Stell’ dir einmal vor, du zahlst jeden Monat 30 Euro für Strom. Am Ende des Jahres bekommst du sogar noch etwas zurück. Das machst du zehn Jahre lang. Kein einziges Mal schaust du auf die Rechnung. Warum auch?
Es sind 30 Euro, das ist okay, das kannst du zahlen. Irgendwo auf der Rechnung steht kleingedruckt, dass die 30 Euro im Monat nur eine Schätzung sind. Irgendwann bekommst du Post, dass du bitte deinen Zählerstand ablesen sollst. Und dann bekommst du eine Rechnung über 2.000 Euro.
Dein Stromverbrauch ist in den vergangenen Jahren eben doch höher gewesen. Vielleicht, weil die Dichtung an den Fenstern langsam nachlässt, vielleicht, weil du vorher keinen DSL-Router hattest, wer weiß. 2.000 Euro kannst du jedenfalls nicht zahlen. Also bekommst du nach vier Wochen eine Mahnung. Ärgerlich, aber die Mahngebühren betragen nur drei Euro.
Die Mahnung löst zwar ein schlechtes Gewissen aus, aber 2.000 Euro hast du immer noch nicht. Du liest den Text nicht, du schaust nur auf die Zahl. Wäre aber gut gewesen, den Text zu lesen.
Jetzt hast du nochmal vier Wochen Zeit. Dann liegt wieder ein Brief im Briefkasten – und drei Tage später ist das Licht in deiner Wohnung aus. Stromsperre.
Das Eisfach taut auf, die Lebensmittel im Kühlschrank verderben. Vielleicht gibt es kein Warmwasser mehr, und die Heizung bleibt kalt. Kein Fernsehen, kein Radio, kein Internet, ganz bald auch kein Smartphone, kein Toaster, Mikrowelle, Kaffeemaschine, Wasserkocher, Waschmaschine – und auch diesen Text kannst du nicht lesen. Das Radio, das du morgens beim Kaffee hörst, bleibt still, und den Kaffee hast du ja auch nicht. Der Toast ist labbrig, aber dafür ist die Butter streichzart, wenn auch ein wenig ranzig.
Schätzungsweise sind eine Million Menschen in Deutschland betroffen
Das aufgeführte Beispiel ist natürlich nicht der Regelfall, aber es ist auch keine Fiktion. Hasibe Dündar, Projektleiterin Energieschulden bei der Verbraucherzentrale in Berlin, rechnet das ganz nüchtern und schnell vor. Alles schon erlebt. Seit gut einem Jahr berät die 40 Jahre alte Juristin Menschen mit Energieschulden.
2018 wurden über 18.000 Haushalten in Berlin der Strom abgestellt, knapp 350.000 Fälle gibt es bundesweit. Gut die Hälfte der Haushalte lebt von Grundsicherung. Der Bundestagsabgeordnete der Grünen Sven Lehmann schätzt, dass jährlich einer Million Menschen der Strom abgestellt wird.
Schuldenfalle par excellence
Aber zurück zu deinen Energieschulden: Du hattest einen Brief bekommen, drei Tage später war das Licht aus, und nun hast du mindestens 2.003 Euro Schulden bei deinem Energieversorger. Post bekommst du aber noch.
Das nächste Schreiben von deinem Energieversorger erhöht die Rechnung. In Berlin ist sie dann 176,90 Euro höher. Bis zu 200 Euro können es in anderen Teilen Deutschlands sein. Das ist der Preis für das Sperren des Stroms. Wenn du jetzt bei aller Scham noch den Mut und auch einen Weg findest – ohne Internet und ohne Telefon –, deinen Energieversorger zu kontaktieren, versuchst du, Ratenzahlungen zu vereinbaren.
Klar wäre es besser gewesen, wenn du das vorher versucht hättest, hast du aber nicht. Automatisch generiert das Computersystem deines Versorgers eine Ratenzahlung, die innerhalb des nächsten Abrechnungszeitraums alle Schulden abbaut. Das ist meistens ein Jahr. Sprich: Du zahlst zusätzlich im Monat etwa 180 Euro. Plus deinen Abschlag für Strom, der jetzt auch nicht mehr 30, sondern 47 Euro beträgt. Also 227 Euro ohne Zinsen. Siebenmal mehr, als du eigentlich einkalkuliert hattest.
Der Regelfall allerdings ist viel simpler als das genannte Beispiel, erklärt Dündar: Jemand zahlt zwei bis drei Monate seine Abschläge nicht. Meist, weil er nicht kann, oft aber auch, weil er es vergisst oder vielleicht, weil der inzwischen verstorbene Partner das immer erledigt hat. Sobald der Betrag 100 Euro übersteigt, darf der Stromversorger eine Sperrung androhen und vier Wochen später durchführen.
Dann kommen besagte 160,67 Euro Kosten für die Sperre dazu, wer die Sperre verhindet, indem er etwa keinen Zugang zur Wohnung ermöglicht, bekommt nochmal 66,74 Euro drauf. Dann kommt der Gerichtsvollzieher ins Spiel und ganz schnell auch ein Anwaltsbüro. Da werden aus 100 Euro innerhalb von ein paar Wochen gleich 500. Schuldenfalle par excellence.
Dabei gehört Energieversorgung in Deutschland zum Existenzminimum. Es fällt in den Bereich der „gesellschaftliche Teilhabe“ und wird bei „wirtschaftlichem Verhalten“ vom Sozialamt getragen, so hat es das Bundesverfassungsgericht entschieden. „Wirtschaftliches Verhalten“ heißt, 36,91 Euro Stromkosten für einen Ein-Personen Haushalt. Gut 2 Euro weniger, als der durchschnittliche Haushalt für Strom zahlt.
Nicht vergessen: Wer acht Stunden am Tag im Büro sitzt, der verbraucht zu Hause kaum Strom. Menschen, die Grundsicherung empfangen, sind naturgemäß im Durchschnitt viel mehr zu Hause. Auch haben sie meist keinen A+++-Kühlschrank, sondern ein altes oder billiges Gerät. Sie wohnen häufiger in schlecht sanierten Häusern mit Boilern und Durchlauferhitzern. Kurzgefasst: 36,91 für Energieversorgung ist einfach zu wenig.
Beratung ist mehr als Löcher stopfen
Alle fünf Jahre passt die Bundesregierung den Posten der Grundsicherung „Energie und Wohninstandhaltung“ an Strom- und Gaspreise an. Bei unserem ersten Beispiel, also deinen Schulden, würde das Sozialamt nichts zusätzlich übernehmen: Denn dein Verhalten ist nicht wirtschaftlich.
Falls du jetzt deinen Anwalt anrufen willst, um dich bis nach Karlsruhe durchzuklagen, gibt es jetzt schlechte Nachrichten: Es gibt kein Grundrecht auf Energieversorgung – wie auch nicht auf Wasserversorgung. Stromsperren sind legal. Das Licht bleibt also aus.
Dündar und ihre Kollegin von der Berliner Energieschuldenberatung haben einen direkten Draht zum Berliner Grundversorger Vattenfall, um Sonderfälle zu besprechen. Ratenzahlungen über längere Zeiträume zum Beispiel oder eine Aussetzen der Sperre. Sie prüfen, ob die Forderungen überhaupt rechtmäßig sind, helfen Härtefälle beim Versorger durchzusetzen.
Ein Großteil der Beratung ist aber Hilfe zur Selbsthilfe. Vielen der Betroffenen fehle das Wissen um Stromfresser, erklärt Dündar. Deshalb vermitteln sie die Menschen an die hauseigne Energieberatungsstelle oder den Stromspar-Check der Caritas. Für wenig bis gar kein Geld können Menschen dort erfahren, wie sie ihre Energiekosten senken können.
Aber eigentlich ist Dündars Ziel ein größeres, als die kaputten Fenster mit Plastiktüten zuzukleben, die Wind und Wetter rasend schnell wieder kaputt machen. Sie will eine neue Scheibe. Deshalb organisieren die beiden Frauen von der Beratungsstelle auch das Forum für Energiearmut, einen runden Tisch von Energieversorgern, Sozialämtern, Verbraucherzentrale und Politik. Unter der Schirmherrschaft des Berliner Senators für Verbraucherschutz, Dirk Behrendt, reden alle miteinander. Das ist schon Fortschritt, das gab es vorher nicht.
Es gibt Modelle, die Stromsperren verhindern
In anderen Bundesländern gibt es bereits erfolgreiche Modelle. Im Saarland sinkt die Zahl der Stromsperren. Ein Grund für den Rückgang ist das Saarbrücker Vier-Punkte-Modell. Betroffene werden zum einen früher gewarnt und zum anderen wird bei Empfängern von Grundsicherung das Sozialamt verständigt, sobald eine Stromsperre droht. Der Betroffene muss nicht mehr selbst den Kontakt suchen. Der Energieversorger informiert das zuständige Jobcenter, und die kümmern sich um Stundung, Ratenzahlung oder Darlehen.
Für Dündar ist das keine Alternative: „Es ist einfach entmündigend, denn die Betroffenen entscheiden dabei nichts mehr selbst.“ Außerdem sei der soziale Druck sehr hoch, die Einwilligungserklärung zu unterschreiben, die dem Energieversorger erlaubt, mit dem Jobcenter Daten auszutauschen.
In deinem Fall würde das Modell aber sowieso nicht helfen, weil du dich ja nicht „wirtschaftlich verhalten“ hast. Deine horrende Stromrechnung liegt ja deutlich über den vorgesehenen 36,91 Euro pro Monat.
Dündar findet das Modell eines Härtefallfonds wie in Hannover besser. Dort übernimmt ein Fonds Leistungen, die das Sozialamt nicht übernehmen kann oder will. Der Fonds speist sich aus Mitteln der Stadtwerke Hannover, die in kommunaler Hand sind. Pro Antrag gibt der Fonds durchschnittlich 1.200 Euro zur Schuldentilgung. Beim Berliner „Forum Energiearmut“ soll auch dieses Konzept zur Sprache kommen (Vattenfall dazu schriftlich: „Initiativen wie z. B. Fonds sind Aufgabe der Sozialbehörden“). Mit deinen 2.000 Euro Schulden könntest du da Glück haben.
Inzwischen kommt in vielen Kommunen in Deutschland aber auch ein Prepaid-System zum Einsatz. Man lädt seine Karte auf und kauft Strom. Ist die Karte leer, ist der Strom weg. Zwei Gedanken stehen hinter dem Konzept: Zum einen entgehen die Nutzer so der Schuldenfalle, und zum andern spürt der Verbraucher ganz schnell und unmittelbar, was ihn Geld kostet und was nicht.
Abseits von den entstehenden Kosten durch die neue Technik, sieht Dündar hier vor allem zwei Probleme: Zum einen ist dann der Strom am Ende des Monats trotzdem weg, weil das Geld einfach nicht reicht, und zum anderen bleibe so das Thema Energiearmut im Dunklen. Niemand weiß, ob jemand zu Hause bei Kerzenlicht sitzt, weil er kein Geld mehr hat.
In Deutschland sind Stromsperren im europäischen Vergleich kaum reguliert
In Frankreich, Belgien und sogar in Großbritannien wird der Strom in den Wintermonaten nicht gesperrt. Andere Länder verbieten Stromsperren ganz. Und jedes EU-Land kennt Härtefälle. Auch Deutschland, nur sind sie hierzulande nicht definiert. Zwar gibt es Gerichtsurteile, die Kinder, alte und kranke Menschen schützen, aber trotz EU-Vorgabe hat die Bundesregierung bisher keine Härtefälle definiert.
„Ausweislich der Studie bieten Energie- und Sozialrecht bereits heute einen ausreichenden Rahmen, um soziale Härten bei Stromsperren zu vermeiden.“ So heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Sven Lehmann, dem sozialpolitischen Sprecher der Grünen. Nur: Die von der Bundesregierung genannte Studie erwähnt auf keiner der 97 Seiten soziale Härtefälle. In der Praxis allerdings, bestätigt Dündar, gehen die Versorger durchaus auf solche Fälle ein und setzen Stromsperren aus. Nur Sicherheit haben die Betroffenen nicht.
Der Strompreis kennt keinen Fünf-Jahres-Turnus
Dabei – zu diesem Ergebnis kommt jede Studie, und auch Dündar betont das immer wieder – sind Stromsperren vermeidbar. Und eigentlich hat auch keiner ein Interesse daran. Auch die Energieversorger nicht. Stromsperren bedeuten schlechte Presse, und viel Geld lässt sich damit nicht verdienen. Auch steckt keine Abmahnindustrie dahinter. Trotzdem tun Bundesregierung, Energieversorger und Kommunen nicht das, was sie tun könnten.
„Uns ist eine gute Zusammenarbeit mit Vattenfall sehr wichtig“, sagt Dündar. Noch passiert allerdings vergleichsweise wenig. Die Androhung der Sperre soll jetzt im Text hervorgehoben werden. Vielleicht rot und fett und eine Schriftgröße größer. Aber das dauert. Vattenfall wollte sich nicht dazu äußern, wie lange es noch dauert.
Eine andere Formatierung wäre schon ein Schritt nach vorn, meint Dündar, denn die Androhung wird leicht überlesen. Auch keine Stromsperren mehr vor dem Wochenende durchzuführen würde helfen. Denn selbst, wenn die Leute das Geld auftreiben können, bleibt bis Dienstag das Licht aus. Die Linke in Berlin schlägt eine „freiwillige Übereinkunft“ mit dem Handel vor (etwa eine Abwrackprämie für Kühlschränke), um allen Menschen die Anschaffung energiesparender Geräte zu ermöglichen.
Sven Lehmann will auf Bundesebene da ganz anders herangehen. Keine Abwrackprämie, sondern viel einfacher: Empfänger von Grundsicherung erhalten nicht mehr Geld für das billigste Gerät, sondern für das billigste, energieeffiziente Gerät. Der Grenzbetrag für Stromsperren von 100 Euro soll „moderat“ angehoben werden – etwas, was auch Dündar beim runden Tisch gerne durchsetzen würde, sie spricht ganz konkret von 250 Euro. Und ganz entscheidend: Die Pauschale für Energiekosten soll aus dem Hartz-IV-Regelsatz herausgenommen und nicht mehr im Fünf-Jahres-Rhythmus angepasst werden, sondern jährlich. Denn der Strompreis kennt keinen Fünf-Jahres-Turnus.
Es ist Dündar ernst. Die Sache und die Menschen liegen ihr am Herzen. Aber in ihrem Büro steht keine große Taschentuchbox rum, Dündar ist eine sachliche Frau. Sie weiß, dass sie das grundlegende Problem hier nicht lösen kann. Denn das ist ganz einfach: 350.000 Haushalte in Deutschland haben nicht genug Geld, um ihre Stromrechnung zu bezahlen.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.