Im Verhandlungssaal 200 des Leipziger Amtsgerichts konnte man am 16. August 2018 die düstere Zukunft des sächsischen Rechtsstaats besichtigen.
Angeklagt waren Martin K. und Dennis W., beide Ende 20. Zusammen mit 250 Kumpanen, unter ihnen gewaltbereite Rechtsextreme und Hooligans, sollen sie am Abend des 11. Januar 2016 durch den Leipziger Stadtteil Connewitz marodiert sein. Bewaffnet mit Holzbrettern und Eisenstangen schlug der Mob die Scheiben von 25 Läden, Kneipen und Wohnungen ein. Sogar eine Axt wurde später sichergestellt.
Heute, zweieinhalb Jahre später, will man die Nacht der Gewalt rekonstruieren. Es gibt nur ein Problem: Es kann sich kaum noch jemand daran erinnern.
Deutschland fehlen 2.000 Richter
Da ist zum Beispiel der Zeuge Christian T., Biochemiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig. Sein Wohnzimmerfenster zeigt direkt auf jene Kreuzung, an der sich damals die Gewalt entlud.
„30, vielleicht 40 Leute waren da“, sagt T., grübelt und streicht sich mit der flachen Hand die gebundenen Haare glatt. 30? 40? „Oder eher ein paar Hundert?“, entgegnet Amtsrichter Marcus Pirk. Kann sein, sagt T.
Richter Pirk versucht es nochmal. „Hier steht, Sie haben nachts noch die Polizei gerufen“, sagt er. „Ja“, sagt T. nach leichtem Zögern. Pirk legt den Kopf schief. „Und die Beamten“, sagt er dann, „kamen doch Tage später zu Ihnen in die Wohnung. Was haben sie denen denn gesagt?“ T. erwidert: „In meine Wohnung? Echt?“
Der Prozess um die Nacht im Januar dauert immer noch an. Und Szenen wie diese haben sich schon zigfach wiederholt. Dabei ist weniger interessant, dass Menschen manchmal vergessen, wer alles bei ihnen zu Besuch war. Stattdessen zeigen die Gerichtstermine, wie fatal es sein kann, wenn Jahre vergehen, bis eine Verhandlung beginnt. Wie stark die Macht des Rechtsstaates erschlafft, wenn ihm die Richter fehlen.
Betrachtet man ganz Deutschland, ist der Richtermangel schon ein Problem. 2.000 Richterinnen und Richter fehlen laut Richterbund bundesweit. Das hat Folgen:
Kam vor einigen Jahren noch jede dritte Straftat vor Gericht, ist es heute nur noch jede fünfte. Der Rest? Verjährt. Eine Körperverletzung nach fünf Jahren, eine Trunkenheitsfahrt nach drei Jahren. Oder aber die Fälle stauen sich an und werden, während die Erinnerung ihrer Zeugen verwischt, langsam immer unlösbarer. Wie der Fall aus Leipzig. Auch am Leipziger Sozialgericht liegen derzeit 11.000 unerledigte Verfahren.
Den sächsischen Gerichten steht das Schlimmste erst bevor
Allerdings fehlt es bundesweit auch in Lehrerzimmern an Personal, in Pflegeheimen oder im Kreißsaal. Warum muss man sich ausgerechnet um sächsische Richter sorgen?
Reinhard Schade ist ein Grund für die anstehende Personalnot. Und kann gleichzeitig rein gar nichts dafür. Der 57-Jährige hat graue, kurze Haare – und eine hellwache Stimme dafür, dass er schon seit 1992 als Vorsitzender Richter dem Landgericht Bautzen vorsteht. Wie viele seiner Kollegen arbeitete Schade vorher im Westen und geht nun auf die 60 zu.
Im Zuge der Wiedervereinigung mussten mit dem Staatsapparat der DDR auch hunderte Richter ersetzt werden – auf einen Schlag. Besonders für Berufseinsteiger aus dem Westen, die noch am Anfang ihres Arbeitslebens standen und die die eigene Familienplanung noch vor sich hatten, waren die Stellen attraktiv.
Reinhard Schade, der damals aus Heidelberg nach Bautzen kam, sagt: „Hier haben viele gegrübelt: Gehe ich rüber?“ Und jetzt, 26 Jahre später, hat Schade die Pension vor Augen. Neun Jahre, dann ist Schluss, sagt er sich. Und mit ihm, und genau da liegt das Problem, hören auch all die anderen auf, die damals zur Wiedervereinigung gleichzeitig anfingen.
Mit dem Speedboat über die Alster
Das Landgericht Bautzen ist ein neugotischer Bau mit verzierten Foyers und Treppchen, die ein wenig an Hogwarts erinnern. Richter Schade hat hier im vergangenen Vierteljahrhundert, der Zeit seiner Gerichtsleitung, so einiges an Versuchen der sächsischen Regierung mitbekommen, der anstehenden Personalnot Herr zu werden.
Er erzählt von Versuch Nummer eins, der relativ simpel klingt, aber ziemlich hoffnungslos ist: eine Gehaltserhöhung. Erst Anfang dieses Jahres bekamen sächsische Richter wieder eine Erhöhung um 2,35 Prozent. Sie verdienen jetzt gut viertausend Euro im Monat. Das Gehalt soll jüngere Nachfolger locken.
Um zu verstehen, warum ein paar Prozent mehr oder weniger Gehalt ein ziemlich hoffnungsloser Versuch sind, junge Absolventen anzulocken, zeigt sich Ende Juli, als die Sonne hinter der Hamburger Binnenalster verschwindet. Auf einem Steg haben sich etwa dreißig junge Männer und Frauen, alle um die 20, auf dunkle Holzmöbel gefleezt. Die Jurastudenten tragen ihre hellblauen und weißen Hemden aufgeknöpft, es gibt Becks und Fritz-Limo. Wer mag, kann mit dem angemieteten Speedboat eine Runde über die Alster drehen.
Die Kanzlei Allen & Overy hat ihre Praktikanten, Referendare und gelegentliche Mitarbeiter zu einem Sommerfest geladen. Ein Versuch, die Juristen an das Unternehmen mit weltweit 46 Büros und mehr als 5.000 Mitarbeitern zu binden. Und sie letztlich dem Staat streitig zu machen.
Der eiserne Sparkurs der Sachsen
Dasselbe Sommerfest richtete die Kanzlei auch in Frankfurt, Düsseldorf und München aus. „Großkanzleien“, sagt einer der Gäste, „bewerben sich heute bei den Absolventen, nicht umgekehrt.“ Und die Kanzlei hat, neben kühlem Bier bei Alsterpanorama, noch ein weiteres Argument: Geld. Manche Großkanzleien zahlen Berufsanfängern 125.000 Euro im Jahr – und damit mehr als doppelt so viel, wie der Staat seinen jungen Richtern bietet.
Dass die guten Richter dem Staat durch die Lappen und lieber zur Großkanzlei gehen, bereitet Richter Schade aus Bautzen „Sorge – aber ich kann es gut verstehen“. Der Richterberuf, sagt er, „ist nicht mehr so lukrativ“. Da stünden überlastete Gerichte mit fester Besoldung auf der einen Seite, international agierende Kanzleien mit Spitzengehältern auf der anderen.
Also zu Versuch Nummer zwei, sagt Schade, und erzählt, die Sachen mit den Proberichtern. „Man hat einfach mal mehr Leute eingestellt“, erklärt er, „aber nicht mehr nur Topabsolventen“. Man muss dazu wissen, dass Sachsen damit auch ein Stück weit gegen eigene Versäumnisse ankämpft. Sachsens Richtermangel wäre gar nicht so groß, sagen manche, hätten zwei Finanzminister nicht ihre eisernen Sparkurse gefahren.
Die Rede ist von den beiden Georgs: Milbradt (1990 bis 2001) und Unland (2008 bis 2017), die Sachsen zwar durch ihre rigide Knauserei reich machten – die sächsische Staatskasse soll über Reserven von mehr als einer Milliarde Euro verfügen, für schlechte Zeiten. Die aber auch den sächsischen Staatsapparat ausdünnten. „Die Bevölkerung erwartet, dass ich die Finanzen zusammenhalte“, sagte Unland dazu einmal. „Dazu gehören auch unliebsame Entscheidungen.“
Der neue Finanzminister Matthias Haß machte jetzt die Kassen auf – und stellte 150 Proberichter ein. Ehemalige Anwälte oder Absolventen direkt aus dem Hörsaal, die mit befristeten Verträgen die Lücken in den Gerichten stopfen sollen.
Jurastudenten sind die härtesten Richter
Die Folge der vielen neuen Richtereinstellungen war, dass nun auch Jura-Absolventen mit schlechteren Noten auf einen Job beim Gericht hoffen konnten. Galt früher die Regel, dass nur ein vollbefriedigendes Staatsexamen, also mindestens neun Punkte, für den Staatsdienst qualifizierten, reichten nun auch schon acht oder sieben Punkte. In Thüringen konnte man zwischenzeitlich sogar mit 6,5 Punkten Richter werden.
Aber ist das ein Grund zur Sorge? Sind schlechtere Studenten auch schlechtere Richter?
„Im Staatsexamen wird abgeprüft, was für Kenntnisse jemand hat“, sagt Schade. „Und wer dort wenig leistet, der bringt eben auch nicht viele Kenntnisse mit ans Gericht.“ Es gibt aber noch einen anderen, viel besorgniserregenderen Grund, und dieser hat mit einer Zahl zu tun.
Mit dieser Zahl wurde jetzt der Kriminologie-Professor Franz Streng berühmt, sie lautet: 26,5 Prozent. So viele seiner Jura-Studenten sprachen sich aus, die Todesstrafe wieder einzuführen. Aber von vorn. Streng wollte in einer Studie mit seinen Studenten zeigen, dass diese völlig anders urteilen als berufstätige Richter. Und so legte der Erlanger Juraprofessor seinen Studenten seit nun schon 40 Jahren Urteile vor, und lässt sie Entscheidungen bewerten. Er fragt ab, ob sie diesen oder jenen Fall anders bewertet hätten. Im Prinzip fragt er sie, was sie für gerecht halten.
Und dabei hat Streng zwei Dinge festgestellt, die ihn erstaunten: Junge Menschen bestrafen härter, als es an deutschen Gerichten praktiziert wird. Und sie bestrafen Jahr für Jahr immer härter.
„Wie würden Sie einen Totschlag im Affekt bestrafen?“, so lautet eine Frage, die Streng seit 1995 seinen Studenten stellt. Fünf Jahre und zehn Monate lautete damals noch die Antwort. Heute: Neun Jahre und fünf Monate. Die lebenslange Freiheitsstrafe wollten 1977 noch 35 Prozent abschaffen, weil sie es „unmenschlich“ fanden – heute wollen das nur noch 1,6 Prozent. Und dann ist da die vielleicht bemerkenswerteste Zahl: 26,5 Prozent. Das ist der Anteil an Studenten, der bei Strengs letzter Befragung die Wiedereinführung der Todesstrafe befürwortete. Jeder vierte befragte Student. Mehr als doppelt so viele wie 1995.
Streng findet seine Ergebnisse „beunruhigend“. Er vermutet hinter den gestiegenen Zahlen die Tatsache, dass man sich in Zeiten von weltweitem Terror bedrohter fühle, als es früher der Fall war. Und das, obwohl es in Deutschland in den letzten fünfzehn Jahren zwölf Prozent weniger Straftaten gab als zuvor.
Urteilen in Sachsen also demnächst lauter Knallhart-Richter? Denen mangels älterer Kollegen der Realitätsbezug abhandengekommen ist?
„Die Mischung der Generationen macht es aus“
Dagegen könnte zumindest ein neues Gesetz helfen, das als dritter und letzter Versuch durchgehen könnte, gegen die Personalnot an sächsischen Gerichten anzugehen. Seit einigen Jahren versucht man in Sachsen, den Altersschnitt zu entzerren, also eine höhere Durchmischung zu erreichen. Helfen soll das neue Gesetz, das es Richtern erlaubt, früher in den Ruhestand zu gehen. Damit nicht alle Richter auf einmal in Pension gehen.
Die Regelung hält auch Richter Schade aus Bautzen für einen guten Versuch, die sächsischen Gerichte zu retten. Die Qualität eines Richters mache heute – neben einem soliden Staatsexamen – eben auch „die Mischung der Generationen aus“, sagt Schade. „Viele Dinge werden erst plastisch, wenn man sie angewendet hat, vieles erschließt sich nicht im Studium, sondern man muss es sich bei älteren Kollegen abgucken.“ Er selbst will mit 66 in Pension gehen – immerhin.
Aber was, wenn alle Versuche fehlschlagen? Wenn Sachsen in einigen Jahren die Richter ausgehen? Erst 2016 musste man in Dresden einen Tschetschenen mit Mafia-Verbindungen aus der U-Haft entlassen, obwohl man ihm längst Drogenhandel und Schutzgelderpressung nachgewiesen hatte. Es fehlte nur ein Richter, um den Prozess zu Ende zu bringen.
Und auch im Leipziger Fall um die marodierenden Hooligans, die bewaffnet einen ganzen Stadtteil verwüsteten, verfuhr man schließlich, wie es womöglich öfter passieren könnte: Man machte kurzen Prozess. Schlicht, weil keine brauchbaren Zeugen zur Verfügung standen.
„Ich wüsste nicht“, sagte Amtsrichter Pirk noch vor der Beweisaufnahme des zweiten Prozesstages, „was heute grundsätzlich Neues kommen könnte.“ Na, möchte man entgegnen, hoffentlich ein paar neue Richter.
Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Sebastian Esser