Wer zu Jens Hausner möchte, muss durch Nebelschwaden. Doch der Dampf besteht nicht nur aus Wasser, sondern auch aus Abgasen, Kohlendioxid und Feinstaub. Diese Mischung quillt aus den zwei Kühltürmen des Kraftwerks Lippendorf, wo aus Braunkohle Strom gewonnen wird. Die Braunkohle versorgt Leipzig mit Strom und Fernwärme. Und sie bedroht die Heimat von Jens Hausner.
Hausner lebt in Pödelwitz, knapp 20 Kilometer südlich von Leipzig. Würde er den Boden seines Kellers aufstemmen und ein paar Meter graben, fände er in der Erde bräunlich-schwarze Brocken auf seiner Schaufel: Braunkohle. Denn Pödelwitz liegt im mitteldeutschen Braunkohlerevier und soll deswegen weggebaggert werden. So stand es jahrelang fest, so haben es viele Bewohner:innen von Pödelwitz akzeptiert und so könnte es auch enden. Wenn nicht plötzlich die Braunkohle unter Hausners Keller einen schlechten Ruf bekommen hätte.
Und wenn die Neuen nicht nach Pödelwitz gezogen wären.
Pödelwitz, das sind 130 Einwohner. CDU-Land. Wer hier wohnt, fährt Auto und findet Naturschutz okay, aber nur solange keine Arbeitsplätze verloren gehen.
Doch seit einem Jahr hat Pödelwitz ein paar Dutzend neue Nachbarn: Aktivist:innen, die aus Nordrhein-Westfalen nach Sachsen gekommen sind, um nach dem Hambacher Forst jetzt auch das Dorf Pödelwitz zu besetzen. Sie lehnen Autos ab, leben von Essensspenden und besitzen Bücher über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat.
In diesem Dorf könnte man vermutlich einen Riesenstreit anzetteln über die Frage, wie der G20-Gipfel in Hamburg abgelaufen ist.
2019, als die Neuen kamen, waren einige in Pödelwitz skeptisch. Wer würde da ins Dorf ziehen? Jens Hausner erzählt: „Es war am Anfang nicht immer leicht. Immerhin leben die Aktivisten ein Leben, das mit unserem kaum zusammenpasst.“ Und Klara, eine Klimaaktivistin, die eigentlich anders heißt, sagt: „Wir leben hier schon sehr anders.“ Ihre kurzen blauen Haare, das zu große bunte Sakko und die dreckigen Fingernägel würde so wohl keiner der Pödelwitzer:innen tragen. Ihr Urteil: „Ich seh doch heute sehr offiziell aus, oder?“
Ich wollte mir ansehen, was passiert, wenn Aktivisten auf Dorfbewohner treffen. Nicht nur für ein paar Tage, sondern für Jahre. Wie kam es dazu, dass sie gemeinsam gegen das Verschwinden von Pödelwitz kämpfen? Wie passen die neuen zu den alten Bewohner:innen? Wie wurde Pödelwitz, dessen Zerstörung nur einer von hunderten normalen Vorgängen im Braunkohleabbau wäre, zum Schauplatz dieser unwahrscheinlichen Allianz?
In Pödelwitz formiert sich ein unwirkliches Bündnis
Pödelwitz, das sind Einfamilienhäuser, Höfe, dazwischen Wiesen und Bäume. Wie ein Park, in den jemand Häuser gebaut hat, weil es so schön war. Doch viele der Häuser stehen leer. In den Fenstern hängen noch die Gardinen, nur die eingefallenen Dächer erinnern an die Weggezogenen. In Pödelwitz wohnen noch 30 Menschen – vor gut zehn Jahren waren es noch 130.
Mitten im Dorf, im Schatten der Kirche, wohnen die Zugezogenen. Es ist ein Camp aus Bauwagen, einem Wohnwagen, einer zusammengezimmerten Hütte und einer selbstgebauten Jurte, gedämmt mit Schafwolle. Seit Anfang 2019 campen die Aktivist:innen dort.
Von zwei Seiten drängt sich die Abbruchkante des Tagebaus Vereinigtes Schleenhain an Pödelwitz heran, bis auf 500 Meter. Ein Zaun schützt das Gelände. Den Zaun hat die MIBRAG dort aufstellen lassen, die Mitteldeutsche Braunkohle AG.
Pödelwitz hat immer mit der MIBRAG und dem Tagebau vor der eigenen Haustür gelebt, immerhin wurde hier schon zu DDR-Zeiten Braunkohle abgebaut. Die Pläne der MIBRAG sahen vor, das bis 2040 weiter zu tun. Das wäre ein lösbares Problem für Pödelwitz gewesen: Der Konzern hätte nur auf Staub- und Lärmschutz achten müssen und irgendwann, wenn die Braunkohle weg wäre, hätte Pödelwitz vielleicht einen großen See bekommen. Pödelwitz sollte nie devastiert werden, wie es in der Bergbausprache heißt: Weggebaggert.
Die MIBRAG spaltet Pödelwitz mit einem Angebot
Doch 2009 finden die Einwohner:innen einen Umschlag in ihren Briefkästen.
Die MIBRAG lädt alle zu einer Einwohnerversammlung ein. Männer in Anzügen stehen vor den Dorfbewohner:innen und erklären sich. Was als einfache Informationsveranstaltung – kein Druck, keine Versprechen – über den Tagebau beginnt, kippt irgendwann. Es sei nicht mehr so leicht, den gesetzlich vorgeschriebenen Schutz vor Staub und Lärm zu gewährleisten. Und möglicherweise sogar unmöglich.
Vielleicht spüren einige Pödelwitzer:innen, dass etwas nicht stimmt, denn sie fragen nach, was denn mit ihren Häusern und Grundstücken passieren wird. Plötzlich taucht das Wort „Wertverlust“ auf.
Und dann sagen die Männer in Anzügen: Eine Umsiedlung des Dorfes wäre eine Möglichkeit. Sie bieten denen, die wegziehen, viel Geld und einen unkomplizierten Umzug.
Jens Hausner sagt: „Hier wurde der Grundstein für die geplante Zerstörung von Pödelwitz gelegt.“ Die Dorfbewohner:innen bilden eine Kontaktgruppe, die mit der MIBRAG verhandeln sollte. Hausner, der Landwirt, ist von Anfang an gegen Verhandlungen. Er liest sich in Gesetze ein, Verordnungen, Genehmigungsverfahren. Er sagt zu den Pödelwitzer:innen: Die MIBRAG hat keine Chance, Pödelwitz wegzubaggern.
Hausner ist ein großer Mann, dessen blonde Haare so aussehen, als seien sie sehr oft draußen in der Sonne gewesen. Heute ist sein Hof kein Bauernhof mehr, sondern ein 300 Jahre altes Kulturdenkmal, das er pflegt. Hausner ist kein eitler Mensch, aber sagt Dinge wie: „Wer sich mit Braunkohle in Sachsen beschäftigt, wird um mich nicht herumkommen.“ Sein inzwischen zehn Jahre andauernder Kampf gegen die Braunkohle hat ihn selbstsicher werden lassen.
Bald kommt es in der Kontaktgruppe zu Streit. Sie diskutieren über das Geld, das die MIBRAG angeboten hat. Die einen sagen: „Wir verkaufen, das ist gutes Geld.“ Die anderen sagen: „Wir bleiben!“ Die Gruppe trennt sich und die Wut hält Einzug in Pödelwitz. Geld spaltet die Gemeinschaft. „Irgendwann haben die, die verkaufen wollen, mich nicht mehr zu ihren Besprechungen gelassen“, erzählt Hausner. Beim Spaziergang durchs Dorf hört er jetzt die Leute hinter ihm hämisch lachen: „Die MIBRAG wird uns alle retten.“
Am Ende verkaufen die meisten. Sie bekommen mindestens 70.000 Euro zusätzlich zum Grundstückswert. 100 Personen ziehen weg. Pödelwitz, das sind jetzt noch 30 Leute: eine Familie mit Kindern, ein paar Handwerker, ein Schlosser, der früher mal für die MIBRAG arbeitete. Und Jens Hausner.
Wenn man Jens Hausner fragt, warum er sich für Pödelwitz einsetzt, kommt er ins Schwärmen. Die schöne Natur, die 700 Jahre alte Kirche, all das dürfe doch nicht einfach verschwinden, sagt er. Nach der Wende sei das Dorf gewachsen, man habe positiv in die Zukunft geschaut.
Aber Hausner geht es auch ein bisschen darum, sein Recht zu bekommen. Oft spricht er von Gesetzen, von Genehmigungsverfahren. Etwas, an das er sich die letzten Jahre klammerte, bevor die Aktivist:innen kamen und ihm neue Hoffnung gaben.
Ob Pödelwitz gerettet wird oder weggebaggert, ist unklar. Es gibt einiges, das juristisch für die Rettung spricht. Und die neue schwarz-rot-grüne Landesregierung möchte den Ort Pödelwitz erhalten. Aber die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass zum Schluss die Braunkohleunternehmen mit dem Gemeinwohl argumentieren. Und Gerichte die Anwohner:innen enteignen.
Als der Klimawandel Thema wird, bekommt Hausner seine Chance
Nachdem das Dorf gespalten ist und viele Familien schon weggezogen sind, kämpft Hausner fast alleine gegen die Pläne der MIBRAG, die sich längst von fehlendem Emissonsschutz hin zu Kohleabbau unter dem Dorf gewandelt haben. Hausner nennt die Bürgerinitiative Pro Pödelwitz. Gemeinsam mit zwei Mitstreitern legt er los. „Wir haben den Leuten gesagt, ihr könnt euch zurücklehnen, wir machen das hier schon.“
Und Hausner macht: Über 90 Zeitungen beschreibt er die Situation von Pödelwitz, geht zu Parteien und NGOs. Einfach mal schauen, wer sie unterstützen könnte. „Die CDU wollte natürlich nicht, die sind ja schuld an dem Ganzen.“ Schließlich sind es Naturschutzverbände und die Grünen, die für Hausner einstehen wollen.
Hausner wird bekannt. Es gibt einen Auftritt von ihm in der MDR-Sendung „Unter uns – Geschichten aus dem Leben“, in der er mehrfach gefragt wird, was denn an Pödelwitz jetzt so schön sei, dass er nicht einfach das Geld nehmen würde. Anstatt auf die Fragen einzugehen, hängt er sich an das, was ihm bisher geholfen hat. Zahlen, Verordnungen, Gesetze. Er spult sie ab. Hausner erzählt heute, er habe sich verarscht gefühlt. Benutzt.
Während 2018 in Sachsen Menschen gegen Geflüchtete demonstrieren, Hausner um Pödelwitz kämpft und Deutschland einen Rekordsommer erlebt, demonstriert jeden Freitag eine junge Frau vor dem Schwedischen Reichstag für das Klima – und wird vielleicht unfreiwillig Hausners beste Unterstützerin. Jetzt geht alles sehr schnell.
Plötzlich ist da eine Idee: ein Klimacamp in Pödelwitz. 15 Tage lang sollen junge Aktivist:innen den Kampf gegen die Kohle in Sachsen bekannt machen. Die Aktivisten laden in ganz Deutschland Leute ein, die MIBRAG und die Polizei machen genauso mobil. Am Anfang haben die Pödelwitzer:innen Angst. „Wir dachten, da kommt der totale Ausnahmezustand“, sagt Hausner. Er kennt die Schlagzeilen von vielen „Ende-Gelände“-Veranstaltungen mit zigfachen Verhaftungen, Verfolgungsjagden zwischen Polizei und Demonstrant:innen.
Im Sommer 2018 ist es soweit: 1.000 Klimaaktivist:innen kommen nach Pödelwitz. Jedes Fleckchen Privatgelände ist voller Zelte, selbst die Gemeinde erlaubt das Campen auf den Grünflächen und das Bürgerhaus wird die Zentrale. 15 Tage hängt ein Hubschrauber über Pödelwitz, das Flappern der Rotoren geht morgens um fünf los, hunderte Polizist:innen und eine Reiterstaffel bewachen das Camp.
In dieser Zeit fängt Jens Hausner an, sich Umweltschützer zu nennen. Er spricht auf Konferenzen, sendet Videobotschaften zu Protesten und vernetzt sich mit der wachsenden Klimaschützerszene.
Die Kirche von Pödelwitz wird zum Refugium der Aktivist:innen
Aus der Szene erreicht Hausner dann auch Anfang 2019 ein Anruf aus dem Hambacher Forst. Aktivist:innen von dort wollen nach Pödelwitz und helfen. Diesmal soll es kein kurzzeitiger Protest werden. Ihr Erfolg nach der langen Besetzung des Hambacher Forsts hat ihnen gezeigt, dass Durchhaltevermögen helfen kann.
Wieder sagt Hausner zu. Und aus den ehemaligen Baumbesetzern werden Dorfbesetzer. Das funktioniert nicht sofort so gut. Die freie Lebensweise der Aktivist:innen stößt in der ersten Station, dem alten Bahnhofsgelände auf Unverständnis. Klara, die Aktivistin, sagt: „Das hat aber nicht gut funktioniert. Der Vermieter, der direkt gegenüber wohnt, wollte uns viel vorschreiben und hat verlangt, dass wir für ihn arbeiten.“
Hausner kümmert sich um eine Alternative für die Aktivisten. Fündig wird er im Garten der alten Kirche. Dank eines Pachtvertrages campen von Anfang 2019 an Menschen dort. „Zwischen null und siebzig Menschen leben hier“, zählt Klara zusammen. Gerade sind es sechs und ein Kleinkind. Hier ist alles selbst zusammengebaut oder gespendet. Das Wasser kommt vom Friedhof der Kirche. Es sieht ein bisschen so aus wie in Endzeitfilmen, aber die Bewohner:innen sind ja auch nicht zum Urlaub hier.
Nach dem Aufstehen gibt es eine Morgenbesprechung. In der Jurte sitzen um den flachen Tisch alle im Kreis, die gerade im Camp leben. Eigentlich soll es um die Planungen des Tages gehen, wer die Komposttoilette leert oder wer Unkraut jätet. Der Plan für den Tag steht dann auf einer Tafel: Alle haben ihre Aufgaben. Gekocht wird für alle, vegan ist Minimalkonsens.
Klara findet, dass hier im Dorf eine gute Gemeinschaft ist und die Neuen gut aufgenommen werden. „Manchmal habe ich zwar das Gefühl, dass wir mehr nehmen, als wir geben, aber vielleicht liegt das auch daran, dass die Menschen hier nicht wissen, was wir helfen können.“
Klara zieht einen Bollerwagen, dessen Räder fast abfallen, zu Hausners Hof. Dort dürfen sie Dinge, die sie gerade nicht brauchen, lagern. Am Anfang gab es eine große Aufräumaktion, bei dem viel weggeschmissen worden ist. Hausner hat die Aktivist:innen mit seinem Wagen zur Deponie gefahren. Wäre es nach ihm gegangen, wäre auch noch mehr im Müll gelandet.
Nur, dass sie das Wasser vom Friedhof bekämen, fänden wohl einige Menschen merkwürdig. Hausner freut sich jedenfalls über die neuen Mitbewohner:innen, auch wenn er beim Besuch des Lagers wirkt, wie ein Vater, der in die Zimmer seiner Teenager-Kinder schaut. Er schaut so wenig wie möglich in die Ecken, er weiß, dass es eben etwas schmutziger ist. Irgendwann wird das mit der Sauberkeit schon besser.
Es sei besser als früher, sagt Hausner: „Alles ist familiärer. Jetzt haben alle ein gemeinsames Ziel.“ Pödelwitz retten und den Braunkohleabbau beenden. Ohne die Weggezogenen hätten sie inzwischen mehr Veranstaltungen, die sich mit der Braunkohle vor der Tür beschäftigen. Mindestens einmal im Monat fänden Konzerte, Lesungen, Performances statt. „So ein Kulturprogramm hätte andere Städte echt gefreut.“ Hausner weiß, dass er Menschen in sein Dorf geholt hat, die ihre Radikalität nicht nur in Streitgesprächen ausleben: „Die legen sich auch für uns vor die Bagger!“
Wird Pödelwitz zur Utopie?
Und für danach – wenn das Klima und Pödelwitz gerettet sind? Hausner bleibt ja sowieso, aber die Neubürger:innen? Manche können sich vorstellen hierzubleiben. Platz gibt es genug und das Dörfesterben ist nicht nur in Sachsen ein Problem.
Es gibt auch schon sehr konkrete Vorstellungen. Selbstorganisiertes, autarkes Leben soll in Pödelwitz möglich sein. Von einem Zentrum für Kinder mit Autismus ist die Rede. Nichts weniger als eine Utopie möchten die Neuen in Pödelwitz aufbauen. Und die alten Pödelwitzer:innen? Die können mitmachen, auch wenn es dann etwas schmutziger im Dorf wird.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel; Audioversion: Christian Melchert