Dein Smartphone weiß so viel über dich wie deine besten Freund:innen. Oft sogar mehr. Würdest du dir von deinen Freund:innen regelmäßig den Puls messen lassen und ihnen ganz genau den Weg beschreiben, den du gestern gelaufen bist? Oder deinen Zyklus bis ins kleinste Detail mit ihnen besprechen, inklusive Beschwerden wie Blähungen und Durchfall? Nein? In Fitness-, Karten- oder Perioden-Apps halten viele Menschen diese sehr persönlichen Daten tagtäglich fest.
Zugleich ist es für viele aber unvorstellbar, dem Staat freiwillig private Daten zur Verfügung zu stellen. Das zeigt die aktuelle Diskussion um eine Corona-App. Anfang April gab fast die Hälfte der Befragten bei einer Umfrage an, dass sie eine solche App nicht auf ihrem Smartphone nutzen würden. Der Großteil von ihnen hatte Bedenken wegen des Datenschutzes. Eine App würde im Kampf gegen die Pandemie wirklich weiterhelfen, wenn 60 Prozent der Bevölkerung sie verwenden, stellt eine Studie der Universität Oxford fest.
Wenn sich der Staat um Daten bemüht, gibt es große Debatten. Wenn allerdings US-amerikanische Tech-Unternehmen Standortdaten, Such- und Chatverläufe massenweise abspeichern, zucken die meisten kaum noch mit der Wimper. Warum vertrauen wir Unternehmen mehr als dem Staat? Im Gespräch mit Datenschützer:innen habe ich fünf Gründe gefunden, die das womöglich erklären können:
Grund 1: Datenschutz wurde als Instrument gegen den Staat entwickelt
Datenschutz ist eine deutsche Erfindung. Zumindest hatte mit Hessen ein deutsches Bundesland 1970 das weltweit erste Datenschutzgesetz. Darin war geregelt, welche persönlichen Daten von Privatpersonen die hessische Landesverwaltung verarbeiten darf. Es ging also um das Verhältnis des Staates zu seinen Bürger:innen.
Auf dem Weg zum heutigen Bundesdatenschutzgesetz wurde immer wieder ausgehandelt, dass der Staat nicht zu viele persönliche Daten sammeln darf. Das Bundesverfassungsgericht entschied 1983, dass Volkszählungen nur gemacht werden können, wenn die Daten anonymisiert erhoben werden.
Spätestens danach war klar: Datenschutz ist ein Grundrecht, um das immer wieder gekämpft wird. Das Bundesverfassungsgericht nannte es das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“. Die Frage, wie Privatunternehmen mit den Daten von Privatpersonen umgehen, hat sich damals nicht gestellt. Und sie ist auch heute nicht abschließend geklärt.
Wir sind daran gewöhnt, dass Gesetze uns vor allzu großen Eingriffen des Staates in unsere Privatsphäre schützen. Bei Unternehmen sind Regelungen wie die Datenschutzgrundverordnung in der EU eher neu.
Grund 2: Tech-Unternehmen erzählen die bessere Story
Wenn man den Unternehmer:innen aus dem Silicon Valley zuhört, kann man das Gefühl bekommen, dass es ihr Lebensziel ist, eine bessere Welt zu schaffen. „Ich glaube, das Wichtigste, was wir zur Zeit tun können, ist, Leute zusammenzubringen. Das ist so wichtig, dass wir die gesamte Mission von Facebook verändern, um das umzusetzen“, schrieb etwa Facebook-Gründer Mark Zuckerberg 2017 in einem Blogpost. „Google möchte das Leben so vieler Menschen wie möglich verbessern“, war die Mitteilung zum Börsengang des Suchmaschinen-Unternehmens 2004.
Die Serie „Silicon Valley“ bringt die Sprache der Tech-Gründer auf den Punkt: Sie wollen Plattformen „revolutionieren“ und „die Welt zu einem besseren Ort“ machen. Und sie sind SoLoMo – sozial, lokal und mobil. Oder war es doch MoLoSo? LoMoSo? Egal. Hauptsache, es klingt gut:
https://www.youtube.com/watch?v=B8C5sjjhsso
Vor allem erzählen uns die Tech-Unternehmen aber eines: Dieses Internet gehört dir. Wir Plattformbetreiber stellen dir nur die Instrumente dafür. Du machst damit, was du willst. Du schreibst deinen Freund:innen. Du bestimmst, was du mit ihnen teilst. Und du entscheidest sogar über deine Privatsphäre-Einstellungen.
Dass deine Interaktionen auf den Plattformen gespeichert und für andere Zwecke verwendet werden können, dass niemand außer Facebook und Google weiß, wie ihre Algorithmen funktionieren, dass die Geschäftsmodelle intransparent sind, gerät dabei schnell in Vergessenheit.
Im Gegensatz dazu hat der Staat einen verdammt schlechten Ruf. Er ist der strenge Chef, der die Regeln aufstellt, an die du dich halten musst – auch wenn sie dir manchmal nicht so richtig passen. Und er könnte dich bestrafen, wenn du dich nicht an die Regeln hältst.
Grund 3: Facebook verhaftet dich nicht, die Polizei schon
Spielen wir das mal durch: Was kann passieren, wenn der Staat persönliche Daten hat? Am Beispiel der Standortdaten während der Corona-Pandemie kann man das sehr gut nachvollziehen. In Südkorea ist es zum Beispiel so: Wer positiv auf Covid-19 getestet wurde, kann sich eine Tracking-App installieren (muss es aber nicht). Der Staat weiß dann mithilfe der Standortdaten in der App, wenn sich die infizierte Person außerhalb ihres Hauses bewegt – und warnt Menschen, die sich ebenfalls in der Umgebung aufhalten.
Dieses Szenario kann man auch weiterdenken: Eine infizierte Person, die eigentlich in Quarantäne sein sollte, es aber nicht ist, könnte im Prinzip von der Polizei aufgegriffen und weggesperrt werden. Es könnte also eine konkrete Gefahr für Leib und Leben sein, wenn der Staat Daten sammelt. Ganz aus der Luft gegriffen ist das Beispiel nicht: In Sachsen-Anhalt hat das Landesinnenministerium Daten von Menschen in Quarantäne an die Polizei weitergegeben.
Im Vergleich wirkt der Einfluss, den Tech-Unternehmen auf uns haben, harmlos. Sie wollen mit den gesammelten Daten vor allem unsere Kaufentscheidungen beeinflussen, um so Geld zu verdienen. Wenn ich mir gerade ein neues Rad zulegen möchte, ploppt plötzlich überall Werbung für eine bestimmte Fahrradmarke auf. Das kann beunruhigend sein. Aber letztendlich ist es meine eigene Entscheidung, ob ich dann auch wirklich ein Fahrrad von dieser Marke kaufe.
Das Problem an dieser Denkweise ist: Niemand sagt, dass die Daten auch wirklich ausschließlich in der Hand der Unternehmen bleiben. Sie können Informationen an Dritte weitergeben. 2016 hat Cambridge Analytica mithilfe von Facebook-Daten von 87 Millionen Nutzer:innen politische Kampagnen gestaltet – und so womöglich den US-amerikanischen Wahlkampf manipuliert.
Wenn sich Apple und Google jetzt in Europa besonders damit hervortun, dass sie nur eine dezentrale Speicherung der Corona-Daten unterstützen, dann ist das vor allem: cleveres Marketing.
Grund 4: Tech-Unternehmen versprechen eine bessere Kosten-Nutzen-Rechnung
Das Internet ist – größtenteils – kostenlos. Wir können mit Familie und Freund:innen in aller Welt kommunizieren, Informationen recherchieren und unsere Freizeit online gestalten, ohne einen müden Euro dafür locker zu machen. Suchmaschinen, Apps und soziale Netzwerke haben einen riesigen Nutzen.
Inzwischen gibt es zwar ein Bewusstsein dafür, dass wir mit unseren Daten bezahlen – aber das nehmen wir, manchmal zähneknirschend, hin. Wir bewegen uns im Internet wie Löwen in der Savanne, die sich nicht fragen, woher die riesigen Gazellenherden kommen. Zehn Jahre lang begrüßte Facebook seine Nutzer:innen mit dem Slogan „It’s free and it always will be.“ Facebook sei für immer kostenlos, bis es den Slogan 2018 änderte. Jetzt steht dort: „Es geht schnell und einfach.“ Das zeigt: Nutzer:innen begreifen langsam, dass soziale Netzwerke nicht umsonst sind – aber das ist eine neue Entwicklung.
Wenn staatliche Stellen Daten über uns sammeln, erscheinen die Kosten im Vergleich zum Nutzen aber immens groß. Der Staat will unsere Daten, er tut nicht so, als gäbe es überall kostenlos Gazellen. Er sagt das ganz offensiv, denn das muss er, um legitim zu bleiben.
Der Nutzen? Ist abstrakter als bei privaten Apps. Man kann keine Freund:innen kontaktieren, der Schlaf wird nicht optimiert. Klar, der Nutzen ist eigentlich riesengroß: Es geht um die Gesundheit aller. Aber er ist nur da, wenn viele mitmachen. Die Contact-Tracing-App würde der gesamten Gesellschaft zwar weiterhelfen, weil sie zu einer Eindämmung des Virus beitragen könnte. Aber Einzelpersonen hilft sie womöglich überhaupt nicht, weil man vielleicht sowieso nie in Kontakt mit einem Infizierten war.
Grund 5: Es kommt immer auf die Mitmenschen an
Auch wenn wir keine Rudel bilden, handeln wir am Ende oft gemeinschaftlich. Wenn all deine Freund:innen auf Instagram Fotos posten, möchtest du sie auch sehen, um mitreden zu können. Wenn deine ganze Familie sich ständig über Whatsapp austauscht, kann es sein, dass du dich ausgeschlossen fühlst, wenn du nicht dabei bist. (Okay, ich weiß, das kann auch ein Segen sein.) Die Apps der großen Tech-Unternehmen gehören längst zu unserem Alltag.
An staatliche Datensammlungen per App müssen wir uns erst gewöhnen. Für viele werden sie erst dann akzeptabel sein, wenn ihre Nachbar:innen, Freund:innen und Eltern auch mitmachen.
Es ist also möglich, dass die Frage, mit der ich diesen Artikel begann, noch gar nicht abschließend beantwortet ist. Vertrauen viele Menschen dem Staat weniger als dem Silicon Valley? Im Moment mag das so sein. Aber das liegt auch daran, dass es längst normal geworden ist, persönliche Informationen an Unternehmen abzugeben. Vielleicht – nur vielleicht – ist das in der Zukunft auch für staatliche Stellen üblich.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.