Sema Tasali-Stoll ist Frauenärztin und sitzt seit sechs Jahren im Stadtrat von Weiden in der Oberpfalz. Erst vor Kurzem sagte ein männlicher Kollege augenrollend, er „versuche seit Jahren, sie zu erziehen.“ Wenn sie eine Frage stellt, wird sie belächelt. Wenn sie ihre Meinung äußert, wird sie korrigiert – oder jemand anders wiederholt die gleiche Meinung, nur in anderen Worten. „Man wird eigentlich immer wie eine Schülerin behandelt“, sagt sie.
Tasali-Stoll ist Mitglied in mehreren Ausschüssen und Arbeitsgemeinschaften, engagiert sich in einer Beratungsstelle für Opfer sexualisierter Gewalt und wirbt gerade für ihre Wiederwahl. Sie hat ein Ziel: Sie will, dass Migrant:innen in der Politik ihrer Heimatstädte und -gemeinden sichtbarer sind. Denn jeder vierte in Deutschland lebende Mensch hat inzwischen einen sogenannten Migrationshintergrund. In den Kreis- und Stadträten ist das allerdings kaum zu sehen: Besonders Frauen mit Migrationsgeschichte sind deutlich unterrepräsentiert.
Die Anliegen von Migrant:innen werden in der Politik nicht gehört, solange sie selbst nicht vertreten sind
Im Jahr 2011 zeigten Forscher des Max-Planck-Instituts in einer Studie, dass von 100 Stadträten im Schnitt nur vier Menschen einen Migrationshintergrund hatten. Davon waren wiederum nicht einmal die Hälfte Frauen. Bis heute hat sich das Verhältnis wohl kaum verbessert.
Wer aber nicht im Stadtrat sitzt, kann auch nicht mitreden, wenn Gelder für neue Fußballplätze verteilt werden, darüber entschieden wird, welche Schule nun saniert wird und wo der neue Kindergarten entsteht. Und im Zweifel bekommen eher jene Gebiete und Themen Aufmerksamkeit, zu denen die Stadträte selbst einen Bezug haben.
Das ist problematisch, denn „ob Armut, Obdachlosigkeit, Wohnungsnot, Mietenwahnsinn, Pflegenotstand oder Bildungsmisere: Von vielen gesellschaftlichen Problemen sind Menschen aus anderen Kulturen besonders stark betroffen“, schreiben die Wissenschaftler:innen des Max-Planck-Instituts. Und die Zahlen geben ihnen Recht: Die Anzahl armutsgefährdeter Personen ist unter denen mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so hoch, verglichen mit dem Rest der Bevölkerung. Außerdem haben sie häufiger keinen Schulabschluss, brechen öfter ihr Studium ab und sind bei psychischen Erkrankungen häufiger von Fehldiagnosen betroffen.
Es geht also darum, wer mitreden und mitbestimmen darf. Aber wer sich mit der Frage beschäftigt, warum so wenige Migrant:innen in der Kommunalpolitik aktiv sind, landet bei einem größeren Problem, bei einem, das nicht unbedingt mit Politik zu tun hat, das dort aber seit einigen Jahren immer offener zutage tritt.
„Ich will in diesen Stadtrat, wenn die AfD das erste Mal da reinkommt. Der Widerstand gegen deren menschenverachtende Hetze und der politische Kampf dagegen in einem demokratischen Rahmen, das reizt mich unglaublich“, sagt Réka Lörincz, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns (AGABY) und Stadtratskandidatin in Nürnberg.
Warum ihr das wichtig ist, macht sie an einem aktuellen Beispiel deutlich: Nach der Wahl in Thüringen, bei der der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD-Fraktion um Björn Höcke zum Ministerpräsident gewählt worden ist, wurde viel geredet: Über das antidemokratische Gedankengut der Partei, das Ende des Konservatismus und die Führungsfrage in der CDU. Doch keine einzige Partei, keine Parteivorsitzende und kein führender Politiker stellte sich vor die Presse und erklärte, man werde die von Rassismus Betroffenen schützen, sich vor sie stellen. Sich mit jenen zu solidarisieren, die vom Gedankengut der AfD schon jetzt tagtäglich bedroht sind, daran dachte niemand.
„Offensichtlich haben politische Parteien keine Ahnung, was diese Menschen jeden Tag durchmachen müssen, was sie bewegt, was ihnen wichtig ist, was ihre Bedürfnisse und Interessen sind und was sie alles mitbringen für unsere Gesellschaft“, so Lörincz. Deshalb sei die Zeit längst überfällig, die gesellschaftliche Realität endlich auch in den Stadt- und Kreisräten abzubilden: „Wir wollen nicht mehr nur Toiletten putzen und die Alten pflegen, sondern einen Platz am Tisch und mitreden“, fordert sie.
Millionen von Menschen sind in Deutschland von Wahlen ausgeschlossen
Lörincz selbst kam vor sieben Jahren nach Deutschland, weil sie „in einer anderen Demokratie leben und ihre demokratischen Rechte anders ausüben wollte als in Ungarn.“ Ein Motiv, das ihr zufolge viele Menschen teilen, die nach Deutschland kommen. Doch so leicht, wie sie es sich vorstellte, war es bislang nicht.
Als EU-Bürgerin darf sie zwar bei Kommunalwahlen abstimmen und auch selber antreten, bei Bundestags- und Landtagswahlen hat sie allerdings kein Wahlrecht. Nicht-EU-Bürger:innen wiederum sind hierzulande komplett von Wahlen ausgeschlossen und dürfen sich auch nicht aufstellen lassen. Das bedeutet: Millionen von Menschen in Deutschland dürfen weder in der Bundes-, noch in der Landes- oder Kommunalpolitik mitreden – egal, wie lange sie hier schon leben oder arbeiten. Lörincz fordert deshalb schon seit Jahren, dieses „Drei-Klassen-Wahlrecht“ abzuschaffen.
„Gleiche politische Rechte sind keine Belohnung am Ende eines – was auch immer das heißen soll – erfolgreichen Integrationsprozesses, sondern müssen am Anfang stehen. Das trägt zur Demokratiebildung bei“, erklärt sie. Und fügt noch hinzu: „Wir müssen gewährleisten, dass Politik und Verwaltung endlich mit und für Migrant:innen reden - und nicht nur über sie.“ Schließlich sei die Motivation sich zu beteiligen für Menschen ohne Wahlrecht extrem gering.
Ein Ehrenamt in der Kommunalpolitik können sich viele zeitlich und finanziell nicht leisten
Der gleichen Meinung ist auch Sema Tasali-Stoll, die Stadträtin aus Weiden in der Oberpfalz. Sie wolle deshalb ein Sprachrohr für all jene sein, die sich selbst nicht einbringen können, sagt sie. Die Tochter sogenannter türkischer Gastarbeiter wurde in der Türkei geboren, kam als Erstklässlerin nach Deutschland und ging nach der Grundschule nach Istanbul zurück. Dort besuchte sie aufgrund ihrer hervorragenden Noten eine Eliteschule und studierte anschließend Medizin.
Nachdem sie mehrere Jahre in der Türkei gearbeitet hat, kehrte sie schließlich nach Deutschland zurück, als Gastärztin in einem Krankenhaus. Dort lernt sie ihren späteren Ehemann kennen, beschließt zu bleiben und findet eine Festanstellung. Später eröffnet sie ihre eigene Praxis. Über einen Französischkurs an der Volkshochschule kommt sie in Kontakt mit einigen SPD-Mitgliedern und tritt kurze Zeit später der Partei bei. Einige Jahre später wird sie Ortsvorsitzende und Stadtratskandidatin.
Durch ihren Beruf als Frauenärztin und die eigene Praxis in der Stadt befinde sie sich in einer Stellung, die innerhalb der Gesellschaft als respektabel gelte. „Wenn statt mir aber jemand aus einer anderen sozialen Position gekommen wäre und hier in so einem kleinen Ort hätte aufsteigen wollen, wäre das wahrscheinlich eher schwierig geworden. Eine unerfahrene, aber interessierte Migrantin hätte keine Chance“, sagt sie. Und deutet damit gleich mehrere, weitreichende Probleme an.
Kommunalpolitik wird größtenteils ehrenamtlich ausgeübt. Ein Leben lässt sich damit in der Regel nicht finanzieren. Deshalb hat es auch mit der sozialen Herkunft zu tun, wer in der Kommunalpolitik aktiv sein kann: Die meisten Kommunalpolitiker:innen haben einen akademischen Bildungsabschluss, Menschen aus dem Arbeiter:innenmilieu haben es deutlich schwerer. Und auch Zeit spielt eine große Rolle. Nur wer neben Job, Kindern und Hausarbeit ausreichend Zeit hat, kann überhaupt in Erwägung ziehen, sich ehrenamtlich politisch einzubringen. Dabei sind es in erster Linie Frauen, die (neben einer Erwerbsarbeit) den Großteil der Erziehungs- und Hausarbeit leisten. Und deswegen schon aus diesem Grund deutlich seltener politisch aktiv sein können.
Frauen mit Migrationsgeschichte werden mehrfach diskriminiert – und so von Entscheidungen ausgeschlossen
Tasali-Stoll ist seit einigen Jahren eine feste Größe in der Weidener Kommunalpolitik und hat zu vielen Kolleg:innen ein gutes Verhältnis. Aber auch sie erlebt immer wieder Diskriminierung – meist aufgrund der ihr zugeschriebenen Herkunft: „Ein Kollege spricht mit mir eigentlich über nichts anderes als über irgendwelche Menschen mit Migrationshintergrund, die geheiratet haben oder im Fußballverein spielen und so weiter. Über den Verwaltungsausschuss oder Kultur kann er mit mir nicht sprechen. Für ihn bin ich nur für Türken zuständig. Und für alle Themen, die damit zusammenhängen.“
Dahinter steckt ein größeres Problem, das auch die Autorin Kübra Gümüsay in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Sprache und Sein“ beschreibt – und das weit über die Politik hinaus den Alltag von Betroffenen prägt: Menschen, die als „anders” gelten, werden von der Mehrheitsgesellschaft in Schubladen gesteckt, als „der Flüchtling“ oder „die Muslima“ und anschließend in die Rolle von Sprecher:innen der ihnen zugewiesenen Kategorie gezwängt. Das heißt: Sie dürfen sich nur noch als Aushängeschild dieser Gruppe äußern. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Migrant:innen stets nur zu migrationsbezogenen Themen befragt werden, Frauen mit Kopftuch zum Islam oder Jüdinnen und Juden zur Shoah. Für Individualität bleibt ihnen kein Raum mehr.
„Die Unsichtbarkeit von Frauen mit Migrationsgeschichte in der Kommunalpolitik lässt sich letztlich nur verstehen, wenn wir sehen, dass sie mehrfach strukturell benachteiligt werden: Aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Herkunft, ihres Akzents oder ihres Aussehens – und das eine verstärkt das andere, das sehen viele nicht“, betont Réka Lörincz und veranschaulicht das an einem Beispiel.
„Gerade in der Kommunalpolitik fallen Entscheidungen oft nicht in den Sitzungen, sondern im Wirtshaus oder im Biergarten nach den Sitzungen. Und es dauert unglaublich lange, bis man erkennt, wie das funktioniert.“ Das könne einerseits befremdlich auf Menschen aus anderen politischen Kulturen wirken und schließe andererseits besonders Frauen aus, so Lörincz.
Aufgebracht erinnert sie sich an den Eklat, den eine Stadträtin auslöste, als sie einmal ihr Kind mit zur Arbeit brachte. „Wäre das ein Mann gewesen, wäre er wahrscheinlich hoch gelobt worden, weil er so ein toller Vater ist. Aber die Menschen sehen auch das eigentliche Problem dahinter nicht: Was für ein Skandal es ist, dass es nicht in sämtlichen Stadt- und Kreistagen während der Sitzungen eine Kinder- und Hausaufgabenbetreuung gibt. Und dass gerade das Frauen ausschließt.“
Die wichtigste Aufgabe sei deshalb, langfristig etwas an der politischen Kultur zu ändern. „Das geht aber nur, wenn wir in den Stadt- oder Kreistag kommen“, betont sie.
Schlechtere Listenplätze bei Wahlen führen faktisch zum Ausschluss von Kandidat:innen
Auf dem Weg dahin existiert allerdings noch eine weitere Hürde. „Es ist so, dass Menschen mit Migrationshintergrund oft keine aussichtsreichen Listenplätze bekommen“, sagt Lörincz. Und das wird bei einem stichprobenartigen Blick auf die Wahllisten im Landkreis Passau und im Berchtesgadener Land auch schnell deutlich.
In Passau sind bei CSU und AfD 15 der ersten 20 Listenplätze mit Männern besetzt, bei der SPD sind es 13. Im Berchtesgadener Land sieht es ähnlich aus: Frauen sind insgesamt unterrepräsentiert, Menschen mit Migrationsgeschichte fast unsichtbar. Und das obwohl im Bezirk Niederbayern (Landkreis Passau) 16,3 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben, in Oberbayern (Berchtesgardener Land) sogar mehr als ein Viertel.
„Bevormundung bis hin zu Diskriminierung von Migrant:innen ist in etablierten Parteien genauso verbreitet wie in anderen Teilen der Gesellschaft, gerade Frauen haben kaum eine Chance“, berichtet auch Marie-Jules Mpot Mimbang, Stadtratskandidatin in München.
Um das zu ändern, hat eine Gruppe von Münchner:innen um Mimbang im vergangenen Jahr die internationale Liste „Zusammen in Bayern“ gegründet, auf der überwiegend migrantische Kandidat:innen antreten. Eine ihrer Forderungen: Bei Neueinstellungen in der Landeshauptstadt mindestens jede vierte Stelle mit Migrant:innen zu besetzen. „Gegen Rassismus zu kämpfen, funktioniert einfach nicht ohne Menschen mit Migrationshintergrund in der Stadtgesellschaft und im Stadtrat“, begründet Mimbang das. Und auch Réka Lörincz fordert, „etwas wie die Frauenquote auch für Migrant:innen einzuführen.“
Quoten in der Politik sind ein wichtiges Instrument, reichen aber allein nicht aus
Emilia Roig ist Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Sie glaubt, dass Quoten kurz- und mittelfristig ein wichtiges Instrument sein können, um Diskriminierung in der Kommunalpolitik zu bekämpfen – langfristig aber mit anderen Maßnahmen zusammengedacht werden müssten: „Quoten allein reichen nicht. Die würden kurzfristig mehr Menschen in die Kommunalpolitik ziehen. Wenn es aber nicht zu einer Änderung des Mindsets kommt, sind sie weniger effektiv“, sagt sie.
Roig fordert deshalb, dass Politiker:innen und Beamt:innen in den Stadträten und in der Verwaltung im Umgang mit Vorurteilen und Diskriminierung geschult werden. Dafür gäbe es zum Beispiel Fragebögen, die die eigenen, unbewussten Vorurteile auf dem Papier sichtbar machen. Und dadurch überhaupt erst das Bewusstsein schaffen können, dass sie existieren und unser Verhalten beeinflussen.
Um wirklich etwas zu bewirken, müsse sich aber etwas Grundlegendes ändern: „Bildung bestimmt maßgeblich den Zugang zur Politik“, sagt Roig und fordert, alle Barrieren im Bildungssystem abzuschaffen, die Menschen mit Migrationshintergrund bisher benachteiligen: „Das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland verstärkt und verfestigt soziale Ungleichheit und die strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund von Anfang an“, erklärt sie.
Dem stimmt auch Sema Tasali-Stoll zu: Sie ist sich unsicher, ob sie die gleichen Chancen gehabt hätte, wenn sie nach der Grundschule nicht in die Türkei gegangen wäre. „Ich weiß nicht, ob ich hier eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen hätte. Wenn nicht, wäre alles anders geworden“, sagt sie. Noch wichtiger sei ihr aber letztlich ein anderer Punkt: Als sie zuletzt die Jusos aufforderte, mehr Menschen mit Migrationsgeschichte einzubinden, antworteten diese ihr, die Tür stehe doch immer offen. „Aber viele wissen einfach nicht, wo diese Tür ist“, betont sie. Und fordert deshalb ein Entgegenkommen der Gesellschaft, ein ehrliches Interesse und wirkliche Offenheit. Dazu gehöre aber zuallererst, andere „mit Respekt, und nicht wie Affen zu behandeln – egal ob in der Kommunalpolitik, auf der Straße oder im Supermarkt.“
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel