Freiberuflerin trifft Fließbandarbeiterin – wie viel Sinn muss Arbeit machen?

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Geld und Wirtschaft

Freiberuflerin trifft Fließbandarbeiterin – wie viel Sinn muss Arbeit machen?

Heike Wagner arbeitet am Fließband bei einem Autozulieferer und will damit nichts, außer Geld verdienen. Für mich wäre dieser Job undenkbar, ich wollte mich durch Arbeit immer selbst verwirklichen. Was denkt die eine über das Leben der anderen?

Profilbild von Esther Göbel
Reporterin für Feminismus

4.15 Uhr, Gardelegen, Sachsen-Anhalt: Es ist stockfinster draußen, genauso wie in Heikes Zimmer. Trotzdem beginnt jetzt ihr Tag, Frühschicht. Erst klingelt der Handy-Alarm, fünf Minuten später ihr alter Analog-Wecker. Heikes Morgen-Routine ist immer die gleiche: Dusche, Arbeitsklamotten anziehen, Kaffee und Kippe zum Frühstück, draußen auf dem Balkon. Sie zieht in Ruhe an ihrer Goldfield, bloß kein Stress am Morgen. Nachdem Heike aufgeraucht hat, schaut sie noch fünf Minuten Nachrichten, dann schlüpft sie in ihre Arbeitsschuhe, die mit den Stahlkappen über den Zehen. Um 4.55 Uhr sitzt Heike in ihrem kleinen Hyundai I20, startet den Motor und stellt das Radio an. Schlager. Das ist ihre Musik für den Morgen, Radio Brocken. Heike sammelt zwei Kolleginnen ein. Es wird nicht viel gesprochen im Auto, zu früh. Die Fahrt dauert circa 45 Minuten, danach wird Heike am Fließband stehen, 1.200 Teile, acht Stunden, ein Handgriff.

Ich: Heike, was ist dein Job für dich?

Heike: Geld verdienen.

Ich: Du arbeitest seit zehn Jahren am Band. Hast du dir das so ausgesucht?

Heike: Nee, darum ging es überhaupt nicht, nie. Ich hatte Angst, ich musste arbeiten. Weil ich dringend Geld verdienen musste. Ich war alleinerziehend.

Ich: Was ist dir wichtig im Leben?

Heike: Familie und Freunde natürlich. Aber dann kommt direkt meine Freizeit, und für die muss ich eben arbeiten gehen. In der Freizeit gehe ich zum Reha-Sport. Meine Schulter war mal kaputt, von der Arbeit, da habe ich angefangen damit und bin einfach dabei geblieben. Ansonsten treffe ich Freunde, im Winter bin ich viel zuhause. Schaue fern, erledige Dinge im Haushalt, hier was, da was. Manchmal mache ich einen kleinen Mittagsschlaf. Im Sommer fahre ich auch mal zu ’ner Freundin nach Hamburg, oder besuche meine Tochter Tina in Berlin.

Ich: Was ist das Anstrengendste in deinem Job?

Heike: Der Druck und das auf der Stelle stehen. Die Monotonie nehme ich gar nicht mehr so wahr. Aber langweilig ist es schon.

Ich: Ich könnte so nie arbeiten. Ich wüsste gar nicht, wie man diese Langeweile aushält. Findest du es schlimm, dass du sehr viel Lebenszeit in dieser Fabrikhalle an dieser Anlage verbringst?

Heike: Doch. Das finde ich schlimm. Es ist nie mein Wunsch gewesen, dass das mal so kommt. Aber ich muss ja Geld verdienen.

Heike Wagner, 56 Jahre alt, ist eine leise, zierliche Frau; niemand, die auf den ersten Blick auffällt. Und sie ist eine von circa 800.000 Menschen in Deutschland, die für einen Autozulieferer arbeiten. Für Heike und mich bedeutet Arbeit etwas ganz Unterschiedliches: Heikes Job finanziert ihr Leben. Er hat nichts mit ihren Träumen zu tun – mein Job hingegen ist mein Traum: Magazin-Journalismus, das faszinierte mich früh. Trotzdem war es ein weiter Weg zum professionellen Schreiben. Geld war dabei eher nebensächlich; ich habe nach meinem Biologiestudium auf dem Weg in den Journalismus so viele schlecht bis gar nicht bezahlte Praktika gemacht, dass ich mich nicht mehr an alle erinnern kann. Ich lebte sparsam, bekam Bafög, manchmal gab es auch ein bisschen Geld. Das musste reichen, irgendwie ging es. Ich habe meinem Job vieles untergeordnet, vor allem die finanzielle Sicherheit. Und ich erwarte viel von ihm: Sinn. Erfüllung. Antrieb. Spaß. Eine Wirkung. Experten nennen diese Haltung „Workism“.

Dieser Text ist die zweite Folge unserer Serie „Die anderen und ich“ (hier findest du die erste Folge). Wir gehen darin dem Gefühl nach, dass die Kluft zwischen Menschen und Milieus immer größer wird. Wo steuert eine Gesellschaft hin, in der immer weniger Menschen die Komfortzone der eigenen Bubble verlassen? In der man sich lieber erregt, gerne auch öffentlich via Social Media, statt nachzufragen und zuzuhören?

Niemand meiner Freunde oder Bekannten arbeitet am Band. Einer Frau wie Heike würde ich im Alltag nicht begegnen. Deswegen wollte ich mit ihr sprechen. Ich wollte wissen, was das heißt: Fließbandarbeit. Wie sieht Heikes Alltag aus? Ursprünglich wollte ich mit Heike am Band stehen, aber weil das nicht möglich war, hat sie mir ihren Arbeitsalltag genau beschrieben. Alle Szenen in diesem Text sind rekonstruiert. Aber ich wollte noch etwas von ihr wissen: Was sie über mich denkt. Hält sie mich für zu anspruchsvoll? Für eitel? Was haben wir uns zu sagen?


Gegen 5.45 Uhr: Heikes Auto biegt auf das Firmengelände ein. Sie stoppt den Motor, Heike und ihre Kolleginnen steigen aus. Sie betreten die Fabrikhalle, Heike zieht sich noch einen Kaffee am Automaten, schwarz. Jetzt raus, mit den Kolleginnen noch eine rauchen. Danach geht Heike zu ihrem Spind, verstaut ihre Tasche, packt sich ihre Arbeitshandschuhe aus weißer Stretch-Baumwolle und eine Flasche Wasser ein, dann geht sie zu ihrer Anlage. Dort meldet sie den Tagesauftrag an, den der Meister auf einem Blatt Papier vorbeigebracht hat. Sie hält das Papier unter den Scanner – und ihre Schicht beginnt.

Ich: Musst du dich bei der Arbeit sehr konzentrieren?

Heike: Das hast du irgendwann drin, weil es ja immer dieselben Handgriffe sind. Man verinnerlicht genau die Zeitabstände, also wie die Maschine läuft und wie lange man für welchen Handgriff braucht.

Ich: Die Stunden am Band, sind das lange Stunden?

Heike: Das hängt davon ab, ob viel Stress ist, auch, wie man geschlafen hat. Wenn es stressig ist, zieht sich die Zeit länger hin, als wenn du in Ruhe arbeiten kannst. Das Anstrengende ist auch das kontinuierliche Stehen. Man muss sich da zwischendurch einfach ein bisschen bewegen. Deswegen hole ich mir mein Material manchmal schrittweise, dann komm ich auch mal vom Band weg und kann ein bisschen laufen. Ich bin ja eigentlich ein Bewegungsmensch.

Ich: Wie bist du zu deinem Job gekommen?

Heike: Ich hatte hier in Gardelegen bei Ikea gearbeitet, wir haben die Billy-Regale zusammengebaut. Das war familiär da, aber als die Geschäftsführung wechselte, wurden wir von heute auf morgen dichtgemacht. Wir ahnten nichts davon. Da hieß es nur, wir sollen alle antanzen, dann kam die Chefin, mit zwei Bodyguards.

Ich: Wirklich? Mit zwei Bodyguards?

Heike: Ja, wirklich. Die kam rein, hatte die Hände in den Taschen, das fand ich ganz schlimm, das sah irgendwie gefährlich aus für mich. Ich dachte gleich: „Was’n jetzt los?!“, und dann hat sie nur gesagt: „Der Betrieb wird im Oktober geschlossen.“ Das war im August – kurz vor der Urlaubszeit. Innerhalb von vier, fünf Wochen wurde das abgewickelt. Wir hatten aber das Glück, dass eine Transfergesellschaft mit eingestiegen ist; so konnten wir wenigstens eine Umschulung machen. Dafür hatte Ikea sich eingesetzt.

Ich: Was hast du dann gemacht?

Heike: Computerlehrgang. Und wir haben geübt, wie man Bewerbungen schreibt, aber eigentlich war das auch nur eine Beschäftigungsmaßnahme. Irgendwann habe ich einfach mal eine Bewerbung geschrieben für eine Stelle als Werkerin, also am Band, und nach noch nicht mal einer Woche hatte ich ein Vorstellungsgespräch. Ich musste erst probearbeiten, aber ich bin mit der Anlage nicht klar gekommen, da musste man chemisch arbeiten, das ging nicht für mich. Habe ich dann auch der Personalchefin gesagt, die meinte direkt: „Wenn Sie das nicht können, können Sie sofort nach Hause gehen“, aber ich hab mich geweigert, den Betrieb zu verlassen und zu ihr gesagt: „Ich werde nicht gehen. Ich will arbeiten.“ Drei, vier Stunden später kam sie wieder und ich hab einen anderen Arbeitsplatz bekommen, an einer anderen Anlage. Dann ging’s.

Ich: Ursprünglich, als junge Frau, hattest du Verkäuferin gelernt.

Heike: Ja, beim Konsum, so ein Tante-Emma-Laden. Da gab es vier Geschäfte im Ort, und der Mann meiner Mutter war Chef in einem dieser Läden.

Ich: Du konntest nicht selbst entscheiden, welchen Beruf du wählen würdest?

Heike: Als ich jung war, habe ich mich für technisches Zeichnen interessiert. Ich mochte den Geometrieunterricht in Mathe. Aber meine Mutter und ihr Mann, die waren beide Verkäufer. Meine Mutter wollte auch nicht, dass ich aus Gardelegen weggehe. Also habe ich auch eine Ausbildung zur Verkäuferin gemacht. 1982 muss das gewesen sein. Im Konsum war ich ungefähr bis 1990.

Ich: Was war mit der Wende? Hat die eine Rolle gespielt?

Heike: Nach der Wende wurde auf Kurzarbeit umgestellt, und der Laden wurde geschlossen. Ich war zu dem Zeitpunkt schwanger mit meiner Tochter Tina, 28 war ich bei ihrer Geburt. Das passte, weil ich dann erstmal anderthalb Jahre Erziehungsurlaub hatte. Danach musste ich mich neu orientieren, ich bin dann erstmal in einen Bäckerladen und habe als Verkäuferin gearbeitet.

Der Chef legte die Kündigung einfach auf den Tresen. Heike wusste gar nicht, was los war.

Ich: Weil du dir das so ausgesucht hattest?

Heike: Nein. Nachdem Tinas Vater uns verlassen hatte, hatte ich kurz richtig Panik, da musste ich ihn um Geld fragen in den vier Wochen nach dem Ende des Erziehungsurlaubs.

Ich: Wie hast du das gemacht mit deiner Tochter damals? Um die musste sich ja irgendwer kümmern.

Heike: Ich hab immer gearbeitet von morgens sechs bis 15 Uhr. Tina war in der Zeit im Kindergarten. Aber meine Eltern haben mir viel geholfen in der Zeit; wenn Tina krank war zum Beispiel, haben sie sich um sie gekümmert.

Ich: Wie lange warst du in dem Bäckerladen?

Heike: Nach zwei Jahren wurde mir gekündigt. Weil eine Kollegin schlecht über mich geredet hatte. Der Chef legte mir damals die Kündigung wortlos in einem Umschlag auf den Tresen, ich wusste überhaupt nicht, was los war. Das ging dann letztlich über einen Anwalt, die Kollegin hatte mich angeschwärzt; in der Kasse hatte Geld gefehlt. Nach einem Jahr stellte sich dann raus, dass die Kollegin selbst das Geld genommen hatte.

Ich: Boah! Hat der Chef sich wenigstens bei dir entschuldigt?

Heike: Nein. Bei mir hat er sich nicht getraut. Meinem Bruder hat er gesagt, dass ihm die ganze Sache leid tue. Und gefragt, ob ich nicht wieder anfangen wolle. Aber das ging für mich nicht mehr. In Tinas Kindergarten war eine Mutti, die sagte: „Du, Heike, willste nicht im Sonnenstudio arbeiten?“ Da dachte ich erst: „Naja. Ist halt Sonnenstudio. Hm.“ – „Aber ok, ich guck’s mir mal an“, hab ich gesagt, „mit Menschen kann ich ja.“

Ich: Wie gefiel dir das?

Heike: Das war gut! Du kriegst ja viel von den Menschen mit, während die warten. Manche kamen auch nur, um zu erzählen. Mir hat das Spaß gemacht. Vor allem, als ich nach sechs Jahren Sonnenstudio ins Fitnessstudio wechselte, das im ersten Stock obendrüber lag. Das hat mir richtig Spaß gemacht.

Ich: Wieso?

Heike: Erstens konnte ich da selbst für mich was tun, also auch trainieren, und ich mag eben den Kontakt mit anderen Menschen. Ich bin eher eine ruhige Person, ich kann gut zuhören, mir auch viel Leid anhören. Ich glaube, das haben dort viele Kunden geschätzt. Da war zum Beispiel eine ältere Dame, deren Mann gestorben war; oder ich hatte eine Kundin, die krebskrank war. Die hat mir gezeigt, wo ihre Brust abgenommen worden war. Ich hätte gerne weitergemacht. Aber dann fing im Fitnessstudio ein neuer Chef an, und dann ging’s los mit der Bezahlung.

Heike hatte immer Existenzängste, was ihren Job betrifft.

Ich: Was ging los?

Heike: Der neue Chef wollte, dass ich für 2,50 Euro die Stunde arbeite. Anfangs habe ich das noch gemacht, aber dann war klar, ich muss mich umorientieren. Im Fitnesstudio oben hatte ich Frauen aller Altersklassen – unter anderem eine Bekannte, die von einem Job wusste. An die bin ich herangetreten – und eine Woche später hab ich bei Ikea angefangen. Erst habe ich Funier geklebt, später verpackt. Mir war das egal, was ich gemacht habe – Hauptsache, ich hatte ein geregeltes Einkommen.

Ich: Welche Rolle spielt Angst bei deiner Arbeit?

Heike: Eine große. Ich hatte immer Existenzängste. Auch Panik. Gekellnert hab ich zwischendurch auch mal und geputzt, weil ich immer Angst hatte, das Geld könne nicht reichen für Tina und mich.

8 Uhr: Heike steht seit zwei Stunden am Band. In der riesigen Fabrikhalle umgibt sie ein ständiger Geräuschpegel: die Schritte der Mitarbeiter, das Klackern der Handgriffe, das Rauschen der Anlagen. Es ist laut, aber nicht so laut, dass Heike sich mit den Kollegen nicht unterhalten könnte. Diese Woche hat Heike Dienst an der Abpackstation: Sie kontrolliert die Gelenkteile, die ihre Firma produziert, und legt sie gebündelt in eine Kiste. So arbeitet sie den Tagesauftrag ab.

Ich: Deine Tochter Tina ist gelernte Ergotherapeutin. Du hast mir von ihr erzählt. Tina studiert jetzt Psychologie, das war ihr Traum. Findest du das richtig? Oder denkst du dir: „Wieso das jetzt noch? Du hast doch einen Job!“

Heike: Nee, ich finds richtig. In der Hoffnung, dass sie später nicht so schuften muss wie ich, immer 40 Stunden, Schicht rund um die Uhr. Ich habe ja mehr Jahre im Kopf als du und Tina; ich weiß, wie anstrengend der Job noch werden kann. Je älter du wirst, desto schwerer wird es. Das kann ein junger Mensch gar nicht abschätzen.

Ich: Dafür ist ihr Leben schon jetzt ziemlich stressig, genauso wie meins. Der Job fordert viel von mir. Und er fordert natürlich noch mehr, wenn man sein Herz dranhängt. Könntest du dir vorstellen, so zu leben wie deine Tochter, wenn du siehst, wieviel Stress sie hat?

Heike (überlegt lange): Wenn ich jünger wäre … doch, schon. Als ich noch jünger war, habe ich ja auch noch viel mehr gemacht als jetzt. Da hätte ich mir den Stress, den ihr Jungen habt, auch angetan. Aber ich habe Tina auch gesagt: „Halte dir bitte vor Augen: Wenns nicht geht, wenns zu viel wird, dann kannst du es auch lassen. Du hast ja einen Beruf. Bevor du auf der Strecke bleibst, lass es sein!“

Ich: Ich finde das Seinlassen gar nicht so einfach. Der eigene Anspruch steht mir im Weg. Unter meinen Freunden und Kollegen ist auch niemand, der einfach nur irgendeinen Job macht.

Heike: Ich sehe das in Tinas Umfeld: Da werden manche krank durch den Job. Weil sie sich zu viel Stress machen, zu viel Druck, und alles erreichen wollen. Da muss jemand da sein, der dann sagt: „Mach ein bisschen langsam. Du musst dich nicht überfordern und deinen Körper kaputt machen, oder deine Seele.“ Wie schön das Leben sein könnte.

Ständig ballert ihr euch zu, seid so beschäftigt – aber wovor rennen die jungen Leute denn weg, fragt Heike.

Ich: In meinem Leben hat sich jahrelang alles nur um den Job gedreht. Ich habe sehr viel gearbeitet, am Wochenende, spätabends. Meine Beziehung geriet ins Schlingern, auch wegen des Jobs. Was denkst du darüber?

Heike: Also, da bin ich überhaupt nicht für.

Ich: Wieso nicht?

Heike: Weil du dich da verlierst. Du findest das zwar toll, dein Leben so, du bist mit vielen Menschen zusammen, du hast viel Anerkennung durch den Job, du bist so viel in Bewegung – aber wo bist du denn?

Ich: Wie, wo bin ich denn?

Heike: Na wo bist du selbst? Ich kenne das auch von mir: Viele Menschen können die Ruhe zuhause nicht mehr gut aushalten, sie können nicht mit sich sein. Ständig ballert ihr euch voll und seid unterwegs. Aber wovor rennen die jungen Leute denn eigentlich weg? Das ist doch alles zu viel. Die anderen Sachen bleiben liegen, schon ein Arzttermin wird dann zu einer Extra-Anstrengung. Ich sage dann zu Tina: „Ruhig bleiben.“ Ich habe das Gefühl, man macht sich so kaputt.

8.30 Uhr: Heike darf zum ersten Mal 15 Minuten Pause machen. Eigentlich wäre jetzt Zeit für ein erstes Frühstück, aber Heike will lieber in Ruhe eine rauchen. Ihr Pausenbrötchen hat sie vor der Pause heimlich in einer Ecke neben dem Band verdrückt. Sie zieht sich noch einen Automatenkaffee, wieder schwarz, und geht nach draußen, zündet sich eine ihrer Goldfields an. Ihr Rücken schmerzt, so wie meistens, das Stehen ist schuld; eine Stunde hält sie ohne Schmerzen aus, dann geht es los. Die schlimmste Stunde ist die letzte vor Schichtende. Dann kriecht die Zeit.

Ich: Bei dir im Betrieb gibt es drei Schichten, 6 Uhr früh, 14 Uhr nachmittags, 22 Uhr abends. Welche ist die schwierigste?

Heike: Manchmal überlege ich, ob die Frühschicht nicht schlimmer ist als die Nachtschicht. Bei der Frühschicht werde ich mit dem Wecker aus dem Tiefschlaf gerissen. In der Nachtschicht habe ich das nicht. Da habe ich mir die letzten Male angewöhnt, dass ich nach der Arbeit noch eine Stunde wach bleibe, dann bin ich ins Bett und hab mich gezwungen, da zu bleiben.

Ich: Das hört sich sehr anstrengend an. Solche Probleme habe ich nicht; ich gehe abends gegen Mitternacht ins Bett und stehe morgens gegen 7.30 Uhr auf, im Sommer früher.

Heike: Wenn ich normalen Tagesdienst hätte und in der Nacht normal schlafen könnte, wäre es auch einfacher. Der Körper ist schon sehr erschöpft. Deswegen lege ich viel Wert darauf, dass ich immer um die sieben Stunden schlafe. Nach der Frühschicht noch bis 23 Uhr aufbleiben und ’nen Film gucken, das bringt mir nix. Ich zwinge mich dann, pünktlich schlafen zu gehen.

Ich: Wenn du zurückblickst auf dein bisheriges Berufsleben, welches Gefühl stellt sich dann ein?

Heike: Mir fehlt die Arbeit mit den Menschen. Das macht mich schon ein bisschen wehmütig. Bei uns ist es stressig, das können Menschen, die nie an der Anlage gestanden haben, gar nicht nachvollziehen. Die Jungen bei uns, die wollen Teile schrubben. Wo wir Älteren sagen: „Komm, halt mal den Ball flach, das Band läuft nicht schneller“, da machen die ganz viel Stress. Das ist das Schlimmste für mich: Wenn jemand so unruhig ist, ständig rumrennt, dazwischenfunkt. Dazu muss man immer funktionieren, egal, wie es einem geht. Dabei hat man bessere und schlechtere Tage.

Ich: Stressig ist mein Job auch, aber er macht mir auch sehr viel Spaß.

Heike: Ja, das habe ich auch gedacht, als ich den Job in dem Frauenfitnessstudio hatte. Da habe ich viel zurückgekriegt und habe mich sehr wohl gefühlt.

Ich. Tut dir das weh, dass das jetzt anders ist in deinem Job?

Heike: Mir fehlt das einfach.

Man darf sich nicht selbst vergessen. Guck doch mal links und rechts, sagt Heike.

14 Uhr: Schichtende. Heike scannt sich an der Anlage aus, geht zurück zu ihrem Spind, verstaut ihre Arbeitshandschuhe. Dann verlässt sie, so schnell sie kann, die Firma. Ihre zwei Kolleginnen rauchen fix auf dem Weg zum Auto. Heike sitzt schon drin. Sie will los und zwar flott. Zuhause angekommen, geht sie direkt ins Schlafzimmer, zieht ihre Arbeitskleidung aus und stellt sich unter die Dusche. Nie würde sie in den Berufsklamotten einkaufen gehen oder in diesem Aufzug Freunde besuchen. Nachdem sie sich geduscht und umgezogen hat, geht sie ins Wohnzimmer, stellt den Fernseher an, zappt sich durch die Programme.

Ich: Viele Menschen meiner Generation ziehen sehr viel Selbstwert aus der Arbeit, sie definieren sich über den Job. Für die, und für mich, ist es wichtig, dass man Leistung bringt. Wie ist das in deinem Job?

Heike: Früher war mir die Leistung mehr wert. Ich bringe das, was ich bringen muss, und ich denke, ich arbeite gut. Aber das hat keinen großen Wert mehr für mich. Man darf sich nicht selbst vergessen. Guck doch mal links und rechts, denke ich. Du hast keinen Partner, oder?

Ich: Nein, gerade nicht.

Heike: Ich hab ja auch keinen, aber ich glaube, jemanden zu finden, ist heute schwieriger als früher. Das hat mit dem Zu-viel-Wollen zu tun. Ihr rennt durch euer Leben, die Jahre vergehen immer schneller. Ihr seid so voll mit Sachen, so beschäftigt, aber du bist jetzt in dem Alter, wo du gucken musst: Wo führt mein Weg mich hin?

Ich: Ja, das stimmt: Die Zeit geht verdammt schnell rum.

15.30 Uhr: Heike steht in ihrer Küche, durch die offene Tür dringen die Fernsehstimmen zu ihr hinüber. Ohne kann sie schlecht, der Fernseher läuft eigentlich immer. Heike kocht sich ein Mittagessen, sie hat jetzt richtig Hunger. Bis auf ihr Pausenbrötchen am Morgen hat sie noch nichts gegessen. Heute gibt es Bratkartoffeln. Zu Abend essen wird sie nicht; mit vollem Bauch schläft es sich nicht gut.

Wie ist es jetzt besser, fragt Heike. So wie bei mir, oder wie bei dir?

Ich: Was denkst du eigentlich in den Stunden, wenn du am Band stehst?

Heike: An meinen Haushalt, was ich noch einkaufen muss, an Tina.

Ich: Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich diese Monotonie aushalten könnte, schon gar nicht über so einen langen Zeitraum. Mich würde das wahnsinnig machen, glaube ich. Hast du bestimmte Techniken im Kopf, um diese Langeweile zu überbrücken?

Heike: Du musst dir halt Abwechslung suchen. Ich helfe dann mal dem Kollegen oder jenem, so dass ich in Bewegung bin und von meinem Platz wegkomme ab und zu. So ein beklemmendes Gefühl durch die Monotonie hatte ich nie, nein. Ich versuche immer, mir das Positive rauszuziehen.

Ich: Also überwiegt am Ende die Dankbarkeit für den Job?

Heike: Ja. Ich bin froh, dass ich ihn jetzt habe, dass ich auch genug verdiene, um mir leisten zu können, was ich brauche. In meiner Freizeit versuche ich, mein Leben zu leben, und auf Arbeit versuche ich, meinen Job gut zu machen.

19 Uhr: Heike sitzt auf dem Sofa, vor ihr läuft der Fernseher. Sie kämpft jetzt gegen die Müdigkeit. Ihre letzte Zigarette für heute hat sie schon geraucht, bald wird sie zu Bett gehen. Meistens hat sie Probleme beim Einschlafen, wälzt sich hin und her. Wenn es ganz schlimm ist, zählt sie von der Zahl 27 hinunter zur Null. Das hilft. Bis zur Eins schafft sie es nie.

Ich: Gab es eine Zeit in den zehn Jahren Fließbandarbeit, in denen dich das sehr belastet hat? War da mal der Gedanke: „Und das soll jetzt der Sinn des Lebens sein?“

Heike: Doch, der war schon da. Irgendwann in den ersten sechs Jahren habe ich mal gedacht: „Willst du das jetzt wirklich machen, ein Leben lang? Was hast du für Möglichkeiten? Wo könntest du dich bewerben?“ Aber ich war so müde. Ich hatte einfach nicht die Energie, um nochmal woanders zu gucken.

Ich: Und jetzt?

Heike: Ich habe mich damit arrangiert. Es ist ein Job, mit dem ich Geld verdiene, und nicht mehr. Aber das ist ok im Moment für mich. Die Arbeit ist es doch nicht wert, dass ich mich kaputt mache. Wenigstens habe ich wirklich Feierabend nach Schichtende. Ich gehe nach Hause und bin fertig. Das ist bei dir ja anders. Du nimmst deine Arbeit überallhin mit, du machst dich quasi abhängig von ihr. Also, was ist jetzt besser (sie lacht) – so wie in deinem Job oder so wie bei mir?


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.