im Gleichgewicht ist und in der es um qualitatives und nicht um quantitatives Wachstum geht.
Was ist qualitatives Wachstum?
Claudia Kemfert Eigentlich ist Wachstum etwas Wunderbares: Nicht nur in der Kindheit wachsen wir, sondern unser ganzes Leben lang. Leben ist Wachstum. Menschen, Tiere und Pflanzen sind Teil eines ewigen Kreislaufes aus Werden und Vergehen. Die Erde ist über Milliarden von Jahren zu dem gewachsen, was sie heute ist. Und sie dreht sich immer weiter. Wäre das Wirtschaftswachstum ähnlich organisiert, würden wir uns darüber freuen. Die Kreislaufökonomie beruht genau auf solch einer Idee des zirkulären Wachstums, des ewigen Werdens und Vergehens. Umwelt- und Klimaschäden müssen eingepreist werden, also von den Verursachern selbst beglichen werden.
Warum würde so eine Bepreisung helfen?
Claudia Kemfert Umwelt- und Klimaschäden kosten Geld. Diese Kosten werden derzeit durch allgemeine Steuern heimlich umverteilt oder als Schulden der nächsten Generation aufgehalst. Sind sie erst mal in die jeweiligen Produkte und Dienstleistungen eingepreist, wird klimaschädlicher Konsum endlich sichtbar teuer – so wie er es in Wahrheit schon immer ist. Das bringt Kostenwahrheit in das System. Dazu gehört die Abschaffung der umwelt- und klimaschädlichen Subventionen genauso wie beispielsweise die Einführung einer CO2-Steuer. Mit Steuern allein kann man nicht steuern, aber durch den richtigen Preis in Kombination mit attraktiven Fördermaßnahmen durchaus.
Kreislaufwirtschaft, Fokus auf qualitatives Wachstum und Einpreisung von Schäden. Reicht das, um die Grenzen des Planetens zu respektieren, Niko?
Niko Paech Claudia hat dem Wachstumskurs eine sanfte Absage erteilt. Das freut mich, reicht mir aber nicht. Die Einpreisung ökologischer Schäden zu fordern, heißt, der Gesellschaft ein Alibi für den aktuellen Lebensstil zu verleihen, denn verantwortlich für die Misere sind nach dieser Anschauung falsche Anreize. Würden Güterpreise die ökologische Wahrheit sprechen, reduzierte sich für die meisten Menschen der Wohlstand, weil die Technik das Problem nicht löst. Folglich würde der Umweg über die Politik bedeuten, dass die Wählermehrheit ihren eigenen Lebensstil abwählen müsste.
Was folgt daraus?
Niko Paech Politik kann im demokratischen Raum vieles, nur nicht gegen die Lebensrealität der Wählermehrheit agieren. Statt also auf eine Kostenwahrheit zu hoffen, die nie eintritt, sollten Wissenschaft und Politik endlich die Wahrheit über unseren Wohlstand aussprechen, der nicht mit Nachhaltigkeit vereinbar ist. Erst wenn Teile der Gesellschaft ein genügsameres Dasein vorleben, kann sich etwas ändern. Derartige Beispiele, die von Pionieren in Nischen erprobt werden, erschaffen neue Realitäten. Daran können sich Politik und Gesellschaft orientieren. Die Politik eilt einem sozialen Wandel niemals voraus, sondern immer nur in sicherem Abstand hinterher.
Hast du Beispiele für diese Pioniere?
Niko Paech Wie viele willst du? Die sogenannte Transition Town-Bewegung, die Foodsharing-Initiativen, die Minimalismus-Bewegungen, Regionalwährungen, Permakultur, Urban Gardening, Repair Cafés, solidarische Landwirtschaft. Die Liste lässt sich unendlich fortsetzen. Ich würde mal die Gegenfrage stellen: Wo hat denn jemals irgendwo ein Wandel stattgefunden, der nicht in der Nische begonnen wurde?
Also haben wir zwei Positionen. Claudia plädiert dafür, mit konkreten Gesetzesvorhaben schnell etwas zu verändern. Niko hält das für unmöglich, solange sich nicht die Einstellung der Menschen ändert.
Claudia Kemfert Ich kann gar nicht hoch genug bewerten, wie wichtig die Zivilgesellschaft für einen Wandel ist. Deswegen habe ich mein neues Buch „Mondays for Future“ diesem Thema explizit gewidmet und werbe für mehr Bürgerengagement! Jede und jeder kann und sollte sich beteiligen, egal an welcher Stelle.
Aber deine Argumentation, Niko, finde ich schwierig. Dein Appell ist ein autoritäres Verbot: „Schluss damit!“ Du forderst uns zur radikalen Reduktion auf. Du untersagst, dies oder das zu tun, sagst aber nicht, was wir stattdessen tun können. Und du blendest aus, dass wir durch die ökonomischen Realitäten permanent zu anderem Verhalten aufgefordert, eingeladen oder geradezu verführt werden: Solange ein Flug nach Mallorca 19 Euro kostet, werden die Menschen einsteigen, egal wie schlau oder rational sie sind. Dagegen wäre es vergleichsweise einfach, Rahmenbedingungen zu schaffen, die uns durch transparente Kosten-Nutzen-Verhältnisse ein nachhaltiges Leben leicht machen – und zwar als freie selbstbestimmte Entscheidung. Da müssen wir ansetzen.
Niko Paech Es geht nicht nur um Reduktion. Auch in einer Postwachstumsökonomie, würden nachhaltige Technologien eingesetzt, die aber nur in einer deutlich kleineren Wirtschaft für Entlastung sorgen können. Denn die Kreislaufwirtschaft, regenerative Energien und die Energieeffizienz werden maßlos überschätzt, was sich längst auch empirisch zeigt.
Das ist eine sehr strikte Aussage. Warum werden sie überschätzt?
Niko Paech Qualitatives Wachstum, wie von Claudia gefordert, hat sich bislang nicht einmal theoretisch konsistent darstellen lassen, sondern beruht auf reinem Fortschrittsglauben. Die Rebound-Effekte vermeintlich nachhaltiger, die Umwelt entlastender Innovationen, sind so verheerend, dass allein ein Rückbau von Industrie und Mobilität hilft.
Was ist ein Rebound-Effekt?
Niko Paech Auch grüne Technologien fallen nicht materielos vom Himmel. Sie beruhen darauf, ökologische Schäden geographisch, zeitlich, stofflich oder systemisch zu verlagern. Diese Verlagerung kann man als „Rebound-Effekt” beschreiben. Mit Ausnahme irrelevanter Sonderfälle lassen sich keine Gegenbeispiele finden. Neben diesen materiellen Rebound-Effekten kommen zwei weitere hinzu, nämlich dass Ressourceneinsparungen auch die Kosten senken, also die Nachfrage erhöhen. Außerdem wird damit ein Alibi geschaffen. Zusehends ruinösere Lebensstile lassen sich gegen Kritik immunisieren, nach dem Motto: „Die Technik wird’s schon richten.“ Wir müssten, um diese Rebound-Effekte einzuhegen, sehr viel zurückbauen und so der begrenzten grünen Technologie so weit entgegeneilen, dass dann unsere Ansprüche durch Sonne und Wind allein befriedigt werden können.
Claudia Kemfert Der Reboundeffekt ist unstrittig ein Problem; doch wir können ihm mit entsprechenden Preissignalen begegnen. Es geht nicht um Rückbau, sondern um Fortschritt. Die Rückkehr zu Pferd und Wagen ist keine Lösung, sondern eine Illusion. Eine wirkliche und praktikable Lösung aber wäre die Vollversorgung mit erneuerbaren Energien, konsequentem Energiesparen, verbesserter Effizienz und konsequenter Kreislaufwirtschaft. Es gibt so viele Ideen und Lösungen, die den Menschen Lust machen, sich zu beteiligen. Ich denke, wir sind uns im Ziel recht einig, unterscheiden uns aber im Weg dorthin… Niko, du guckst so böse!
Niko Paech Oh, guck ich wirklch böse? Das liegt an der digitalen Kamera.
Claudia Kemfert (lacht) Ich will hier nichts riskieren.
Niko Paech Mach dir keine Sorgen, ich finde deine Argumentation durchaus fair und habe nichts gegen humorvolle Übertreibungen. Vielleicht trotzdem eine Klarstellung. „Pferd und Wagen”, um beim Beispiel der Mobilität zu bleiben, werden nicht das Resultat der Entrümpelung sein, die ich für unumgänglich halte, sondern wohl eher Carsharing, öffentlicher Personennahverkehr, Lastenfahrräder, aber in der Tat insgesamt eine Reduktion der Mobilität, ganz besonders den Flugverkehr betreffend.
Gibt es dann noch Autos für einzelne Leute?
Niko Paech Das wäre nur möglich, wenn jemand in anderen Lebensbereichen so viel CO2 spart, dass die Person dann mit einer bis zwei Tonnen CO2 auskommt. Aber mit eigenem Auto zu leben und wenig zu fahren ist immer noch klimafreundlicher als ohne Auto einmal im Jahr zu fliegen. Für die derzeitige Mobilitätsnachfrage in Europa existiert keine technische Lösung, nur eine Reduktion wäre zielführend.
In meinem neuen Buch schlage ich vor, die nötige Reduktion ökonomisch effizient und zugleich sozialpolitisch ausgewogen vorzunehmen. Das gelingt, wenn wir zwischen dekadentem Luxus und basalen Grundbedürfnissen unterscheiden. Wenn das reduziert wird, was die höchsten Schäden verursacht und zugleich dem Luxus dient, ist das im Ergebnis ökonomisch effizient, weil knappe ökologische Ressourcen dann dort verwendet werden, wo sie am wichtigsten sind und zugleich bleiben untere Einkommensklassen von der Reduktion verschont.
Was ist Luxus und was ist Grundbedarf?
Niko Paech Wir werden in einer liberalen Demokratie darüber streiten müssen, mit welchem Recht sich jemand ein Vielfaches jener materiellen Freiheiten herausnehmen darf, die – bei global gerechter Verteilung der Ressourcen – jedem zustehen würde. Ernährung, Kommunikation, Gesundheitsversorgung, Bildung, Kleidung, Wohnraum, bescheidener Konsum, Strom im Haushalt, maßvolle und begrenzte Mobilität bilden Grundbedürfnisse, die nicht in Frage zu stellen sind. Aber ich habe noch nie gehört, dass jemand verhungert oder erkrankt ist, weil er nicht in ein Flugzeug steigen konnte. Die Elektrifizierung eines Krankenhauses ist wichtiger als eine Kreuzfahrt oder Smartphones für sechsjährige Kinder.
Claudia Kemfert Hier gibt es ein entscheidendes Missverständnis: Viele denken, dass wir den ganzen Energiebedarf der Vergangenheit decken müssen, all die Verschwendung, die Herstellung von Gütern, die niemand in diesem Umfang braucht. Ja, an dieser Stelle gibt es eine Reduktion, aber nicht als Ursache, sondern als Folge eines anderen Wirtschaftens. Sobald wir mehr Fuß- und Radverkehr, mehr Schienenverkehr, Car-Sharing und Elektromobilität im weitesten Sinne haben, wird der Energiebedarf deutlich zurückgehen. Dann können erneuerbare Energien für eine Vollversorgung sorgen.
Aber das Argument von Niko, wenn ich das richtig verstanden habe, wäre ja: Mit der hundert Prozent erneuerbaren Energie-Welt haben wir vielleicht eine Reduktion, aber vermutlich nur eine vorübergehende, weil dann die Energie irgendwann so billig ist, dass wir wieder anfangen, verschwenderisch mit ihr umzugehen.
Claudia Kemfert Nur wenn wir sie billig lassen. Im Moment ist es so, dass man enorme Abgaben auf bestimmte Güter hat. Es könnte Sinn machen, bestimmte Güter nach der Transformation wieder mit Abgaben zu belegen, um die Rebound-Effekte zu vermeiden.
Niko Paech Dann bleibe ich dabei: Wenn wir Güter oder Ressourcen verteuern, wird sich die Kaufkraft und folglich auch der Wohlstand verringern, außerdem werden bestimmte Handlungsoptionen, für die keine ökologischen Alternativen existieren, nicht mehr verfügbar sein. Deswegen bedarf es erstens der Ehrlichkeit, das der Bevölkerung nicht zu verschweigen, zweitens eines Lebensstil-Konzeptes, das mit der neuen Situation kompatibel ist und drittens hinreichender Übungsprozesse und Reallabore, um Menschen zu befähigen, mit reduzierten Möglichkeiten umzugehen. Obendrein muss dies alles als erster Schritt erfolgen, denn erst daran anknüpfend kann die Politik handeln.
Die politische Realität ist aber das Gegenteil davon: Die Wähler werden mit vermeintlich ökologieverträglichen Wohlstandsversprechungen geködert, die niemals eingehalten werden können. Deshalb können die Energieverbräuche nicht gesenkt werden, weil sich dann sofort herausstellen würde, dass der Wohlstand sinkt – und der Schwindel fliegt auf.
Das Kernproblem ist deshalb eine Energiewende, die einfach das bisherige Wohlstandsmodell regenerativ nachbaut, statt Energieverbräuche zu reduzieren. Wenn aber genau so viel Energie vorhanden ist wie zuvor, werden auch alle schädlichen Produktionsprozesse, für die Energie benötigt wird, ganz gleich ob Häuser gebaut, Konsumgüter hergestellt, Flächen versiegelt oder Abfälle produziert werden, aufrecht erhalten. Es bringt nichts, einfach denselben Stahl zu produzieren, nur mit anderer Energie. Wichtiger wäre es, weniger Stahl zu produzieren. Energie ist wie Geld: ein treibender Faktor für all das, was auch jenseits des Klimawandels unsere Lebensgrundlagen zerstört. Auch aus diesem Grund können erneuerbare Energietechnologien das Hauptproblem nicht lösen.
Claudia Kemfert Da muss ich widersprechen. Die erneuerbaren Energien sind die Grundlage einer nachhaltigen Wirtschaftswelt. Es geht sicherlich nicht ohne Verbrauchsreduktion. Beispiel Verkehr: In der Tat sind 80 Prozent aller täglichen Autofahrten unter 20 Kilometer, es gibt 47 Millionen Fahrzeuge, die 23 Stunden am Tag herumstehen, Stehzeuge also. Individuelle Mobilität bedeutet nicht automatisch individuelles Fahrzeug. Es geht um Verkehrsvermeidung, -verlagerung und -optimierung. Weniger unnützer Verkehr, mehr Schienenverkehr, klimaschonende Treibstoffe. Dadurch sinkt der Primärenergiebedarf deutlich! So gelingt eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien. Das können wir auch belegen mit unseren Modell-Simulationen, dass das durchaus möglich ist.
Niko Paech Ich glaube nicht, dass man im Labor und in einer Studie, die auf Simulation beruht, die Realität der Energiewirtschaft einfach darstellen kann. Klar, die Einsparpotentiale im Verkehr sind enorm, aber nicht auf Basis technischer Neuerungen, sondern durch Rückbau, durch Senken der Ansprüche. Ich halte es für gefährlich, das Schicksal der Gesellschaft einem technischen Fortschritt zu überantworten, der erstens noch nicht eingetreten ist, dessen Eintreten zweitens nicht bewiesen werden kann und von dem drittens im Vorhinein nicht gewusst werden kann, welche unbeabsichtigten Nebenfolgen er hat.
Claudia Kemfert Ich rede über Wissenschaft, nicht über Glauben. Die Techniken sind heute bekannt und können sofort eingesetzt werden, das ist kein Versprechen, sondern Fakt. Die Modellsimulationen sind wichtig und wertvoll, um Entwicklungsszenarien aufzuzeigen. Das gehört zur Wissenschaft dazu. Selbst wenn sich die Zukunft selbstverständlich nicht minutiös vorhersagen lässt, ist es wichtig und sinnvoll, Lösungspfade zu beschreiben, gerade um die Gesellschaft zu motivieren. Dagegen halte ich es für gefährlich, den Eindruck zu erwecken, dass es keine Lösungswege gibt und dass die Welt auf den Abgrund zusteuert. Untergangsszenarien schüren Angst und motivieren nicht zum dringend notwendigen Wandel.
Niko Paech Ich finde, gerade wir Wissenschaftler sollten den Menschen endlich reinen Wein einschenken. Die Kirche kann nicht die Wahrheit erzählen, sonst laufen ihr die Schäfchen weg. Die Politik kann nicht die Wahrheit erzählen, sonst laufen ihr die Wähler weg, und die Wirtschaft kann die Wahrheit am wenigsten erzählen, sonst laufen die Kunden weg. Ich zitiere hier gern Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“. Wer, wenn nicht wir, soll den Mut aufbringen, grüne Lebenslügen offenzulegen?
Natürlich ist das nicht alles, denn es geht immer auch um eine Vorstellung von gelungenem Leben, um den Menschen etwas anzubieten – da gebe ich dir recht. Wir stehen nicht nur vor ökologischen, sondern auch vor psychischen Wachstumsgrenzen. Das zeigt die Glücksforschung. Der Wohlstand, um dessen Rettung sich alles rankt, hat schon vor Jahrzehnten seine Kraft verloren, die Lebenszufriedenheit der Menschen zu steigern. Ich rede hier natürlich vom Gros der Bevölkerung moderner Konsumdemokratien, nicht von Langzeitarbeitslosen, von prekär Beschäftigten oder vom globalen Süden.
Claudia Kemfert Ja, aber glücklich kann ja auch machen, wenn man sich in einer Wirtschaft bewegt, die mir die Güter, die ich zum täglichen Leben brauche, bietet und gemeinschaftlich erwirtschaftet. Für mich ist das nicht eine Frage der Selbstbegrenzung, sondern der Selbsterweiterung und eine unglaublich positive Erfahrung, wenn man sich auf diesen Weg begibt und ihn gemeinschaftlich bewältigt.
Niko, bei deinem Ansatz muss ich an die Debatten der letzten Jahre denken. Sei das Fleischverzicht in jeglicher Form oder das Tempolimit. Gerade Corona hat ja auch gezeigt, wie weit oder wie wenig gewillt die Menschen sind, dauerhaft auf Dinge zu verzichten, an die sie sich gewöhnt haben. Also stehst du nicht vor einem massiven Kommunikationsproblem? Wie kriegst du die Menschen dazu, weniger haben zu wollen?
Niko Paech Ich weigere mich, dieser Gesellschaft als Wissenschaftler ein Alibi für Handlungsmuster zu geben, die in den Abgrund führen. Außerdem gibt es nicht „den“ Menschen. Eine Gesellschaft ist heterogen, sie ist durchsetzt von kulturellen Ungleichzeitigkeiten, was auch eine Chance sein kann. Denn die Vielfalt bringt Pioniere hervor, die neue, überlebensfähige und ökologisch tragfähige Lebensformen testen. An diesem Anschauungsmaterial und Erfahrungswissen können sich die Zaghafteren orientieren, die, wenn sie die neue Form imitieren, wiederum andere inspirieren.
Der Mensch ist bei aller sonstigen Verschiedenheit ein soziales Wesen, das heißt, er richtet sich an dem aus, was er bei anderen beobachtet. Einen anderen Lebensstil einzuüben, ist ein sozialer Prozess, den uns die Politik nicht abnehmen kann. Im Gegenteil: Sie hält uns durch technische Alibis sogar davon ab. Um die Menschen nicht zu belügen, muss man ihnen – gerade als Wirtschaftswissenschaftler – sagen: Wir müssen es selber tun. Wenn nicht genug Menschen freiwillig und ohne politische Krücke ein Beispiel für jenes Leben liefern, von dem sich nach bestem Wissen und Gewissen sagen lässt, dass dies einer Überlebenschance gleichkommt, wenn sich alle daran halten, sind wir verloren.
Mein Vorwurf an Wissenschaft und Politik ist: Es werden verführerischere und hoch intellektuelle Alibis produziert, um individuelle Verantwortung zu zerstören. Die Marxisten sagen, wir können nichts tun, weil der Kapitalismus schuld ist. Soziologen sagen, es gibt Systemlogiken, gegen die nichts auszurichten ist. Claudia sagt, es liegt an den Rahmenbedingungen, es fehlen die Anreize. Dann kommen noch viertens die Kulturwissenschaftler und sagen, wir seien hilflose Opfer der Kultur. Und die Pädagogen sagen, es fehlen die richtigen Bildungskonzepte. Überall liegt die Verantwortung – nur bei mir nicht. Diesen Supermarkt der Ausreden möchte ich nicht länger bedienen.
Claudia, lieferst du mit deinen Vorschlägen den Menschen wirklich nur ein Alibi, wie Niko sagt?
Claudia Kemfert Also, im Ziel sind wir uns tatsächlich einig. Aber beim Weg keinesfalls! Wenn wir wollen, ist vieles möglich. Und wenn wir beieinander stehen. Corona, da wär ich jetzt bei Ricos Frage, hat doch eindeutig gezeigt, dass uns gewisse Dinge auch gut tun: die Entschleunigung, die Solidarität. Wir kaufen ein für unsere Nachbarin. In der Hausgemeinschaft hat sich vielleicht etwas ganz Positives entwickelt. Wir nutzen Videokonferenzen und hetzen nicht mit dem Flieger zum nächsten Meeting. Ich fahre in Berlin jetzt endlich bei sauberem Himmel auf unseren temporären Fahrradstraßen. Endlich, seit zwölf Jahren. Seitdem ich hier wohne, wird über die Straße diskutiert. Jetzt ist sie auf einmal da. Genau darum geht es mir: Das sind doch keine Verzichts-Verrenkungen, sondern simple, handhabbare Realität! Ich würde mir nur wünschen, dass wir nicht erst Krisen brauchen, um die Dinge zu verändern.
Solcher Wandel ist kein Verzicht, sondern eine unglaubliche Bereicherung. Als Wissenschaftlerin sehe ich es als meine Pflicht, die wirtschaftlichen Chancen solcher Veränderungen aufzuzeigen, verschiedene Wege in wissenschaftlichen Modellen zu berechnen und in Fachkreisen zu diskutieren – aber natürlich auch diese Lösungen breit zu kommunizieren.
Niko Paech Das ist ein wichtiger Punkt. Aber auch ich spreche nicht von Verzicht, schon deshalb nicht weil ich mich frage, wie man auf etwas verzichten kann, was einem auf einem endlichen Planeten nie zugestanden haben kann.
Wo wir uns aber unterscheiden: Du scheinst dich auf das zu konzentrieren, was als etwas Positives und Zusätzliches angeboten werden kann. Demgegenüber fordere ich, dass Subtraktion und Addition als gleichberechtigte Entwicklungsrichtungen zu sehen sind. In den Industrieländern kann nachhaltige Entwicklung vorerst nur eine Kunst der Unterlassung und nicht des zusätzlichen Bewirkens sein. Wer sich jenseits des Optimums befindet, sollte sich die Formel „Reduced to the max“ zueigen machen. Aber das heißt dann dennoch, sich zu verbessern. Und dann gebe ich dir Recht, wenn du sagst, die Verbesserung ist der blaue Himmel, sind die singenden Vögel, die Entspannung. Ich will eben nur nicht verschweigen, dass der Weg dorthin bedeuten kann, etwas loszulassen, zu entschleunigen und zu reduzieren.
Claudia Kemfert Wir sind uns einig: Es geht um Veränderung. Ich möchte dabei allerdings nicht den Verzicht in den Mittelpunkt stellen, sondern den Gewinn und die Freude, welche die Veränderung bringt. Dafür brauchen wir erstens die richtigen ökonomischen Rahmenbedingungen und zweitens eine Ehrlichkeit über Kosten und Potentiale. Hier liefert die Wissenschaft nachvollziehbare Erkenntnisse und Modelle. Ich will die Menschen für den Wandel begeistern und zum Mitwirken anregen. Motivation statt Depression.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Belinda Grasnick; Fotoredaktion: Martin Gommel.