Tech-Konzerne wollen unsere Aufmerksamkeit – wir brauchen eine Strategie des Widerstands

© Martin Gommel

Geld und Wirtschaft

Tech-Konzerne wollen unsere Aufmerksamkeit – wir brauchen eine Strategie des Widerstands

Die Apps, Gadgets und Plattformen, die viele von uns täglich nutzen, sind so manipulativ, dass ein bisschen Selbstdisziplin nicht reicht. Der Computerwissenschaftler Cal Newport hat einen besseren Vorschlag.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Stell dir vor, du müsstest Geld bezahlen, um Facebook zu benutzen. Und zwar im Minutentakt, wie früher in einer Telefonzelle. Angenommen, du nutzt soziale Medien wie der durchschnittliche Erwachsene, also etwa zwei Stunden täglich: Dann müsstest du bei einem Minutenpreis von 10 Cent jeden Tag 12 Euro einwerfen. Die Folge wäre klar: Du würdest dir sehr genau überlegen, warum und wie lange du Zeit mit Twitter, Facebook, Whatsapp verbringst. Wenn du Kinder hast, würdest du auch für sie strenge Regeln aufstellen, sonst könntest du dir niemals einen Teenager leisten (da sie täglich drei Stunden und mehr in sozialen Netzwerken hängen).

Wozu dieses seltsame Gedankenspiel gut ist? Es macht deutlich, dass wir Technologien wie soziale Netzwerke und Smartphones deswegen so freizügig nützen, weil sie kostenlos sind. Aber genau hier liegt ein großer Denkfehler. So sieht es zumindest Cal Newport, dessen Buch „Digitaler Minimalismus“ gerade in Deutschland erschienen ist. Er meint, dass diese Technologien nur scheinbar umsonst sind: Tatsächlich zahlen wir für sie einen hohen Preis. Nur eben nicht in einer Währung, die man von Bankkonten abbuchen kann, sondern mit der wichtigsten Ressource überhaupt: den Minuten und Stunden unserer Lebenszeit.

Das mag auf den ersten Blick ziemlich pathetisch klingen, und vielleicht denkst du bei diesen Sätzen an eine gewichtige Abhandlung darüber, dass die Menschheit den Bach runtergeht, weil wir alle in unseren Facebook-Feeds hängen und uns nicht mehr länger als fünf Sekunden konzentrieren können. Das kennt man ja.

Aber Newports Buch ist anders, der Mann ist kein Technologiegegner – als Computerwissenschaftler hätte er sonst auch gründlich den Beruf verfehlt. Was er kritisiert, ist, dass Menschen sich diesen Technologien zu willenlos hingeben – und damit den Interessen von Technologienunternehmen dienen, nicht ihren eigenen. Newports Buch ist ein Aufruf dazu, dass wir die Kontrolle über unsere Zeit und Aufmerksamkeit zurückgewinnen und lernen, neue Technologien so zu nutzen, dass sie unser Leben tatsächlich verbessern, statt es nach und nach aufzufressen.

Wie digitale Designer Aufmerksamkeitsfallen bauen

Eigentlich wolltest du nur kurz deine E-Mails auf dem Handy checken, aber eine Stunde später tauchst du aus einem Wust an Post, Videoclips und Nachrichten wieder auf und hast gerade deine Mittagspause vertan. Vielleicht denkst du, dass das einfach an deiner fehlenden Selbstdisziplin liegt. Tatsächlich aber bist du in eine Falle gerannt: Denn die Produkte der Aufmerksamkeitsindustrie, Smartphones und soziale Medien, sind absichtlich so designt, dass du die Kontrolle über deine Zeit verlierst. Denn je mehr Minuten und Stunden du mit ihnen verbringst, und damit auch mit der Werbung auf diesen Plattformen, desto mehr verdienen sie.

Neu ist das Prinzip nicht: Auch Papierzeitungen verdienen Geld mit Aufmerksamkeit, wenn sie Werbeanzeigen haben. Neu für das Leben im 21. Jahrhundert ist, wie effizient Technik dafür unsere psychologischen Schwachstellen ausnutzt – und zwar rund um die Uhr.

Tristan Harris, der früher bei Google gearbeitet hat, hat in einem Essay bei uns beschrieben, wie digitale Designer Aufmerksamkeitsfallen bauen. Falls du seinen Artikel nicht gelesen hast, empfehle ich ihn dir sehr: Es kann wirklich augenöffnend sein, sich diese Zusammenhänge klarzumachen. Ich würde sogar sagen, in der heutigen Zeit muss man sie kennen.

Es gibt einen TED-Talk, in dem Harris sein Smartphone hochhält und sagt: „Mein Handy ist ein Spielautomat. Immer, wenn ich auf mein Handy schaue, spiele ich, um zu sehen, was für mich drin ist. Was kriege ich?“ Der Vergleich mit dem Spielautomaten ist nicht übertrieben, weil viele Menschen bei der Smartphone-Nutzung tatsächlich suchtähnliche Verhaltensweisen entwickeln. Ein wichtiger Grund dafür sind die kleinen, zufälligen Belohnungen, die in die Systeme eingebaut sind, Likes etwa, Retweets und Herzchen.

Verhaltensforscher wissen, dass unvorhersehbare Belohnungen eine sehr starke Anziehungskraft haben. Ein weiterer Trick, den du wahrscheinlich nie bemerkt hast: Das Symbol, das bei Facebook neue Benachrichtigungen anzeigt, war früher blau, damit es zur Farbpalette der Seite passte. Kaum jemand nutzte es. Dann färbten die Designer das Symbol signalrot, und die Nutzer fingen an, wie wild zu klicken.

Wenn du darauf achtest, wirst du feststellen, an wie vielen Stellen es mittlerweile kleine, rote Benachrichtigungssignale gibt: So bekommst du das Gefühl, dass ständig etwas los ist, das du nicht verpassen solltest. Und schon bist du wieder in einer Timeline versunken. In Kombination mit dem Gefühl sozialer Anerkennung, das soziale Medien mit jedem Post, jedem Kommentar und Tweet erzeugen können, entsteht das, was ein Facebook-Techniker „leuchtende Pseudofreude“ genannt hat – und entsprechende Unruhe und schlechte Laune, wenn niemand auf die eigenen Inhalte reagiert.

Etwas Selbstdisziplin reicht nicht: Wir brauchen eine Strategie des Widerstands

Der Gründungspräsident von Facebook, Sean Parker, gab offen zu, dass sie sich bei der Entwicklung von Facebook vor allem über eine Frage Gedanken gemacht hatten: „Wie können wir möglichst viel von Ihrer Zeit und bewussten Aufmerksamkeit beanspruchen? Und das bedeutet, dass wir Ihnen ab und an eine Art kleinen Dopamin-Kick geben müssen, weil jemand ein Foto oder ein Posting geliked oder kommentiert hat.”

Bevor Handys zu Spielautomaten wurden, als Facebook noch Thefacebook hieß, waren soziale Netzwerke Orte, um Informationen auszutauschen und mit Menschen in Kontakt zu bleiben. Genau das sind immer noch die Gründe, aus denen viele sie nutzen. Nichts davon würde ohne Likes, Herzchen, Tagging und ständige Benachrichtigungen beeinträchtigt, kein Mensch muss mit am Bildschirm festgeschraubtem Blick durch Fotos von Mittagessen und Hundevideos scrollen, um das Beste aus seinen sozialen Netzwerken zu holen.

Technologie ist eben nicht „neutral“, wie gerne behauptet wird – zumindest nicht mehr in dem Moment, in dem jemand Geld mit ihr verdienen will – und die Apps, Gadgets und Plattformen, die viele von uns täglich nutzen, sind keine unschuldigen Tools, auch wenn sie bunt und lustig sind und von kumpeligen Typen gepriesen werden. „Diese Firmen machen umso mehr Geld, je mehr Zeit wir mit ihren Produkten verbringen. Deshalb wollen sie, dass wir ihre Angebote als eine Art Spaßökosystem betrachten, in dem wir herumlungern können und in dem interessante Dinge passieren“, schreibt Newport in „Digitaler Minimalismus“.

Es braucht mehr als nur ein bisschen Selbstdisziplin, um sich dem zu widersetzen. Es braucht eine Haltung und eine Strategie des Widerstands. Der digitale Minimalismus, den Newport vorstellt, ist ein Vorschlag dafür. Er ist „eine Philosophie der Technologienutzung, bei der wir unsere Onlinezeit auf eine kleine Anzahl sorgfältig ausgewählter und optimierter Aktivitäten konzentrieren und auf den Rest freudig verzichten“.

Newport gründet diesen Minimalismus in einer Wirtschaftstheorie, die der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau schon vor 200 Jahren in seinem Buch „Walden“ beschrieben hat. Thoreau lebte zwei Jahre lang in einer Hütte im Wald, in einem Kapitel mit der Überschrift „Ökonomie des Lebens“ findet man allerlei Tabellen, in denen der Autor auf den Cent genau auflistet, wie viel Geld er bei seinem einfachen Lebensstil im Wald für Haus, Essen, Heizmaterial etc. ausgeben muss. Den Kosten stellt er die Stundenlöhne gegenüber, die er mit seiner Arbeit verdienen kann. So erfasst er exakt, wie viel er gegen Lohn arbeiten muss, um alle seine Grundbedürfnisse (Nahrung, Obdach, Wärme etc.) zu befriedigen.

Das entscheidende Maß ist für ihn dabei nicht das Geld, das er ausgeben muss, sondern seine Zeit. „Die Kosten einer Sache sind die Summe dessen, was ich als im Austausch dafür erforderliches Leben bezeichnen will, unmittelbar oder auf lange Sicht“, schreibt Thoreau. Er konnte mit einem einzigen Tag Erwerbsarbeit pro Woche alle seine Grundbedürfnisse decken und fühlte sich damit wohl reicher als die meisten seiner Zeitgenossen.

Wie viel Lebenszeit ist Twitter wirklich wert?

Der Philosoph Frédéric Gros nannte das „Thoreaus neue Ökonomie“. Im Gegensatz dazu konzentriert sich das ökonomische Standarddenken auf finanzielle Ergebnisse: Es geht immer darum, mit meinen Tätigkeiten den höchstmöglichen Gewinn zu erwirtschaften, unabhängig davon, wie viel Geld ich wirklich brauche. Wenn ein Landwirt einen höheren Gewinn erzielen kann, wenn er statt einem Hektar Land dreißig Hektar bearbeitet, sollte er das demnach auch tun. Laut Thoreau ist diese Rechnung unvollständig, weil sie die investierte Lebenszeit nicht als Kostenfaktor einbezieht.

Newport überträgt die „neue Ökonomie“ für seinen digitalen Minimalismus auf das Internetzeitalter: Wir sollten demnach die Verhaltensweisen und Tools in unserem Leben einer neuen Kosten-Nutzen-Rechnung unterziehen. Wenn ich etwa Zeit auf Twitter oder Facebook verbringe, kann es sein, dass ich interessante neue Menschen kennenlerne oder auf neue Ideen treffe. Dem ökonomischen Standarddenken zufolge ist das ein Gewinn, und ich sollte deswegen möglichst viele solcher Quellen nutzen.

Thoreau würde den Wert anders berechnen, schreibt Newport: „Wie viel von Ihrer Zeit und Ihrer Aufmerksamkeit, würde er fragen, muss geopfert werden, um den geringen Gewinn gelegentlicher Verbindungen und neuer Ideen zu erzielen, den eine hohe Präsenz bei Twitter einbringt?“

Was nicht heißen soll, dass es schlecht ist, Twitter zu nutzen. Aber wir sollten, meint Newport, von der Idee abrücken, dass viele kleine Gewinne, die wir aus digitalen Tools ziehen, in jedem Fall eine gute Sache sind. Und sie danach überprüfen, ob der Gewinn im Verhältnis zur investierten Lebenszeit hoch genug ist. Zumal es auch andere, vielleicht bessere Möglichkeiten gibt, mit Freunden in Verbindung zu bleiben und neue Menschen und Ideen kennenzulernen. Oder auch effizientere Wege, die Tools zu nutzen: Statt täglich wieder und wieder in einer Timeline zu versinken, könnte man sie zu festen Zeiten für einen klar vorgegebenen Zeitraum durchscrollen. Und es ansonsten einfach sein lassen.

Dreißig Tage kalter Entzug, dann das Handy entrümpeln

Um das zu schaffen, muss man sich allerdings von FOMO befreien, der berüchtigten „Fear of Missing Out“ (Angst, etwas zu verpassen). Auch deshalb sieht Newports Minimalismus als erstes eine 30-tägige Pause von „optionalen Technologien“ vor (das ist alles, worauf man einen Monat verzichten kann, ohne seinen Job zu verlieren oder sonst wie größere Problem zu bekommen). Nach Ablauf dieser 30 Tage folgt die Entrümpelung: Jede Technologie, die man in seinem Leben behalten will, muss drei Kriterien erfüllen. Sie muss:

  • einem Zweck dienen, den du wirklich wichtig findest (also nicht nur irgendeinem): Günstig mit der besten Freundin in Australien telefonieren können zum Beispiel oder über Twitter früh neue Trends bemerken, wenn das für deinen Job wichtig ist.
  • die effizienteste Methode sein, diesen Zweck zu erreichen (wenn es sinnvoller ist, jede Woche auf eine dreistündige Veranstaltung mit interessanten Menschen zu gehen, als zehn Stunden auf Twitter rumzuhängen, gewinnt die Veranstaltung)
  • durch ein standardisiertes Anwendungsverfahren begrenzt werden (auf Deutsch: du musst festlegen, wann und wie du sie nutzt)

Für die Anwendungsverfahren liefert Newport allerlei Beispiele: Wenn du zum Beispiel Facebook gerne nutzt, um von Veranstaltungen in deiner Umgebung zu erfahren, kannst du ein Lesezeichen im Browser setzen, mit dem du direkt auf die Veranstaltungsseite von Facebook kommst. So vermeidest du das Bermuda-Dreieck der Aufmerksamkeit, die Timeline. Die Gefahr von Binge-Watching sinkt enorm, wenn die Regel lautet, dass du nur mit Freunden zusammen Netflix-Serien anschaust (oder es wird wenigstens zum sozialen Ereignis).

Ein sehr guter Tipp ist es auch, alle Apps für soziale Medien vom Smartphone zu entfernen und Facebook, Twitter etc. nur noch am Computer aufzurufen. Erstens bedeutet das mehr Aufwand und bremst den automatischen Griff zum Handy, zweitens stecken in den mobilen Anwendungen besonders viele Aufmerksamkeitsfallen, weil mobile Werbung bei den Tech-Unternehmen für den größten Umsatz sorgt. Wenn du Twitter beruflich nutzt, kannst du TweetDeck oder ähnliche Tools nutzen, die erweiterte Filtermöglichkeiten bieten: So lässt sich zum Beispiel gezielt ein Schwellenwert einstellen, wenn du ein Thema beobachtest, damit nur Tweets mit 50 oder mehr Retweets angezeigt werden.

Auch, wenn Newport gegen Ende seines Buchs für eine „Aufmerksamkeitsrevolution“ als Akt des Widerstands gegen die Aufmerksamkeitsindustrie wirbt, ist sein digitaler Minimalismus ziemlich pragmatisch. Letztlich geht es um Autonomie: darum, dass wir neue Technologien in unserem besten Sinne nutzen, nicht im Sinne ihrer Hersteller. Das ist weder eine Ideologie der Technikfeindlichkeit noch ein Lifestyle. Damit unterscheidet sich die digitale Entrümpelung von dem Aufräumkult um Marie Kondo: Es wird wohl kaum demnächst eine Netflix-Serie geben, in der Menschen unter Tränen ihre Handys entmüllen. Das eignet sich einfach nicht zum Binge-Watching.


Ich werde Newports Methode tatsächlich ausprobieren und dreißig Tage Pause von „optionalen Technologien“ mit anschließender digitaler Entrümpelung machen. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt: Ob ich wirklich viel mehr Zeit dadurch gewinne? Ganz viel telefoniere, statt Nachrichten in alle Richtungen zu versenden? Aus Langeweile Harfe spielen lerne? In meinem Newsletter werde ich berichten. Hier kannst du ihn abonnieren.

Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.