„Für Neoliberale ist Demokratie in Ordnung – solange sie nicht bestimmte Grenzen überschreitet“

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Geld und Wirtschaft

Interview: „Für Neoliberale ist Demokratie in Ordnung – solange sie nicht bestimmte Grenzen überschreitet“

„Neoliberal“ – ein Wort, das Karriere macht. Was wirklich dahinter steckt, habe ich mit dem kanadischen Historiker Quinn Slobodian besprochen.

Profilbild von Interview von Rico Grimm

Unsere Gesellschaften haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten radikal verändert. Alles wird bepreist, verkauft, vermarktet: Ideen, Daten, Arbeit sowieso. Vom nicht mehr ganz so ewigen Eis der Arktis bis zu den dichten Wäldern Amazoniens, von Teersandvorkommen tausende Meter unter Tage bis zur Grenze zwischen Himmel und Weltall – Märkte erobern die letzten Ecken der Erde, was der Allgemeinheit gehörte, wurde privatisiert. Wer ablehnt, was da passierte, bemüht oft ein Wort: Neoliberalismus. Es ist keine bloße Beschreibung, sondern ein Schimpfwort. Wer es benutzt, verortet sich links der Mitte.

Deswegen gibt es viele, die dieses Wort gar nicht erst benutzen: Wenn die SPD neoliberal ist, und die Grünen es sind, genauso wie das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 und die Rettungspakete für Griechenland, ja, wenn der Theatermacher René Pollesch sogar einmal dazu aufrief, die „neoliberalen Biografien“ zu schänden, ist es ein nutzloses Wort geworden, sagen die Kritiker, ein „deformierter Streitbegriff“ (Christian Lindner), analytisch tot.

Das sieht Quinn Slobodian anders. Der kanadische Historiker „hat die bislang überzeugendste ideengeschichtliche Studie des Neoliberalismus vorgelegt“, wie das Fachmagazin H/Soz/Kult schreibt. Einem Urteil, dem ich nach der Lektüre seines ausgesprochen sachlichen Buches „Globalisten“ (Suhrkamp Verlag) zustimmen musste. Slobodian hat die Originaltexte der neoliberalen Vordenker gelesen und kommt zu einer radikal anderen Beschreibung der neoliberalen Welt, als heute gemeinhin üblich ist. Es geht nicht darum, die Märkte zu entfesseln und den Kapitalismus zu befreien, sondern die Demokratie soweit es geht von der Wirtschaft fern zu halten. Neoliberalismus ist also nicht zuerst eine Theorie über die Wirtschaft, sondern darüber, wie Staaten aufgebaut sein müssen.

Ich habe Slobodian zum Gespräch in Berlin getroffen. Er hat mir erzählt, warum die neoliberalen Vordenker aus dem frühen 20. Jahrhundert gerne an Anti-Terror-Gesetzen mitgeschrieben haben, wieso deutsche Neoliberale heute Thilo Sarrazin feiern – und was der Neoliberalismus richtig macht.

Ich habe das Gespräch übersetzt, gekürzt und Passagen umgestellt, damit es verständlicher wird. KR-Mitglieder können sich die komplette Tonaufnahme (auf Englisch) anhören. Außerdem findet ihr im Interview immer wieder fett gesetzte Begriffe, die ich in den Anmerkungen erkläre. Manchmal nämlich nutzt Slobodian Fachbegriffe, so wie alle Wissenschaftler:innen. Es ist aber wichtig, dass möglichst viele Menschen verstehen, was Neoliberalismus wirklich ist. Denn es geht wortwörtlich um die ganze Welt.


Herr Slobodian, der überraschendste Teil Ihres Buches: Sie können tatsächlich den genauen Geburtsort des Neoliberalismus ausmachen: Stubenring 1-10, Wien, Sitz der österreichischen Handelskammer, wo wichtige Neoliberale wie Friedrich August von Hayek und Ludwig Mises ihre Karriere begannen. Was ist da passiert?

Wenn diese Männer aus dem Fenster geschaut haben, sahen sie auf der anderen Straßenseite das ehemalige Kriegsministerium von Österreich-Ungarn, einem kaiserlichen Vielvölkerstaat, der nach dem Ersten Weltkrieg in viele kleinere Staaten zerfallen war. Neben ihnen befand sich die Bank von Österreich. Sie hatten die Vorstellung, dass die Rolle des Neoliberalismus darin besteht, quasi eine dritte Säule zwischen diesen beiden Einrichtungen zu bilden, zwischen dem privaten Markt und der öffentlichen Ordnung. Ihre Frage war: Wie kann man Gesetze und Organisationen gestalten, die das, was sie als liberalen Kapitalismus betrachteten, stabilisieren können?

Die Menschen, die in der Handelskammer arbeiteten, wurden im alten Kaiserreich zu Beamten ausgebildet. Sie sollten eine Art Leibgarde für diesen Staat sein. Und dann, nach dem Ersten Weltkrieg, war dieser Staat plötzlich verschwunden, und Österreich war ein „verstümmelter Torso“, wie es damals hieß. Dieses Ende führte dazu, dass sie sich immer große Sorgen machten, dass Chaos vor der Tür stand.

Und Chaos stand tatsächlich vor der Tür.

Es gab eine sehr blutige Episode: Es hatte im Jahr 1927 einen Freispruch für einige rechtsgerichtete Milizen gegeben, die sozialistische Demonstranten getötet hatten. Die Menschen waren wütend und kamen in großer Zahl auf die Straße, begannen, den Justizpalast in der Wiener Innenstadt niederzubrennen, und verhinderten, dass die Feuerwehrleute den Brand löschten. Sie gingen in den Generalstreik. Die Regierung gab der Polizei dann den Schießbefehl. 89 Menschen starben. Tausende wurden verwundet.

Ludwig von Mises, eine Schlüsselfigur des Neoliberalismus, ist zu diesem Zeitpunkt in Wien, und seine Reaktion auf dieses Blutbad war mehr oder weniger positiv. Er sagte sinngemäß: Den Menschen kann man nur ein Stück weit vertrauen, und in dem Moment, in dem ihre Forderungen das reibungslose Funktionieren des Marktes stören, müssen sie mit allen notwendigen Mitteln unterdrückt werden. Mises half bei der Entwicklung eines Anti-Terror-Gesetzes, das dann in den 1930er Jahren gegen die streikenden Arbeiter eingesetzt wurde.

Neoliberalen wird oft vorgeworfen, utopische, unrealistische Menschen zu sein, die denken, dass der Markt für sich selbst sorgen kann. Es ist eigentlich das Gegenteil der Fall. Sie sind ständig besorgt, dass der Markt zusammenbricht und dass er von kollektivistischen Kräften überrollt wird.

Was sind die „kollektivistischen Kräfte“?

Entweder Sozialisten oder Faschisten, die beide nicht glauben, dass eine Weltwirtschaft notwendig ist, die glauben, dass sie die Produktionsmittel übernehmen und durch Umverteilung soziale Gleichheit schaffen können. Die Neoliberalen haben das Gefühl, dass das eine ständig vorhandene Bedrohung sei. Man darf ihnen zufolge also nicht nur auf den Markt setzen, sondern muss die ganze Zeit damit zubringen, Institutionen zu gestalten, die den Markt verteidigen.

Die Menschen, die damals in Wien auf die Straßen gingen, waren das, was wir heute als „Arbeiterbewegung“ bezeichnen. Ist die Arbeiterbewegung ein ideologischer Feind des Neoliberalismus?

Ja, absolut. Der Neoliberalismus, wie alle anderen Ideologien, entstand nicht in einem Vakuum, sondern in Konkurrenz und Konflikt mit anderen Ideologien.

Und sind Neoliberale deswegen auch per se antidemokratisch?

Für sie ist die Demokratie ein sehr wirksames Verfahren für friedlichen Wandel. Die Menschen haben bisher noch keinen anderen Weg gefunden, die Regierungen so friedlich zu wechseln wie durch die Demokratie. Sie muss aber in den Augen der Neoliberalen nur insofern respektiert werden, als der größere Grundsatz der wirtschaftlichen Freiheit respektiert wird.
Friedrich August von Hayek, einer der anderen Österreicher, die den Neoliberalismus prägten, sagte einmal, dass er lieber eine autoritäre Regierung mit wirtschaftlich liberaler Politik hätte als eine demokratisch gewählte Regierung mit wirtschaftlich illiberaler Politik. Und das Pinochet-Beispiel wird in diesem Zusammenhang häufig angeführt.

Pinochet, der chilenische Diktator, der sich von den USA gestützt an die Macht putschte und Zehntausende Menschen foltern ließ.

Und den Hayek verteidigte.

Das ist nur ein Beispiel. Wenn es stimmen würde, dass Neoliberale die Demokratie nur als Mittel zum Zweck betrachten, muss es noch mehr Beispiele geben.

Die Welthandelsorganisation (WTO) macht das die ganze Zeit, oder? Immer, wenn sie feststellen, dass Gesetze, die von den nationalen Regierungen verabschiedet wurden, gegen die WTO-Regeln verstoßen. Die nationalen Gesetze müssen dann zurückgenommen werden, oder die Staaten müssen Schadenersatz leisten. Die Demokratie wird im Namen eines neoliberalen Prinzips zurückgedrängt.

Aber ein weiteres Beispiel, auf das ich hinweisen möchte, ist Hongkong. Denn in Hongkong gilt nicht das Prinzip: Ein Mensch, eine Stimme. Trotzdem betrachten die Neoliberalen, über die ich schreibe, es als den Modellstaat. Ihren Indizes zufolge ist Hongkong die freieste Wirtschaft der Welt. Dabei gilt in Hongkong nicht das Prinzip, dass jeder Bürger auch wählen darf.

In gewisser Weise ist die Europäische Union ein Experiment in diesem Sinne: Die Menschen fühlen sich der Europäischen Union als politischer Einheit nicht stark verbunden, aber sie nutzen die wirtschaftlichen Vorteile der Europäischen Union jeden Tag. Gemüse aus Italien kaufen und das Recht, nach Spanien zu gehen und dort zu arbeiten oder Sozialhilfe zu erhalten.

Ihre Definition von Neoliberalismus steht im Widerspruch zu dem, was viele Menschen heutzutage für Neoliberalismus halten: die unkontrollierte Herrschaft des Marktes, eine Gesellschaft, die die Wirtschaft über die Menschen stellt, Gewinne über die Würde.

Ich denke, dass es im Grunde drei Arten gibt, wie das Wort Neoliberalismus von Menschen, Aktivisten und Akademikern verwendet wird. Die erste ist eigentlich eine Art Zeitkategorie. Seit etwa den 1970er Jahren leben wir in der „Ära des Neoliberalismus“.

Die zweite betrachtet Neoliberalismus als eine Möglichkeit, in der Welt zu sein und die Welt zu sehen: Wir sind nur ein Bündel von „Humankapital“, das wir maximieren und nutzen müssen. Wir sind eine „Marke“ und streben ständig nach marktbasiertem Erfolg.

Beide sind ziemlich stichhaltig. Aber die zweite ist eigentlich Kapitalismus. Marx und Engels sagten schon Mitte des 19. Jahrhunderts, dass der Kapitalismus den Schleier von der Familie gerissen habe und sich Mann und Frau nur noch als Objekte auf dem Markt sehen würden. Sie sprechen über genau diese Erfahrung von heute, darüber, in einer Gesellschaft zu leben, in der wir uns vor allem durch Geld miteinander verbinden.

Was ist die dritte Variante?

Ich benutze das Wort Neoliberalismus, um etwas viel Bescheideneres zu beschreiben: eine spezifische intellektuelle Bewegung, die in den 1930er Jahren von Menschen ausging, die sich selbst als Neoliberale bezeichneten, zumindest für einige Jahrzehnte. Ihr Anliegen war zweifellos der Kapitalismus und sein Überleben. Aber die Frage war: Welche Bedingungen sind notwendig, damit der Kapitalismus überleben kann? Und der Markt wird nicht als selbstregulierende oder sich automatisch korrigierende Einheit angesehen.

Also die Linken haben Angst vor dem Kapitalismus und die Neoliberalen Angst um den Kapitalismus. Welche Bedingungen sind denn deren Meinung nach notwendig, damit er überlebt?

In der Genfer Schule des Neoliberalismus, auf die ich mich konzentriere, muss es Hüter der Wirtschaftsordnung geben. Diese Wächter könnten Zentralbanken sein, die Richter der WTO, könnten Verfassungsgerichte sein. Es könnten Politiker sein, die ihre Pflicht darin sehen, die wirtschaftliche Freiheit zu schützen, anstatt einfach nur auf die Forderungen der Menschen einzugehen. Es ist eine Möglichkeit zu sagen, ja, Demokratie ist in Ordnung, solange sie nicht bestimmte Grenzen überschreitet.

In diesem Sinne ist die Art und Weise, wie die Eurokrise von den Deutschen und insbesondere von Wolfgang Schäuble gehandhabt wurde, meiner Meinung nach ein gutes Beispiel für diese Version des Neoliberalismus.

Es war keine Situation, in der nur Unternehmen agierten. Es gab viel mehr Politiker, die glaubten, im Namen einer übergeordneten Wirtschaftsordnung zu handeln, aber Maßnahmen ergriffen, die eigentlich wirtschaftlich unvernünftig waren.

Es gibt diese wunderbare Episode im Buch des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis, wo er zum Treffen mit Schäuble und anderen Mitgliedern der Troika aus EU-Kommission, Weltwährungsfonds und Europäischer Zentralbank geht. Varoufakis sagt ihnen, dass die Politik, die sie in Griechenland betreiben, das Land zerstören wird. Die Statistiken zeigen, dass es nicht klappen wird. Griechenland wird nicht in der Lage sein, seine Schulden zurückzuzahlen. Und die Mitglieder der Troika sahen ihn daraufhin völlig regungslos an.

Varoufakis erkennt in diesem Moment, dass der Neoliberalismus keine Wirtschaftsdisziplin ist. Er ist keine Theorie, die auf wirtschaftlichen Fakten beruht, sondern auf Prinzipien.

Sie haben die ursprüngliche Definition des Neoliberalismus erforscht. Sie ist weitgehend vergessen. Wieso spielt es jetzt noch eine Rolle, diese Definition besser zu verstehen?

Mein Ansatz ermöglicht es uns, den Neoliberalismus als eine spezifische Ideologie zu verstehen, so wie man den Sozialismus oder Anarchismus oder Konservatismus verstehen würde. Es gibt Schlüsseltexte, wichtige Denker. Und ja, sie konnten Politik beeinflussen, aber sie sind nicht allmächtig.

Diese engere Definition des Neoliberalismus holt ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Es ist eben nicht dieser freischwebende Geist, der uns alle verschlungen hat. Das zu glauben, entmachtet. Wer eine moderatere Definition von Neoliberalismus wählt, sieht deutlicher, wie der Neoliberalismus umgesetzt wird und auch, wo seine Schwächen liegen.

Was ist die eine Hauptsache, die die Leute aus Ihrem Buch mitnehmen können?

Im Englischen beschreiben viele den Kapitalismus der letzten 40 Jahre als ungehindert, als „unfettered capitalism“ mit freien Märkten.
Aber wir sollten davon ausgehen, dass die Märkte umhüllt und in einen institutionellen und rechtlichen Rahmen eingebettet wurden. Sie wurden nicht befreit. Wir haben eigentlich immer mehr Gesetze, die regeln, was Eigentum ist, wer was besitzen darf, was ein Vermögenswert ist, wer die Vorteile des Vermögenswertes nutzen kann und so weiter.

Die globalisierte Welt ist eine Art künstliche Festung aus juristischen Mauern. Sie ist kein Raum des freien Kapital- und Warenverkehrs. Die Neoliberalen, die ich betrachtete, halfen mir, die Logik dessen zu verstehen. Daher denke ich, dass die „Ideologie des Freihandels“ selbst irreführend ist, denn der Freihandel ist immer von allen möglichen Rechtsinstitutionen abhängig, damit er auf eine bestimmte Weise funktioniert und arbeitet und nicht anders.

Quinn Slobodian, geboren 1978 im kanadischen Edmonton, ist Associate Professor am Department of History des Wellesley College. Seine Spezialgebiete sind deutsche Geschichte, soziale Bewegungen und das Verhältnis zwischen den Industrieländern und dem globalen Süden.

Quinn Slobodian, geboren 1978 im kanadischen Edmonton, ist Associate Professor am Department of History des Wellesley College. Seine Spezialgebiete sind deutsche Geschichte, soziale Bewegungen und das Verhältnis zwischen den Industrieländern und dem globalen Süden. © Michelle Sterling

Warum haben wir heutzutage so viele verschiedene Bedeutungen des Wortes „Neoliberalismus“?

Hayek selbst benutzte den Begriff, um sich und seine Kollegen bis in die 1950er Jahre hinein zu beschreiben. Zwischen den 1950er und 1980er Jahren wird er hauptsächlich auf Spanisch verwendet, um Modelle des „Starken Staats und freien Marktes“ in Lateinamerika zu beschreiben. Hier wird er tatsächlich sehr präzise verwendet, als eine Art sozialwissenschaftlicher Begriff. Die Militärregierungen von Argentinien und Chile werden so beschrieben.

Und dann wird er in den 90er Jahren von den Südamerikanern als Kampfruf benutzt, bevor er von den Aktivisten des Nordens aufgegriffen wird. Über die indigenen, mexikanischen Rebellen der Zapatistas kommt er in den 90er Jahren in den Globalisierungsdiskurs.

Und dann, Ende der 90er Jahre, benutzen Gelehrte wie Pierre Bourdieu, Anthony Giddens, Susan Strange, Noam Chomsky den Begriff, um die Alternative zur Sozialdemokratie zu beschreiben, die von Regierungen und internationalen Institutionen zu dieser Zeit eingeführt wird.

Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist ein großer Moment für das neoliberale Projekt. Sie wurde mit vielen Prinzipien der ursprünglichen Neoliberalen im Hinterkopf entworfen. Ludwig Erhard, der erste Wirtschaftsminister und spätere Kanzler, war selbst Mitglied in der Mont Pelerin Society, der wichtigsten Gruppe von Neoliberalen zu dieser Zeit – und nur wenige Deutsche sind sich dessen bewusst. Weil wir kein „neoliberaler Staat“ sind, sondern eine „soziale Markwirtschaft“.

Diese „soziale Marktwirtschaft“ ist ein wunderbares Stück Markenkommunikation, oder?

Es ist ein Begriff, der von Alfred Müller-Armack geprägt wird, der bis 1945 Nationalsozialist und Liberalökonom war.

Beides zur gleichen Zeit?

Ja. Er war Parteimitglied. Er dachte, dass man scheinbar konkurrierende politische Ideen zusammenbringen könnte. Nach 1945 muss man wissen, dass die Arbeiterbewegung in Deutschland sehr stark war. Müller-Armack wusste, dass man nicht nur über die Marktwirtschaft sprechen konnte. Er sagte, man müsse den sozialen Teil hinzufügen und sich dann als für beide Seiten attraktiv präsentieren.

Wer sind heute selbsternannte Neoliberale in Ihrem Sinne, im Sinne des Buches?

Nun, es gibt so etwas wie ein Archipel von Think Tanks, von denen einer in Großbritannien das Adam Smith Institute ist.

In Deutschland wird es sogar häufiger verwendet, als man denkt. Freiburger Ökonomen zum Beispiel. Dann gibt es noch die Zeitschrift Ordo, die regelmäßig erscheint. Es ist der Ort, an dem man sich über die Veränderungen des neoliberalen Denkens informieren kann.

Aber der Ort, an dem derzeit am meisten passiert, ist die Hayek-Gesellschaft, die sich 2015 aufspaltete, weil die Hälfte der Mitglieder Sympathie für die AfD hatte oder ein Teil davon war und die andere nicht.
Das ist eigentlich die wichtigste Entwicklung in der neoliberalen Philosophie im Moment: Es gibt nun Menschen, die meinen, dass man internationale Organisationen auflösen und zu einer nationalen Lösung zurückkehren muss. Die glauben, dass die Einwanderung viel stärker nach kulturellen und auch wirtschaftlichen Kriterien geregelt werden muss.

Die Hayek-Gesellschaft veranstaltet „Freiheitsforen“, auf denen auch regelmäßig Thilo Sarrazin spricht. Wer Zuwanderung stoppen will, findet bei ihm eine gute Grundlage, um seine Ablehnung mit wirtschaftlichen und kulturellen Argumenten begründen zu können. Sarrazin glaubt ja, dass man den IQ von Bevölkerungen messen könne. Das ist, wenn es ginge, ein gutes wirtschaftliches Argument, um Menschen fernzuhalten.

Was spricht in Ihren Augen am meisten für den Neoliberalismus?

An den Neoliberalen bewundere ich die Dimension ihres Denkens. Sie denken konsequent global. Die ganze Welt ist der Ort, an dem man anfangen muss, sich eine Lösung für die Staatsführung auszudenken. Das ist richtig.

Aber ich denke, die Ziele, die sie mit diesen Institutionen verfolgen, sollten anders sein. Sie haben geholfen, eine globale institutionelle Architektur zum Schutz des freien Kapital- und Warenverkehrs aufzubauen. Eben mit der Welthandelsorganisation oder mit Handelsabkommen zwischen verschiedenen Staaten. Sie haben aber auch geholfen, den Planeten zu zerstören, weil sie diesen freien Verkehr von Kapital und Gütern heiliggesprochen haben. Genauso wie das Prinzip des Wettbewerbs.

Ich denke aber – ein wichtiger Punkt, den ich in dem Buch hätte stärker machen sollen – die Schaffung des internationalen Wirtschaftsrechts betrachte ich nicht per se als neoliberal. Man könnte die Instrumente des internationalen Wirtschaftsrechts für andere Zwecke nutzen. Sie können sie auch zur Durchsetzung von Klimaabkommen oder zur Durchsetzung von Arbeitsstandards verwenden.

Deshalb nennen Sie Ihr Buch „Globalisten“ und nicht „Neoliberale“.

Ja, genau. Und ich will auch nicht den Eindruck erwecken, dass die Neoliberalen ein Monopol auf den Globalismus haben. Ich denke, sie haben ihre Version des Globalismus, und wir brauchen unsere eigene Version des Globalismus.

Wer sind wir?

Die linken progressiven Kritiker des Neoliberalismus.


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Rico Grimm.

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