An manchen Tagen habe ich das Gefühl, ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, Statistiken mit pessimistischen Zukunftsaussichten zu lesen. Und dann gibt es Tage, an denen mir diese dystopischen Statistiken regelrecht den Atem verschlagen. Hier ist eine davon: In 43 Prozent der US-Haushalte reicht das Einkommen nicht für Wohnung, Essen, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung, Transport und ein Handy. Im Klartext: Fast die Hälfte der Amerikaner kann sich die grundlegenden Dinge des Lebens nicht mehr leisten.
Bleibt dir auch der Atem weg? Was für eine gruselige und bizarre Wirklichkeit. Die Hälfte der Menschen im reichsten Land der Welt ist praktisch arm. Wie zum Teufel ist das passiert?
Die Leute, die die genannte Studie erstellt haben, nennen diese neue Klasse der Menschen ALICE, für „asset limited, income constrained, employed“ (begrenztes Vermögen, beschränktes Einkommen, erwerbstätig). Es ist eine pfiffige Art, sich über den amerikanischen Zusammenbruch Gedanken zu machen. Und ich darf auch hier übersetzen: Das sind die Menschen, die man früher als amerikanische Mittelschicht bezeichnet hat.
ALICE steht eigentlich für pleite, arm, verschuldet
Betrachten wir jeden dieser Begriffe einzeln. „Begrenztes Vermögen“ bedeutet, diese Haushalte verfügen nicht mehr über finanzielle Reserven, auf die sie zurückgreifen können. „Begrenztes Vermögen“ ist eine höfliche Art zu sagen: lebenslang verschuldet, ohne wirklich jemals der Schuldenfalle zu entkommen. Es ist eine nette Art zu sagen: pleite.
Damit komme ich zum zweiten Begriff: „Beschränktes Einkommen“. Die Einkommen in den USA sind seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gestiegen. Aber die Lebenshaltungskosten sind gestiegen … explodiert … zu einer Art Supernova geworden. In den 1970er und 1980er Jahren kosteten Krankenversicherung und Bildung nicht so viel wie ein Haus. Und Häuser kosteten nicht mehr, als der Durchschnittsmensch in seinem Leben je verdienen würde. Wenn „begrenztes Vermögen“ eine höfliche Art ist, „pleite und verschuldet“ zu sagen, ist „beschränktes Einkommen“ die höfliche Umschreibung für „arm“.
Es gibt zwei grundlegende Arten von finanzieller Armut. Kein hohes Einkommen zu haben oder kein Vermögen angespart zu haben. Die Amerikaner sind heute in beiderlei Hinsicht arm. Denn ihre Einkommen sind nicht gestiegen, also konnten sie nichts sparen; aber ihre Schulden wachsen weiter, was ihre geringen Einkommen auffrisst. Folglich (eine weitere schockierende Statistik) sterben die meisten Amerikaner inzwischen … verschuldet. Was zum Teufel soll das?
Arme US-Bürger sind die neuzeitliche Variante von Leibeigenen
Leben wir im 14. Jahrhundert? Wie nennen wir eine Bevölkerung, die verschuldet lebt und verschuldet stirbt? Sie ist gewiss nicht frei im eigentlichen Sinne. Diese Menschen sind das moderne Pendant zu Leibeigenen oder Bauern – die in Schuld geboren sind und die in Schuld sterben werden, verschuldet mit einer fiktiven, nicht zu bewältigenden Summe.
Amerikaner sind wirklich so etwas wie moderne Leibeigene, das zeigt die letzte Eigenschaft der Abkürzung ALICE: „Beschäftigt“. Es ist ja nicht so, dass der Durchschnittsamerikaner heute arm ist, weil er oder sie den ganzen Tag herumsitzt und Videospiele spielt. Ganz im Gegenteil. Amerikaner sind bekanntermaßen hart arbeitende Menschen – und dieser Trend setzt sich bis heute fort. Amerikaner haben mehrere Jobs. Einen Nebenjob zu haben, ist normal geworden.
Amerikaner sind nicht arm, weil sie nicht arbeiten, nicht hart genug arbeiten oder nicht lange genug arbeiten. Sie sind arm, auch wenn sie es tun. In diesem Sinne ist der letzte Punkt in der Formulierung ALICE nicht überzeugend, er ist unzureichend - er bringt das Problem hier nicht wirklich auf den Punkt. Wenn die Mehrheit der Menschen in einer reichen Gesellschaft jetzt arm ist … obwohl sie “beschäftigt” sind … dann sind die Menschen offensichtlich nicht das Problem … sondern das System.
Eine neue Armut der Zerstörung und des Zerfalls
An dieser Stelle könntest du Einspruch erheben. Werden die Amerikaner wirklich “arm”? Wie sonst würdest du Menschen nennen, die darum kämpfen müssen, sich Nahrung, Unterkunft, Kinderbetreuung und eine Krankenversicherung zu leisten? Man kann sie nicht reich nennen, und man kann sie nicht Mittelstand nennen. Sie sind arm in dem Sinne, dass ihnen die Lebensgrundlagen vorenthalten werden, und diese Entbehrung ist Armut.
Selbst weitaus ärmere Länder haben, darauf wette ich, nicht so schlechte Ergebnisse. Dort können sich höhere Prozentsätze die Lebensgrundlagen leisten - denn Medikamente oder Miete oder Kinderbetreuung in Pakistan oder Nigeria kosten nicht so viel. In der Tat werden die Amerikaner jetzt immer ärmer - und das zeigt sich an Depressionen, Stress, Wut, Zorn, Angst, sinkender Lebenserwartung und Gesundheit, ganz zu schweigen von der klassischen Hinwendung zum Autoritären/Autoritarismus.
Die Armut in Amerika ist allgegenwärtig geworden, weil sie systemisch und strukturell ist. Sie ist in das System eingebrannt. Sie ist ein Feature, kein Bug. Ich wette, die meisten Amerikaner verstehen das heutzutage intuitiv. Arbeite hart, halte dich an die Regeln, werde etwas, werde jemand. Sei Lehrer, Ingenieur, Schriftsteller, Coach, Therapeut, Krankenschwester und so weiter. Was bekommst du dafür? Deine Rente wird von Hedgefonds “geplündert” (heißt: gestohlen). Dein Einkommen wird von “Investmentbankern” dezimiert. Dir wird ein Vermögen für genau die Dinge berechnet, an deren Produktion du selbst beteiligt bist, von denen du aber nie einen fairen Anteil bekommst. Du wirst auf jede erdenkliche Weise ausgenutzt, die das Raubtier sich ausdenken kann.
Aber es ist auch eine neue Art von Armut - oder zumindest eine, die es seit der Weimarer Republik nicht mehr gegeben hat. Es ist die Armut des Niedergangs, der Rückbildung, des Verfalls. Es ist die Armut einer Mittelschicht, die zu den neuen Armen wird. Es ist die Umkehrung einer Aufwärtsbewegung. Die Menschen, die erwartet haben, immer besser und besser zu leben, befinden sich in der düsteren Lage, das nie erreichen zu können, egal was sie tun. Außer vielleicht sich zu verkaufen und selbst eines der Raubtiere zu werden.
Was geschieht, wenn so etwas passiert? Etwas Seltsames, etwas Schwieriges, etwas Paradoxes und Rückschrittliches.
Kein US-Bürger will sich als arm outen
Wenn ich dem durchschnittlichen Amerikaner sage: “Hey, ich weiß, dass du arm bist. Hör zu, ich will dich nicht beleidigen. Ich versuche, dir zu helfen. Ich weiß es. Die Statistiken sagen mir das. Ich kann es in deinem gestressten, depressiven Gesicht sehen.” - was wird der durchschnittliche Amerikaner sagen? Nun, er oder sie wird wahrscheinlich abwehrend reagieren. “Hey, fahr zur Hölle, Kumpel! Ich bin nicht arm!”
Das ist verständlich. Niemand mag es, als arm bezeichnet zu werden - und vor allem nicht die Amerikaner, denn in einer hyper-kapitalistischen Gesellschaft wird Armut stigmatisiert, verhöhnt, verspottet und gehasst. Einen Amerikaner arm zu nennen, ist so etwas wie einen Sowjet als ein schlechtes Mitglied der kommunistischen Partei zu bezeichnen - oder vielleicht sogar als Kapitalisten. Genosse! Ab in den Gulag mit dir!
Ich verstehe das. Aber es hilft niemandem, so zu tun, als wären die Amerikaner heute reich, obwohl sie in Wirklichkeit arm sind. Die harte Wahrheit ist: Die Mehrheit der Amerikaner - oder fast die Hälfte davon - ist heute effektiv arm. Amerika ist das arme reiche Land der Welt. Und es kann überhaupt kein Fortschritt erzielt werden, bis genug Betroffene bereit sind, es zuzugeben.
Denkt drüber nach. Wenn Amerikaner dieses seltsame und dumme Spiel weiterspielen, indem sie so tun, als ob sie reich wären, obwohl sie arm sind … welchen Grund gibt es dann noch, ein offensichtliches Versagen im Herzen des amerikanischen Lebens anzugehen? Wenn du reich und glücklich bist … warum brauchst du öffentliche Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Ruhestand? Und doch werden die Amerikaner ohne diese Dinge immer nur ärmer werden.
Es gibt einen Punkt, an dem Stolz zur Hybris wird. Wo Stoizismus zur Eitelkeit wird. Wo Selbstständigkeit zur Missachtung des Gemeinwohls wird. Die Amerikaner sind an diesem Punkt, in diesem Moment.
Der Ruf nach einem starken Retter wird laut
Die amerikanische Armut ist es, die die heutigen Probleme verursacht hat: Trumpismus, Extremismus, Faschismus, Theokratie. Das ist es, was den religiösen Eifer antreibt - rette mich, irgendjemand! Es ist das, was Rassismus wieder aufflammen lässt.
Und solange dieses Problem nicht gelöst ist, meine Freunde, auf eine harte und sanfte und vernünftige Weise, wird Amerika dort bleiben, wo es gerade ist. Menschen, die die politische Ökonomie wirklich verstehen, haben ein Sprichwort: “Der Kapitalismus implodiert im Faschismus.” Das liegt daran, dass er Massenarmut produziert, nicht Reichtum, Niedergang, nicht Aufschwung - und die neuen Armen wenden sich dann gegen alle, Nachbarn, Freunde, Verbündete, Werte, Moral. Wenn das heute auf unheimliche Weise nach Amerika klingt … dann solltest auch das Amerika von morgen sehen können.
Jemand muss es aussprechen, und zwar mit Verständnis, kompromissloser Wahrheit und echtem Mitgefühl. Amerika ist jetzt praktisch ein armes Land. Kein armes Land wie arme Länder, sondern ein armes Land eigener Art. Ein armes reiches Land, ein reiches Land, in dem der Durchschnittsbürger wie ein armer Mensch lebt. Diese Tatsache ist das Herzstück des amerikanischen Zusammenbruchs, meine Freunde. Und es ist nicht okay.
Umair Haque hat diesen Artikel zunächst auf Englisch bei medium.com veröffentlicht.
Übersetzung und Produktion: Vera Fröhlich; Redaktion: Philipp Daum; Bildredaktion: Martin Gommel.