Vor drei Jahren habe ich etwas getan, von dem mir viele gesagt haben, dass sie es sehr mutig fanden. Ich habe mit Ende 50 und als Alleinverdiener und Familienvater fast alles eingesetzt, was meine Familie und ich an Rücklagen hatten, und ein Unternehmen gegründet: Ein Restaurant und eine Brauerei. Ein Traum, in den meine Frau und ich insgesamt 800.000 Euro investiert haben. Meine ganze private Altersvorsorge habe ich da reingesteckt und eine Menge Geld, das meine Familie mir geliehen hat. Leider habe ich mir die Branche mit den größten Einbußen durch die Corona-Krise ausgesucht. Jetzt ist das Restaurant geschlossen – und ich musste einen Insolvenzantrag stellen.
In den ersten drei Jahren in der Gastronomie Geld zu verdienen, ist ohnehin schon schwer. Eigentlich hätte dies das Jahr sein sollen, in dem es einfacher wird. Zum ersten Mal hatten wir schon im Voraus eine ganze Reihe von größeren Feiern im Reservierungsbuch stehen. Unser Städtchen ist zwar recht klein, wir haben etwa 10.000 Einwohner, aber ein hübsches Ausflugsziel für die umliegenden Gemeinden und auch nicht weit von Köln weg. Ich war optimistisch, dass es dieses Jahr gut klappen würde.
Stattdessen hatten wir am 15. März diesen Jahres nun das letzte Mal offen. Ich wusste damals schon, dass wir nicht wieder aufmachen würden. Wir hatten an dem Tag eigentlich ein Konzert geplant, aber Veranstaltungen waren da schon nicht mehr erlaubt. An diesem Tag habe ich unserem Koch Günni und unserer Servicekraft Petra die Kündigungen übergeben. Meine Frau Sandra war auch da. Wir haben alle zusammen geheult. Zum Glück nicht alle gleichzeitig, es war immer einer da, um die anderen in den Arm zu nehmen. Das war hart. Um das verlorene Geld werde ich nicht weinen, aber das tat wirklich weh. Wir hatten auch zehn Aushilfen auf 450-Euro-Basis, denen ich kündigen musste.
Am Anfang war ein Sack Hopfen
Mein Traum fing schon 2014 an, als mir ein Mann in einer Brauerei in Schottland einen Sack Hopfen unter die Nase hielt. Ich war auf Reisen mit einem Freund, wir hatten schon viele Whiskybrennereien besucht. Die kleine Bierbrauerei war eigentlich nur eine bessere Garage, die haben dort zu zweit in Handarbeit Bier gebraut: Craft Beer. Und zwar erfolgreich! Die haben zu dritt angefangen, aber mittlerweile sind sie neun Mitarbeiter. Ihr Bier wird in Pubs quer durchs Land ausgeschenkt. Das hat mich beeindruckt. Und dann der Hopfen: Aus diesem Sack stiegen so viele spannende Aromen, fruchtig und gleichzeitig würzig – nichts, was man mit deutschem Pils in Verbindung bringen würde. So etwas hatte ich noch nie gerochen. Danach haben wir das Bier verkostet und ich konnte tatsächlich all die feinen Hopfen-Aromen schmecken.
Als ich wieder zurück in Deutschland war, habe ich gemerkt, dass man solche Biere auch hier kaufen kann. Dass es also einen Markt dafür gibt. Und ich habe gedacht: Wenn die da in Schottland in ihrer Garage Bier brauen, dann kann ich das auch.
Mit Anfang 50 kriegen ja viele einen Rappel, dass sie in ihrem Leben noch etwas anderes machen möchte. Ich bin eigentlich Regisseur, habe lange fürs Fernsehen und für Veranstaltungen gearbeitet. Das war spannend – ich habe zum Beispiel einmal die Regie bei der Eröffnungsfeier der World Games gemacht. Trotzdem schien mir die Aussicht, das bis zur Rente zu machen, ein bisschen langweilig.
Bierbrauen war für mich erst nur ein Hobby. Ich habe mein Leben lang immer etwas gebraucht, was ich lernen konnte. Und Kochen konnte ich schon immer gut. Also habe ich mir mit Hilfe eines Onlineforums selbst beigebracht, wie Bierbrauen geht. Man braucht gar nicht viel – einen Kochtopf, ein Thermometer, viel mehr ist es nicht. Und es hat Spaß gemacht! Auf Partys waren meine Biere immer relativ schnell weg. Das ist nicht immer so bei Hobbybrauern, das weiß ich von Freunden – oft gehen die Reaktionen eher in Richtung: „Interessant, aber habt ihr auch Kölsch da?“
Der Traum wird Realität
Allmählich haben meine Frau Sandra und ich mit dem Gedanken gespielt, das mit dem Bier zu professionalisieren. Schon Sandras Mutter hatte von einer eigenen Kneipe geträumt. Dann hat die Bäckerei bei uns im Ort zugemacht. Sandra kam zu mir und meinte: „Sag mal, da hängt jetzt ein Zettel an der Tür der Bäckerei, dass sie zumachen müssen und die Immobilie frei wird.“ Uns war sofort klar, dass das unsere Gelegenheit war. Viele hatten uns gesagt, dass genau so ein Lokal, wie wir es uns vorstellten, bei uns im Ort fehlt: Nicht nur ein Restaurant, sondern eine Begegnungsstätte mit Veranstaltungen und Kunst und Kultur. Dann wurde alles sehr schnell konkret. Wir haben das Haus der ehemaligen Bäckerei gepachtet und komplett umgebaut. Alles wurde bis auf die Grundmauern abgerissen und neu gemacht. Sogar die Fußböden – eine Zeit lang liefen wir auf Sand. Die Möbel, große, stabile Tische, haben wir extra von einer Schreinerei anfertigen lassen. Und auch in der Küche wurde alles neu gemacht. Der Umbau allein hat mehr als neun Monate gedauert.
Außerdem habe ich eine Ausbildung als Biersommelier gemacht. Da lernt man zum Beispiel, verschiedene Biersorten am Geschmack zu erkennen. In der Prüfung mussten wir sechs verschiedene Sorten auseinanderhalten. Wir haben auch viel über Bierstile gelernt. Beispielsweise darf ein bayrisches Hefeweizen ein bisschen nach Banane und Gewürznelke schmecken. Bei anderen Bieren ist das ein Stilfehler. Wir haben auch einen Koch und eine Frau für den Service eingestellt, Günni und Petra. Petra ist Mitte 50 und war am Anfang ganz schön skeptisch, weil unser ganzes System digital war, sie war an Kellnerblock und Stift gewöhnt. Aber sie hat es schnell gelernt und es hat super funktioniert. Günni ist in meinem Alter. Er hat den Laden von Anfang an geliebt. Er sagte mir, in so einer schönen Küche hätte er in 40 Jahren noch nicht gekocht. Meine Frau hat auch mitgeholfen. Sandra blieb war zwar lieber im Hintergrund – sie hat die Buchhaltung gemacht, hinter der Theke gestanden –, aber sie hat gute Verbindungen in die Künstlerszene und hat dafür gesorgt, dass wir viel Original-Kunstwerke bei uns ausstellen konnten. In einem unserer Räume hatten wir ständig wechselnde Ausstellungen.
Dann kommt die Pandemie
Der 31. August 2017 war der Tag, an dem wir eröffnet haben. Die Zeit danach war sehr schwierig – wir mussten viel arbeiten. Unsere Kinder waren damals sieben und zehn und mindestens einer von uns Eltern war abends immer im Lokal und bis Mitternacht weg. Sie haben sehr oft sehr wenig von uns gesehen. Aber oft stand ich im Lokal, wenn alles lief, und dachte: Das ist einfach toll. Es ist klasse, wenn du abends mit der Mannschaft da stehst und einen Schnaps trinkst. Wenn ich den Leuten das Essen gebracht habe, haben sie gesagt: „Oh, der Chef kommt persönlich!“ Irgendwann habe ich angefangen, alle zu grüßen, die ich im Dorf getroffen habe. Alle kannten mich. Jemand hat mal gesagt, ich sei wie ein sizilianischer Patron. Der immer alles mitkriegt, weiß, was läuft, und diskret eingreift. Ich glaube, ich habe auch wirklich einen Sinn dafür.
Aber dann kam die Pandemie. Am Anfang habe ich noch gedacht, das wäre einfach eine saisonale Grippe und nicht weiter wichtig für uns. Dann haben wir Anfang März reihenweise Stornierungen bekommen. Mehrere Tage hatten wir kaum Umsatz, die Leute blieben weg. Wir waren im Sinkflug. Am letzten Abend war kaum noch jemand im Lokal. An diesem Abend saß ich da und dachte: „Okay, das wird nichts mehr.“ Das war ein furchtbares Gefühl. Ich wusste, ich muss meinen Mitarbeitern kündigen und den Traum aufgeben.
Es muss weitergehen
Die Beschränkungen sind plötzlich über uns hereingebrochen, die politischen Statements für die Gastronomie haben sich ständig geändert. Sobald Verordnungen gültig waren, kamen wieder komplett neue Ansagen. Erst hieß es, Restaurants dürften mit verschiedenen Hygienevorkehrungen offen bleiben, aber das war gleich wieder passé. Trotzdem habe ich mir nie gewünscht, dass schnell wieder alle aufmachen. Ich habe selbst Probleme mit der Lunge, mein bester Freund hat Parkinson. Mir war klar, dass wir dieses Virus ernst nehmen müssen.
Ende März, Anfang April bin ich dann erstmal in ein großes, tiefes Loch gefallen. Ich hatte alles verloren. Aber mir war auch klar, dass es irgendwie weitergehen musste. Meine zwei Kinder sind jetzt zehn und 13 Jahre alt. Glücklicherweise hatte ich noch vollen Zugang zur Brauerei. Und es wäre ja bescheuert gewesen, das ganze übrige Bier in den Gulli laufen zu lassen. Am 4. April haben wir dann zum ersten Mal Flaschenbier verkauft. So ist zumindest ein bisschen Geld reingekommen und wir kamen einigermaßen über die Runden. Es war auch schön zu sehen, wie viele Fans ich hier im Ort habe. Viele haben gesagt: „Wenn man einmal dein Bier getrunken hat, dann schmeckt das Bier aus dem Supermarkt einfach nicht mehr so gut.“
Außerdem habe ich meinen ehemaligen Regie-Auftraggebern Bescheid gesagt, dass ich wieder Arbeit brauche. Am Anfang sah es ganz schön mau aus. Mittlerweile ist das besser. Ich werde auch mal meine Kontakte aus der Gastronomie anfunken, vielleicht kann ich mit meiner Biersommelier-Ausbildung etwas für die tun. Mit Sicherheit werde ich auf irgendeine Weise auch in Zukunft weiter brauen. Es geht ja immer irgendwie weiter.
Das Unternehmen geht, die Würde bleibt
Natürlich hatte ich Angst und Sorgen, als der ganze Prozess mit dem Insolvenzantrag anfing. Das war wie ein Berg, auf den ich steigen musste, ohne zu wissen, was dahinter liegt. Und es ist unglaublich viel Arbeit. In den letzten Wochen habe ich meinem Insolvenzverwalter sehr viele Dokumente und Daten geschickt. Mein Anwalt hat am Anfang gesagt: „In einem halben Jahr wird es ihnen so viel besser gehen, sie werden es nicht glauben.“ Und er hatte recht.
Auf eine Weise bin ich jetzt freier als vorher. Ich muss nicht mehr schieben und mich sorgen, damit die Zahlen passen. Ich kann einfach allen erzählen, wie es ist. Meine beiden Hauptbanken haben gar nicht so schlimm reagiert. Denen ist auch klar, dass es Unternehmer wie mich am härtesten trifft. Und es gibt klare Regeln dafür, wie es jetzt weitergeht.
Ich habe gemerkt, dass man mit seinem Geschäft nicht seine Würde verliert. Und dass der Verlust keine Schande ist, erst recht nicht in dieser Situation mit der Pandemie.
Ich habe nicht das Gefühl, gescheitert zu sein. Ich habe in einer Situation, die ohne mein Zutun entstanden ist, getan, was ich konnte. Es hat nicht gereicht. Aber ich muss mich deswegen nicht kleinmachen oder als schlechter Mensch fühlen. Das sieht zum Glück auch meine Familie so, die machen mir keine Vorwürfe. Den Großteil meiner Schulden habe ich ja bei ihnen.
Ich bereue nichts
Ich bin nicht wütend, weil das alles so passiert ist. Auf ein Virus kann man nicht wütend sein. Die Krise hatte für uns als Familie sogar ein paar positive Auswirkungen. Zum Beispiel kriegen die Kinder uns jetzt viel öfter zu Gesicht, wir leben viel intensiver miteinander, machen Homeschooling, kochen gemeinsam. Unsere Lebensqualität fühlt sich viel höher an. Außerdem nehme ich jetzt den Wert von Freundschaft ganz anders wahr. Es haben so viele Freunde und ehemalige Gäste ihre Hilfe angeboten – ich wusste gar nicht, dass ich so ein riesiges Netzwerk habe. Das hätte ich ohne Corona vielleicht nie gemerkt.
Ich bereue nicht, dass ich das Restaurant eröffnet habe. Klar, man könnte sagen: Hätte ich es bloß gelassen, dann hätte ich jetzt noch das ganze Geld und keine Sorgen. Aber ich habe auch viel gelernt. Zum Beispiel, was es bedeutet, als Selbstständiger für andere verantwortlich zu sein. Das weiß ich jetzt, auch wenn ich froh bin, dass ich das nicht mehr machen muss. Letztendlich ist Gastronomie ganz oft auch Selbstausbeutung. Es hat mich immer viel Kraft gekostet, die Sorgen beiseitezuschieben. Das Restaurant jetzt wieder aufzubauen, dafür wäre eine Kraft nötig, die ich in meinem Alter nicht mehr aufbringen kann und will.
Deswegen bin ich auch skeptisch mit Hoffnungen, dass wir es vielleicht doch irgendwie schaffen könnten. Bisher habe ich ja nur den Antrag auf Insolvenz gestellt, noch könnte ich ihn zurückziehen. In den letzten Wochen wurde ich ständig gefragt, wann wir wieder aufmachen. Ich bin der Frage lange ausgewichen. Vor Kurzem habe ich dann zwei Leuten erzählt, dass wir wahrscheinlich nicht wieder öffnen werden. Ein paar Tage später stand ein Mann vor unserer Tür und hat gesagt, wie wichtig unser Laden als Stätte der Begegnung für den Ort ist. Er will ein Crowdfunding starten. Wenn man so etwas hört, dann fragt man sich natürlich schon, ob man es nicht doch versuchen sollte.
Wir müssen ein finanzielles Polster für die Rente anlegen
Es ist schön, dass so viel Positives von den Leuten zurückkommt. Aber ich sehe nicht, dass das Konzept, was wir hatten, in den nächsten Jahren wieder funktionieren kann, nicht mit den Nachwirkungen von Corona. 120 Menschen in einem Lokal – das wird nicht mehr möglich sein, denke ich, auch nicht nach dem Impfstoff. Anders lohnt es sich aber kaum.
Ich stehe ja noch mit vielen Gastronomen in Kontakt: Unter den aktuellen Bedingungen aufzumachen, lohnt sich für viele nicht. Die versuchen alles, um ein paar Einnahmen zu haben – aber sie zahlen trotzdem jeden Monat drauf. Ganze Geschäftsmodelle stehen vor dem Aus.
Leider haben sowohl ich als auch meine Frau nie viel in die gesetzliche Rente eingezahlt. Wir haben beide viel selbstständig gearbeitet, dann war sie Hausfrau. Das, was uns momentan zusteht, ist nicht viel mehr als Hartz IV. Trotzdem ist die Insolvenz für mich letztlich weniger schlimm, als gedacht. Ich wollte sowieso nie in der Rente Kreuzfahrten machen. Es gibt auch keine Orte, wo ich sage, da muss ich noch unbedingt hin. Dann spiele ich eben als Rentner wieder ein bisschen mehr Gitarre. Und wenn die Kinder später studieren wollen, kriegen wir das irgendwie noch hin. Zur Not gibt es ja auch Bafög. Ich denke nicht, dass unsere Kinder auf Bildung verzichten werden müssen. Ich hoffe, dass wir das Haus behalten dürfen, dann müssen wir wenigstens später keine Miete mehr zahlen. Es gehört zur Hälfte mir, zur anderen Hälfte meiner Frau. Und die Schulden habe ja nur ich. Wir werden schon eine Lösung finden. Auch, wenn es lustig klingen mag: Ich bin ja erst 61. Ich werde noch ein paar Jahre arbeiten und zurückzahlen, was nötig ist. In den nächsten Jahren müssen wir schauen, dass wir ein kleines finanzielles Polster anlegen. Nach sechs Jahren wird das Insolvenzverfahren abgeschlossen und ich werde von meiner Restschuld befreit sein. Dann kann ich ohne Schulden in die Rente starten.
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Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel