„Aber wer wählt denn am Ende die SPD?“

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Geld und Wirtschaft

Interview: „Aber wer wählt denn am Ende die SPD?“

Die SPD sucht neue Vorsitzende. Wir haben uns beraten – mit zwei Sozialdemokraten. Er steht dem wirtschaftsfreundlichen Flügel nahe, sie dem linken. Ein Streitgespräch.

Profilbild von Interview von Belinda Grasnick

Wir sitzen in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nähe des Hamburger Hafens. Das Gebäude gehört zu den alten Wohnhäusern auf St. Pauli und war früher vor allem von Hafenarbeitern und Seeleuten bewohnt. Luise Heinz und Jakob Engelmann hocken auf dem Sofa im Wohnzimmer und trinken Bier. Beide sind zusammen in Halle an der Saale zur Schule gegangen.

Luise ist 31 und arbeitet als Soziologin an der Universität Hamburg. Sie fühlt sich dem linken Flügel der SPD zugehörig. Die Hartz-Reformen unter Gerhard Schröder hält sie für einen Fehler. Jakob ist 32, Wirtschaftsingenieur, hat für RWE und die Bahn gearbeitet und fängt nun bei VW an. Er steht dem wirtschaftsfreundlichen Flügel der SPD nahe und sagt: Die Hartz-Reformen waren notwendig.

Ich möchte mit ihnen über die Wahlen zum SPD-Vorsitz, die große Koalition und Kevin Kühnert sprechen.


Die Stichwahl zum SPD-Vorsitz läuft noch bis zum 29. November. Werdet ihr abstimmen?

Luise: Selbstverständlich.

Jakob: Die Beschallung durch die Partei war ziemlich intensiv. Auf allen Kanälen: E-Mail, Telegram-Channel, Youtube.

Olaf Scholz und Klara Geywitz treten gegen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans an. Wen wählt ihr?

Luise: Ja, sollte Jakob heute nicht besonders treffende Argumente vorbringen … (lacht) Es ist schon klar für mich, dass ich für Esken und Walter-Borjans stimme.

Jakob: Ich schwanke noch, tendiere auch eher zu Esken und Walter-Borjans.

Luise: Oh, das überrascht mich.

Jakob: Du hast ein falsches Bild von mir. Aber es gibt auch Gründe, die für Scholz sprechen.

Welche denn?

Jakob: Er hat einen guten Job als Hamburger Bürgermeister gemacht. Scholz ist sehr erfahren. Der Nachweis fehlt beim anderen Team. Walter-Borjans war Finanzminister in Nordrhein-Westfalen. Aber die bundesweite Erfahrung und das Berlin-Pflaster fehlt den beiden.

Warum wählst du dann nicht Olaf Scholz?

Jakob: Er verkörpert für mich zu wenig die nötigen sozialen und ökologischen Inhalte. Die Partei braucht jemanden mit mehr Mut und Fantasie. Scholz wäre für mich ideal als Kanzler, der das alles durchboxt.

Luise: Für mich spielt seine Zeit als Hamburger Oberbürgermeister immer noch eine große Rolle. Olaf Scholz hat damals sehr für Hamburg als G20-Standort geworben und dabei völlig weggebügelt, dass so ein Treffen 600 Meter Luftlinie entfernt von der Roten Flora Probleme bringen könnte. Ich gebe ihm eine Mitschuld daran, dass das so eskaliert ist.

Jakob: Was ich Scholz anrechne: Er drückt seine Themen durch. Ihm fehlte bisher aber die Vision.

Luise: Da sagst du etwas Interessantes. Mir kommen die Themen von Geywitz und Scholz so zufällig und punktuell vor. Zum Beispiel Scholz’ Lieblingsthema, Frauen, oder das Thema Ostdeutsche – bei beiden Themen fehlt mir der größere Zusammenhang. Es ist ja schön, dass sich Scholz zum Feminismus bekennt, aber für mich bleibt die Frage: Woher kommt das und wo wollen sie damit hin?

Hat die Frau an Olaf Scholz’ Seite, Klara Geywitz, einen Einfluss auf die Themen? Sie betont immer wieder, dass sie Feministin ist, und sie ist Ostdeutsche.

Luise: Sie redet viel über Ostdeutschland, er redet viel über die Rolle der Frau. Ich bin ostdeutsch und Frau. Trotzdem stößt mich das ein wenig ab. Man spricht damit bestimmte Zielgruppen an, die aber ganz unterschiedliche Interessen haben. Und man schließt Leute aus, zum Beispiel prekär beschäftigte Männer aus dem Ruhrpott. Wenn man soziale Gerechtigkeit für alle Bürger fordert, sollten Geschlecht und Herkunft erstmal nicht im Mittelpunkt stehen.

Jakob: Wenn ich zu Hause in Halle mit Freunden und Familie diskutiere, merke ich, dass viele inzwischen das Gemeinschaftsgefühl vermissen. Alle kämpfen nur noch für sich selbst. Das ist eine emotionale Lücke, die die SPD angehen sollte.

Luise, Jakob, ihr seid vor knapp zehn Jahren in die SPD eingetreten. Warum?

Luise: Ich weiß nicht, das erschien mir einfach richtig. Das hört sich sicher merkwürdig an, aber ich frage mich eigentlich immer noch, wie Leute denn nicht grundsätzlich sozialdemokratisch überzeugt sein können.

Jakob: Bei mir genau das Gleiche. Das war keine konkrete Person oder kein konkreter Inhalt. Es war eher so ein Gefühl: Das sind die richtigen Werte.

Wie findet ihr den Prozess, über den SPD-Vorsitz in so großer Runde zu entscheiden?

Jakob: Ich bin eigentlich ein Fan von diesem Prozess. Aber dadurch, dass die Beteiligung auf den obersten Ebenen so gering war, habe ich ein bisschen Angst. Es werden jetzt vielleicht die Außenseiter – das sind für mich immer noch Walter-Borjans und Esken. Und angenommen, die machen keinen guten Job: Dann traust du dich nicht, die Vorsitzenden abzusetzen, weil sie ja im großen Verfahren gewählt wurden.

Kevin Kühnert hat in der Süddeutschen Zeitung gesagt, er stehe als stellvertretender Vorsitzender der SPD zur Verfügung. Das steht ja im krassen Gegensatz zu dem offenen Verfahren, dem sich die anderen jetzt stellen.

Jakob: Hat er sich selbst ernannt?

Luise: Gewissermaßen ja.

Jakob: So richtig viel Konstruktives habe ich von ihm noch nicht gehört. Er spricht eine junge Klientel an, die eher links von der SPD ist. Aber wenn wir auf die Gesellschaft und den Altersdurchschnitt gucken – ich glaube nicht, dass sich Menschen über 40 für Kevin Kühnert begeistern. Wenn er die junge Seite bespaßt und irgendwer die reifere Bevölkerung einsammelt, dann könnte das vielleicht funktionieren. (lacht)

Luise: Und wer sollte das sein?

Jakob: Vielleicht doch Scholz?

Luise: Ich weiß nicht, ob da nicht Blut fließen würde. Symbolisch natürlich.

Wenn wir über Kevin Kühnert reden, muss ich natürlich diese Frage stellen: Sollte die SPD die Große Koalition verlassen?

Luise: Ich bin explizit dagegen, vorzeitig aus der Koalition rauszugehen. Ich halte das für einen Fehler. Ich habe 2018 mit vielen inneren Schmerzen für eine Große Koalition gestimmt.

Jakob: Ich habe dagegen gestimmt.

Luise: Ich fand das einfach wichtig, der Stabilität zuliebe. Auch bei den aktuellen Umfragewerten, insbesondere der AfD, können Neuwahlen heftig schiefgehen.

Jakob: Machen es dann zwei weitere Jahre noch besser?

Luise: Hoffentlich! Mit der neuen, besseren SPD. (lacht)

Jakob: Jetzt, wo sich die CDU auch langsam zerlegt? Da wird die GroKo ja auch nicht produktiver. Ich fand die erste Halbzeit der Koalition eigentlich okay. Wir haben ein Klimagesetz geschafft, auch wenn das noch nicht die Ziele des Pariser Abkommens erreichen wird. Mir fehlt die Fantasie, mir einen großen Wurf für die zweite Halbzeit vorzustellen. Aber Neuwahlen sind auch schwierig. Dann sind auf einmal zig Parteien im Bundestag, nicht mal Dreierkonstellationen reichen mehr.

Was ist dann die Lösung, wenn es weder die Große Koalition noch Neuwahlen sind?

Jakob: Am besten, wir wählen jetzt ein neues Spitzenduo. Die nehmen sich ein halbes Jahr Zeit und schreiben ein Gesamtkonzept auf. Was ist Sozialdemokratie für Deutschland? Und dann kann man überlegen, was sich davon umsetzen lässt, mit der CDU oder wem auch immer. Vielleicht kann man dann in Neuwahlen gehen. Im Moment hat die SPD ja inhaltlich auch nichts, was die Leute mobilisiert. Nur punktuelle Projekte, wie die Vermögensteuer, die gerade ein Trendthema in der SPD ist.

Wenn Luise und Jakob sich nicht einig sind, lachen sie meistens. Beide sind gut informiert, argumentieren aber aus unterschiedlichen Richtungen. Bei rein politischen Fragen hat Luise eine klare Meinung, Jakob hält sich eher zurück. Sobald es um wirtschaftliche Reformen geht, sind seine Ansichten umso entschiedener.

Jakob und Luise

Jakob und Luise privat

Zurzeit liegt die SPD in Umfragen bei 14 bis 15 Prozent. Braucht es die SPD noch als Volkspartei?

Luise: Ich bin mir nicht sicher, ob die Zeit der großen Volksparteien nicht sowieso an ein Ende gelangt ist und ob das schlimm wäre. Gerade glaube ich, ist man ganz gut bedient, wenn man über 20 Prozent bekommt.

Jakob: Die SPD hat schon noch eine klare politische Nische. Die wird vielleicht etwas kleiner mit Grünen und Linken um uns herum. Aber ich glaube, dass der Bedarf an einer SPD da ist, die einen Ausgleich zwischen Sozialem, Umwelt und Wirtschaft schafft. Volkspartei hin oder her, momentan ist es wichtiger, Inhalte zu definieren und dafür zu kämpfen.

Wäre für euch eine Zusammenarbeit mit der Linken auf Bundesebene denkbar?

Luise: Ja, das wäre denkbar, unter den gegebenen Umständen wahrscheinlich sogar geboten. Aber ich finde: Besser nicht als kleiner Partner der Linken, sollten sie mal mehr Sitze haben als die SPD.

Jakob: Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wofür für die Linke steht. Man hört immer viel über Namen und dass sie sich zoffen, aber produktive Vorschläge sind bei mir nicht hängengeblieben. Anstelle von Rot-Rot würde ich mir auch lieber wieder Rot-Gelb wünschen.

Luise: Bitte was?

Jakob: Es ist klar, dass das politisch gerade überhaupt nicht möglich ist. Dann eben Rot-Gelb-Grün.

Luise: Wow, okay. Ich würde das Gelbe einfach streichen, also Rot-Grün.

Jakob: Ich finde die politische Vision hinter Rot-Gelb gut. Den Markt so weit zuzulassen, dass das Soziale nicht leidet.

Luise: Ich weiß nicht. Ich bin ja kein Feind der sozialen Marktwirtschaft. Aber natürlich braucht es staatliche Eingriffe, denn der Markt hat kein Gewissen und keine Moral. Politiker idealerweise schon. Bei vielen FDP-Politiker:innen sehe ich diesen Anspruch aber nur bedingt.

Jakob: Die FDP ist für mich vom Grundgedanken her eine progressive Partei. Sie möchte Dinge verändern. Sie hinterfragt den Status quo. Ich könnte mir vorstellen, dass sie mit der SPD zusammen etwas bewegen kann. Das Problem, das ich mit der CDU habe, ist dieses extrem Konservative, alles nur bewahren wollen.

Luise: Aber das entspricht ja dem Wunsch der Wählerschaft. Die ist zum größten Teil konservativ und religiös.

Wie ist denn die Wählerschaft der SPD?

Jakob: Das ist eine spannende Frage. Was ist denn unsere Zielgruppe in Zukunft? Ich habe früher bei RWE in Nordrhein-Westfalen gearbeitet. Da war bei vielen glasklar: Die wählen SPD, weil das die Partei der Arbeiter ist. Heutzutage würden sich wenige hinstellen und sagen: Die SPD ist die Partei der Arbeiter.

Luise: Weil der klassische Begriff des Arbeiters auch kaum noch existiert.

Jakob: Trotzdem muss man ja definieren. Wir haben jetzt über Inhalte gesprochen. Aber wer wählt denn am Ende die SPD?

Luise: Idealerweise alle, die an dem sozialen Ausgleich interessiert sind. Wenn ich zu denen gehöre, die mehr haben, dann wähle ich SPD, weil ich daran glaube, dass sozialer Frieden eintritt, wenn es den Leuten gut geht und die sozialen Unterschiede nicht zu groß sind. Und für die, die weniger haben, gibt es ja auch ganz egoistische Gründe, die SPD zu wählen. Deswegen muss soziale Politik ein Thema für alle Einkommensgruppen sein.

Jakob: Ich befürchte einfach, dass die klassischen Zielgruppen von anderen Parteien mehr angesprochen werden. Die Älteren von der CDU, die Jungen von den Grünen. Ich habe ein bisschen Bammel, dass da nicht viel übrig bleibt. Aber vielleicht braucht man auch keine klassische Klientel mehr.

Luise: Nee. Sondern eine Idee, die sich für alle gut anhört.

Jakob: Diese klassische Klientel, wo klar war: Man denkt gar nicht nach, sondern arbeitet in diesem Betrieb und natürlich wählt man deshalb die SPD – das gibt es heute ja gar nicht mehr.

Luise: Außer bei uns beiden. (lacht)

Jakob: Aber wir zweifeln ja auch ab und zu. (lacht)


Vor dem Gespräch hatte ich euch um Fragen gebeten, die ihr den SPD-Mitgliedern gern stellen würdet. Vielen Dank an Moritz, Günter, Hans, Magnus, Detlev, Irmtraud, Ruth und Rico für die Anregungen!

Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.