„Jetzt iss halt erstmal”, sagt der Rinner Erwin zum Artmann Daniel, „reden kannst dann immer noch.” Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her, die schweren, braunen Hände liegen auf der moosgrünen Tischdecke. An den Wänden hängen Jagdtrophäen, durchs Fenster scheint das Kaisergebirge in der Oktobersonne, dahinter ist schon Tirol. Wir sind beim politischen Frühschoppen in der ehemaligen königlich bayerischen Poststation in Kiefersfelden, einem Luftkurort mit 6.800 Einwohnern und 700 Fremdenbetten.
Artmann ist Stadtrat in Rosenheim, eine halbe Stunde nördlich von hier, kandidiert für den Landtag und ist einer der „jungen Wilden” der CSU, mit Undercut, Dreiwochenbart und Trachtenjacke, ein Befürworter der Homo-Ehe. Der Rinner Erwin ist Altbürgermeister von Kiefersfelden, auch CSU, er trägt ein kariertes Hemd mit Hirschhornknöpfen, eine Lodenjoppe und Haferlschuh, akkurat gestutzten schneeweißen Schnauzer. Sitzungen des Gemeinderates endeten bei ihm immer mit dem Satz: „Gott schütze unser Kiefersfelden.”
„Meine Generation musste nicht politisch sein”, sagt der 30-jährige Artmann. Er steht an einem Tischende, am anderen steht ein lebensgroßes Bild von ihm. „Für uns ist alles wie von selbst gelaufen. Wir sind so gesättigt, dass uns unser Wohlstand gar nicht mehr bewusst ist. Aber jetzt leben wir in schwierigen Zeiten, es ist Krieg in der Ukraine, Donald Trump ist Präsident der USA, die Briten haben Europa den Rücken zugekehrt. Unsere Generation muss sich jetzt einbringen, auch wenn wir es nicht gewohnt sind. Ich will, dass mein kleiner Leopold einmal die gleichen Chancen im Leben hat wie ich.”
Der Rinner Erwin, Altbürgermeister von Kiefersfelden, dreht sich zu mir um und sagt leise: „Meine Großeltern sind zu Hause gestorben. Meine Eltern sind zu Hause gestorben. Und so wirds auch bei mir einmal sein.” Nur, für die Generation von Artmann und mir, sorgt er sich, da wird es schwierig mit dem Sterben dahoam. „Weil heute können sich die jungen Leute bald gar kein Eigentum mehr leisten.”
Vor uns, in einer weißen Schüssel mit dem Wappen des Freistaat Bayern, schwimmen die Weißwürscht vom weiter referierenden Artmann Daniel im nicht mehr dampfenden Sud, stehen Weißbiergläser, süßer Senf in kleinen Töpfchen, ein Sträußchen blauer Herbstblumen, liegen angebissene Brezn und abgestreifte Wursthäute auf weißem Porzellan, und aus der Schankstube nebenan grollen lustige Vokale aus breiten Brustkästen. Ja Servus! So geht Wahlkampf in der Heimat der CSU.
Die Christlich-Soziale Union ist die Schwesterpartei der CDU und tritt nur in Bayern zur Wahl an. Sie ist die einzige Regionalpartei Deutschlands, die in der Bundesregierung vertreten ist, und hat ungefähr so viele Mitglieder wie die FDP und die Grünen in ganz Deutschland zusammen. Die CSU stellt seit 1954 ununterbrochen die Landesregierung und das zwischen 1970 und 2003 mit einer absoluten Mehrheit der Wählerstimmen.
„Es ist ein verheerender Fehler zu denken, dass Patriotismus ein Steigbügelhalter des Nationalismus ist.“
Jürgen Grimm, Professor an der Universität Wien
Ich habe mich gefragt, wie es zu der einzigartigen Sonderrolle der CSU gekommen ist, die so weit geht, dass Bayern als einziges Bundesland nicht einmal das Grundgesetz ratifizierte und in der aktuellen Bundesregierung trotzdem vier Minister stellt, die fünf ostdeutschen Bundesländer zusammen hingegen nur einen. Und ich wollte wissen, was das alles mit dem überdurchschnittlichen Wohlstand und dem berüchtigten Lokalpatriotismus, dem „Mia san mia”-Gefühl der Bayern zu tun hat.
Dafür habe ich den deutlich weniger urigen Wahlkampf von Ministerpräsident Markus Söder besucht, war mit Nachwuchspolitikern auf dem Oktoberfest und habe einen zu unrecht vergessenen, faszinierenden Vordenker der modernen sozialen Marktwirtschaft entdeckt.
Von allen Parteien, die ich in meinem Zusammenhang Wen wählen? porträtiert habe, hat mich die CSU am meisten überrascht.
„Du musst wieder nach Rosenheim? Komm, ich nehm dich mit”, sagt Artmann nach dem Frühschoppen. Er wirft die übriggeblieben Flyer, Kugelschreiber und Wahlwerbezitronenbonbons in den nagelneuen weißen Kleintransporter, auf dem sein Konterfei, Listenplatz und CSU-Logo geklebt sind. Er dreht den Zündschlüssel rum und zeigt auf den Kilometerstand: „7.631 Kilometer in zwei Monaten Wahlkampf!”
Artmann kandidiert auf dem Listenplatz 9 für den Landtag. „Bei den Wahlergebnissen von früher hätte das locker gereicht für mich”, sagt er. Aber bei den Umfragewerten von heute wird es wohl eher nichts. 33 Prozent der Bayern wollen laut ARD-Deutschlandtrend am kommenden Sonntag für die CSU stimmen. Das sind Krisen, von denen andere träumen.
Der CSU-Nachwuchs
Keine Partei in Deutschland hat auch nur annähernd so viele Mitglieder im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Nur mal zum Vergleich: Die Junge Union Oberbayern, deren Vorsitzender Artmann ist, hat 6.500 Mitglieder. So viele hat die SPD in ganz Sachsen und Thüringen zusammen. „Wir sind die erfolgreichste Volkspartei Europas”, sagte Markus Söder tags zuvor in Rosenheim. Söder spricht zwar im Zusammenhang mit Bayern und der CSU ausschließlich in Superlativen, in diesem Fall hat er aber wohl recht.
Und auch, wenn es für Artmann bei dieser Wahl nicht klappen sollte mit dem Landtagsmandat – er ist auf dem besten Weg in höhere Ämter. Seine Ehefrau ist Lokalpolitikerin in der Nachbargemeinde. Als die beiden heirateten, hat die CSU-Oberbürgermeisterin von Rosenheim sie persönlich getraut, der CSU-Kreisvorsitzende und Landtagsabgeordnete, dessen Mitarbeiterin Artmanns Ehefrau gewesen ist, war Trauzeuge. Artmanns jüngerer Bruder ist ebenfalls in der Jungen Union aktiv und managt dessen Facebook-Auftritt. Und selbst die Freundin des jüngeren Artmann macht bei der Jungen Union mit, beim Auftritt von Markus Söder in Rosenheim standen sie beide mit einem „Söder-Team”-T-Shirt und einem „Ja zu Bayern!”-Plakat mit auf der Bühne.
Quereinsteiger in den politischen Betrieb mag es in anderen Parteien geben. Bei der CSU klettert man noch Stufe für Stufe die Leiter hoch. Und dann zählt, wer sich über die Jahre die besten Netzwerke aufgebaut hat. Das gilt auch für Überflieger wie den Söder Markus, der im März mit 51 Jahren zwar jüngster Ministerpräsident Bayerns geworden ist. Der aber an der Basis – meist hinter vorgehaltener Hand – einiges an Spott dafür einstecken musste, weil ihm selbst das noch nicht schnell genug ging.
„Schau, das ist der Wilde Kaiser”, sagt Artmann während wir Richtung Autobahn fahren und zeigt auf ein Gebirgsmassiv, um das sich weiße Wölkchen schmiegen wie der Schnauzer vom Altbürgermeister, „wir leben wirklich, wo andere Urlaub machen.” Von hier aus kann man sogar das Thema Autobahnmaut verstehen, wenn man will. Denn durch Kiefersfelden rollen eine Menge Autos und Lkw, deren Fahrer sich die Maut in Österreich sparen wollen. Für die betroffenen Oberbayern ist das ungerecht: Die anderen sparen, und sie haben die Last. Die CSU hat es geschafft, aus diesem lokalen Thema eine bundesdeutsche Debatte (und ein europäisches Dilemma) zu machen. Das muss man neidlos mal anerkennen: Für die Bayern ist es ein Glück, eine so starke Regionalpartei zu haben.
Der August Bebel der CSU
Wie bei der CDU ist es schwierig, sich nur auf ein Datum oder einen Ort für die Gründung der CSU festzulegen. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg begannen sich auf lokaler Ebene mehrere christlich-konservative Gruppierungen in Bayern parallel zu gründen. In ihnen engagierten sich vor allem Menschen aus zwei Gruppen: ehemalige Mitglieder der 1870 gegründeten katholischen Zentrumspartei sowie Mitglieder der 1920 gegründeten Bayerischen Volkspartei.
Die Zentrumspartei gibt es bis heute, mit ihren rund 600 Mitgliedern spielt sie aber keine Rolle mehr. Was die neuen Christsozialen programmatisch von ihr unterschied, war vor allem die interkonfessionelle Ausrichtung. Mit der Bayernpartei existiert bis heute auch noch ein Nachfolger der Bayerischen Volkspartei. Diese ist mit 6.300 Mitgliedern sogar größer als zum Beispiel die Linke oder die AfD in Bayern. Von ihr unterschieden sich die modernen Christsozialen vor allem in ihrer stärkeren Verwurzelung in der Arbeiterklasse.
Die konservativere und separatistischere Bayernpartei war nach dem Zweiten Weltkrieg ein ernsthafter Konkurrent der CSU, sie gewann zahlreiche Regionalwahlen und zog 1949 sogar mit 17 Mandaten in den Bundestag ein. Danach verschwand sie aber schnell in der Versenkung, und das hatte weniger mit ihr selbst, als mit der ersten großen Intrige der CSU zu tun, der sogenannten Spielbankenaffäre. Aber zu den Skandalen der CSU komme ich nochmal gesondert, denn auch hier ist die Partei einzigartig in Deutschland.
Zunächst einmal zurück in die Gründungszeit, denn hier gibt es einen wichtigen Vordenker unserer modernen sozialen Marktwirtschaft zu entdecken: Adam Stegerwald.
Stegerwald war einer der bedeutendsten Politiker und Gewerkschafter im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In seinem Lebenslauf und seinem Denken gibt es große Parallelen sowohl zum „Arbeiterkaiser” der Sozialdemokraten, August Bebel, als auch zum ersten Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer.
Stegerwald wurde 1874 als Sohn eines Kleinbauern in Greußenheim bei Würzburg geboren, eines von sieben Geschwistern in einer der ärmsten Gegenden des Reichs. In Greußenheim steht auch das Elternhaus von Helmut Kohls Vater, der Stegerwald als politisches Vorbild nannte. Nach einer Schreinerlehre ging Stegerwald erst auf Wanderschaft, dann zum Studium nach Köln. Er stieg bis zum preußischen Minister für Volkswohlfahrt auf. Als seine größte Leistung gilt der Aufbau der christlichen Gewerkschaften, zu deren direkten Nachfolgern zum Beispiel der heutige Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) mit seinen rund sechs Millionen Mitgliedern zählt. In dieser Zeit bekam er den Beinamen „Arbeiterführer” verliehen.
Neu und wegweisend waren seine Ideen in zweierlei Hinsicht: Zum einen, weil seine Gewerkschaft nicht nach Konfessionen unterscheiden sollte. Zum anderen, weil sie weder unter dem Einfluss der Kirche noch unter dem Einfluss einer Partei stehen sollte (wohin gegen die „Freien Gewerkschaften“ stark von der SPD beeinflusst waren). Warum das gar nicht so banal ist, wie es heute vielleicht klingt, beschreibt der Historiker Bernhard Forster:
„Nach einer Definition des Sozialwissenschaftlers Lothar Roos machen drei Elemente den sozialen Rechtsstaat aus: Der Gedanke der Einheitsgewerkschaft, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft und schließlich die Existenz einer christlichsozialen bzw. demokratischen Volkspartei in Abkehr von den Klassen- und Interessenparteien der Weimarer Republik. All diese drei Erfolgsfaktoren der Bundesrepublik hat Stegerwald wesentlich mit vorbereitet.”
In seinem „Essener Programm” hatte Stegerwald schon 1920 die wesentlichen programmatischen Grundlagen für die spätere CDU/CSU gelegt. Wie groß seine Nähe zu den Sozialdemokraten dabei war, zeigt auch eine seiner Reden aus den Haushaltsberatungen im Reichstag 1927, als er sagte: „Meine politischen Freunde wollen keinen gesellschaftspolitischen Zustand wie in England und Amerika, in denen es nur Großwirtschaft und Proletariat gibt, wir wünschen vielmehr einen Zustand, der es ermöglicht, dass möglichst viele von unten in die Mittelschicht hineinwachsen können. Wir streben auf eine Entproletarisierung der Arbeiter hin und können daher keine Proletarisierung des Mittelstandes wollen.“
Während der Herrschaft der Nationalsozialisten war Stegerwald dann aber abgemeldet. Er hatte mit Hitler koalieren wollen, um noch irgendwie Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen zu können, und wurde dann aus dem öffentlichen Leben verbannt. Wie Adenauer zog er sich in ein Kloster zurück.
1945 setzten ihn die Amerikaner als Regierungspräsident von Unterfranken ein. Kurz vor seinem Tod hielt er in Würzburg vor rund 400 Studenten eine Rede, die so einflussreich war, dass sie von einigen CSU-Chronisten als eigentliches Gründungsdatum der Partei gilt. Dort sagte er: „Demokratie ist kameradschaftlicher Verkehr von Mensch zu Mensch. Demokratie ist Bekämpfung der Ichsucht, Demokratie ist Bekämpfung des Einzelegoismus und der Gruppenegoismen. Demokratie ist, individuelle Freiheit und Gemeinschaft bewusst gleich zu vermitteln. Demokratie in dieser Hinsicht hat viel gemein mit den Grundsätzen des Christentums.“
Vielleicht fragst du dich jetzt zurecht, warum denn der Stegerwald Adam heute so unbekannt ist, wenn er doch so wichtig war für die CSU und Bayern? Die Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben. Und in einer entscheidenden Frage unterlag Stegerwalds Würzburger Kreis dem dominanteren „Münchner Kreis” der Christsozialen: Er war strikt gegen einen „bayerischen Sonderweg” in der neuen Bundesrepublik.
Warum Bayern Nein zum Grundgesetz sagte
Bevor wir zurück in die söderige Gegenwart kommen, lass uns noch kurz zusammen in eine der dramatischsten Sitzungen des bayerischen Landtages hineinlauschen, in die frühen Morgenstunden des 20. Mai 1949. Die Abgeordneten hatten gerade mehrheitlich – und auf Empfehlung der CSU-geführten Staatsregierung – nach 14-stündiger Debatte ihre Zustimmung zum Grundgesetz der Bundesrepublik verweigert. Beim Deutschlandfunk ist ein Transkript dieses erstaunlichen Streites zu finden, der nebenbei gesagt auch recht unterhaltsam ist. Zumindest, wenn man Politiknerd ist. Aber wenn du bis hier gelesen hast, dann hoffe ich, macht dir das so viel Spaß wie mir (wenn nicht, einfach weiter scrollen zu den Intrigen und Skandalen):
Carljörg Lacherbauer (CSU): „Die Länder sind nicht die Kinder des Bundes, sondern der Bund ist das Gebilde der Länder. Die Länder übertragen Rechte auf den Bund, und nicht umgekehrt.”
Thomas Dehler (FDP): „Da unterscheiden wir uns grundsätzlich, Herr Kollege Lacherbauer!”
Lacherbauer: „Dann folgen Sie eben unitarischer Konzeption, Herr Kollege Dehler!”
Dehler: „Nein, dagegen verwahre ich mich!”
Lacherbauer: „Der Bundesstaat entsteht durch Zusammenschluss von Einzelstaaten.”
Wilhelm Korff (FDP): „Deutschland braucht nicht mehr zu entstehen; Deutschland ist!”
Lacherbauer: „Mein lieber Herr Kollege Korff, Sie sind nach meiner Meinung von der Idee des Jahres 1933 staatspolitisch zu sehr infiziert!”
Korff: „Deutschland ist das Höhere, das besteht!”
Joseph Baumgartner (Bayernpartei): „Das Reich existiert doch gar nicht mehr!”
(Tumult)
Nicht nur zu zentralistisch, sondern auch zu wenig christlich ist der CSU das Grundgesetz geraten, unter anderem, weil es Konfessionsschulen nun nicht mehr geben durfte. Es sei „ein Werk des säkularisierten Geistes unseres Jahrhunderts“, sagte der katholische Prälat und CSU-Abgeordnete Meixner damals.
Das alles ist umso erstaunlicher, weil das Grundgesetz in vielen Teilen auch die Handschrift der CSU trägt. Die 149 Artikel umfassende Vorlage für das Verfassungswerk, das 1949 in Bonn beschlossen wurde, war nämlich zuvor bei einem Konvent am Herrenchiemsee unter dem Vorsitz des Chefs der bayerischen Staatskanzlei, Anton Pfeiffer, erarbeitet worden.
Man muss dazu vielleicht noch wissen: Die Ablehnung des Grundgesetzes durch Bayern hatte keine Konsequenzen, und das wusste die CSU auch. Denn zuvor hatten bereits so viele Bundesländer zugestimmt, dass die nötige Zweidrittelmehrheit erreicht worden war. Gut gebrüllt, Löwe!, könnte man sagen. Man kann aber auch finden, dass die Bayern in der föderalen Hofpause mal wieder den Schulschläger gespielt haben (siehe Autobahnmaut).
Der absolute Meister in diesem Spiel hieß natürlich Franz Josef Strauß, die Urgewalt aus Bayern, zwölf Jahre Bundesminister in verschiedenen Ressorts, zehn Jahre bayerischer Ministerpräsident.
Er verwandelte das Agrarland in einen Hochtechnologiestandort. Mit brachialem Geschick und teilweise unlauteren Methoden (siehe Affären und Intrigen) sorgte er dafür, dass aus einem der ärmsten Bundesländer – erst Ende der 1980er-Jahre erreichte Bayern die durchschnittliche Wirtschaftskraft der BRD – das reichste wurde. Unter anderem, indem er Rüstungs-, Auto- und Luftfahrtindustrie massiv subventionierte, aber auch durch den Bau des Münchner Flughafens und hohen Investitionen in Bildung und Forschung. Das gelang auch, weil er Bayern zum einzigen Bundesland mit eigenem Außenminister machte (sich selbst natürlich). Das gelang aber auch nur, weil das Bayern, das laut Ministerpräsident Söder heute den faulen Rest Deutschlands finanziert, von 1950 bis 1987 selbst ein Nehmerland des Bundesfinanzausgleichs gewesen ist.
Affären und Intrigen der CSU, eine Auswahl
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Spielbankenaffäre: So ganz genau wissen wahrscheinlich nur die Beteiligten, was passiert ist. Fakt ist: es ging um Ungereimtheiten bei der Vergabe von privaten Konzessionen für Spielbanken in Bayern Mitte der 50er-Jahre. Mitglieder von CSU und Bayernpartei trafen sich bald vor Gericht. Am Ende gab es „drakonische Strafen“ und den politischen Bedeutungsverlust für die einen. Und die anderen regieren seither ununterbrochen.
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Starfighter-Skandal: 1958 entscheidet CSU-Verteidigungsminister Strauß, die Luftwaffe mit dem Starfighter F 104 des US-Konzerns Lockheed auszurüsten. Die Firma wird von seinem guten Freund Ernest Hauser in Deutschland repräsentiert. Am Prototyp ist die Farbe noch gar nicht trocken, da hat Strauß schon 700 Maschinen geordert. Bis 1984 verunglücken damit 116 Piloten tödlich.
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Spiegel-Affäre: 1962 berichtete Der Spiegel über Mängel bei der Bundeswehr. Pech für das Nachrichtenmagazin: Verteidigungsminister war damals Franz Josef Strauß. Die Journalisten wurden wegen Landesverrats festgenommen, Strauß lügt im Bundestag und muss zurücktreten.
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„Onkel Aloys”: Und Strauß zum Dritten. Man kennt das. Die Frau hat einen Onkel, der ist in der Rüstungsindustrie und irgendwie läufts so gar nicht. Aber zufällig ist man ja Verteidigungsminister. Man tut was man kann. Der Aloys wird bald Millionär. Vergelt’s Gott.
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Otto Wiesheu: Solche Karrieren gibt es wohl nur in der CSU. Der Generalsekretär der Partei fuhr 1983 mit 1,99 Promille Alkohol im Blut einen Polen auf der Autobahn tot. Er erhielt eine Bewährungsstrafe von zwölf Monaten und wurde zehn Jahre später: Verkehrsminister. Wiesheu war auch ein Vorreiter beim Thema unlauterer Wechsel von der Politik in die Wirtschaft. Erst verhinderte er erfolgreich, dass die Bahn Konkurrenz bekommt. Direkt im Anschluss wird er Vorstand der DB AG.
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Amigo-Affäre: Für seinen Schulfreund Burkhart Grob machte sich der bayerische Ministerpräsident Max Streibl gerne krumm. Er besorgte dem Luft- und Raumfahrtunternehmer für Parteispenden und Privaturlaube gute Aufträge und Fördermittel von Vater Staat. 1993 muss er zurücktreten.
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Verwandtenaffäre: Nicht zu verwechseln mit der Amigo-Affäre, obwohl ab und zu auch so bezeichnet. Diesmal ist das Geld wenigstens in der Familie geblieben. 2013 stellte sich heraus, dass insgesamt 79 bayerische Abgeordnete ihre Ehefrauen oder enge Verwandte auf Staatskosten beschäftigten (mal mehr, mal weniger). Bei 56 Abgeordneten handelte es sich um CSU-Mitglieder. Platz 2 ging an die SPD mit 21 Abgeordneten.
Söder-Wahlkampf
Zurück in die Gegenwart. Markus Söder, Bayerns jüngster Ministerpräsident, ist zum Wahlkampf nach Rosenheim gereist. Der große Saal im Kultur- und Kongresszentrum ist brechend voll. Bei der Einbruchschutzmesse nebenan ist hingegen tote Hose. Söder redet jetzt seit mehr als einer Stunde und in der dunklen Halle wird die Luft immer knapper und wärmer und übelriechender.
Bisher hat Söder sich ausführlich über die Grünen („Verbotspartei“), die Linken („Chaoten“), die AfD („haben einen Schuss“), Berlin und Bremen („Clans haben ganze Stadtteile übernommen“), die FDP („Angst zu regieren“), die SPD („Wer einmal ein Zwerg ist, wird kein Riese mehr“), die Wahlplakate seiner Stellvertreterin Ilse Aigner („Unglaublich, was man mit Photoshop alles machen kann“) und Baden-Württemberg („Seit Schwarz-Grün gehts steil bergab“) lustig gemacht und so oft gesagt, dass Bayern das schönste Land der Welt ist, dass es Deutschland nur wegen Bayern so gutgeht, dass in den anderen Ländern „goar nix funktioniert, wenn‘s net mir Bayern bauen“, dass die anderen Länder sich „goar net über Wasser halten kennten, schickten die Bayern nicht Millionen und Milliarden jedes Jahr“ (mehr oder weniger freiwillig), und dass man „in Deutschland den Bayern dafür au mol a bissl dankbarer sein kennt“, ja, dass man die Bayern doch nicht immer so belächeln soll – dass ich jetzt mal auf Pause drücke am Aufnahmegerät und zum Atmen ins Foyer gehe. Wo ich direkt auf zwei Punks zulaufe.
Er gelber Iro, sie blaue Haare, stehen sie aufeinandergestützt kuschelnd vor der Saaltür und hören Söder zu. „Söder sagt immer, er ist kein Populist. Aber er macht die ganze Zeit Stimmung gegen andere“, sagt der junge Mann mit dem gelben Iro.
Er und seine Freundin kommen gerade aus München zurück, wo sie mit rund 15.000 anderen Menschen gegen die Regierung Söder und für Umweltschutz demonstriert haben. „Mia ham‘s satt“ heißt die Bewegung, in der sich rund 80 Verbände und Gruppen zusammengeschlossen haben. Mehr möchten die beiden – „Bitte nicht falsch verstehen“ – nicht sagen, auch nicht mit Namen genannt oder fotografiert werden. Sie wüssten ja nicht, ob ich nicht für „irgendwas Rechtes“ arbeite. Seid ihr Punks, frage ich. Er: „Nee, der Iro ist nur ein modisches Statement. Ich bin Softwareentwickler.“ Wie ist es bei dir, fragt er seine Freundin. „Doch, ich würde mich schon als Punk bezeichnen“, sagt sie. Von Beruf ist sie onkologische Fachschwester.
Als die Türen vom Kultur- und Kongresszentrum Rosenheim zugehen für diesen Abend, schlüpft das Pärchen nochmal kurz ins Foyer und lässt sich vom Hausmeister vier Flaschen „Söder Water“ in die Hand drücken.
Oktoberfest
München, letzter Tag Oktoberfest. 50 Shades of Dirndl. Asiaten, Afrikaner, Araber, Amerikaner in Tracht. Leute von hier, Leute von überall stehen auf Bierbänken und singen besoffen wie Strandhaubitzen im Takt der Blasmusik. Ich wollte nie aufs Oktoberfest, Massenbesäufnisse sind so überhaupt nicht mein Fall. Aber da ich nun einmal hier bin, lasse ich mich treiben und muss an etwas denken, was ich kürzlich bei einem Workshop an der Uni Halle hörte. Dort ging es um die Neuen Rechten und wie Journalisten damit umgehen sollten. Und Jürgen Grimm, Professor für Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Uni Wien sagte: „Es ist ein verheerender Fehler zu denken, dass Patriotismus ein Steigbügelhalter des Nationalismus ist.” Es sei im Gegenteil eine „Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft”.
Die CSU mag vielen zu konservativ sein, Söder sehr hart am Populismus kratzen, und die allgemeine Vertrachtung Bayerns bezeichnen selbst einige CSU-Mitglieder als „Brauchtumsmissbrauch” – aber Fakt ist auch: In Bayern steht die AfD in der Wahlprognose momentan bei 14 Prozent, deutlich unter dem bundesdeutschen Schnitt. Fakt ist: Söder, der Reden hält wie Ronaldo Freistöße schießt, trifft ins Schwarze, wenn er über die AfD spricht, die „ihre bürgerliche Maske längst abgestreift” habe und von Rechtsextremen geführt werde, mit denen sich jede Zusammenarbeit verbiete. So klar äußert sich beileibe nicht jeder Ministerpräsident, der im historischen Umfragetief dümpelt.
Fakt ist auch: Mit neun Milliarden Euro hat Bayern nach eigenen Angaben bisher viermal mehr in die Aufnahme, Unterbringung und Integration von Geflüchteten gesteckt als das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen.
In der 60.000 Einwohner zählenden Stadt Rosenheim sind wegen der Nähe zu Österreich auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise zwischen 2.000 und 3.000 Menschen täglich angekommen, sagt Daniel Artmann und zeigt auf einen Kiesparkplatz vor dem Bahnhof. Dort haben damals die Notunterkünfte gestanden, heute sieht es wieder aus, als wäre nie was passiert. „Bei uns musste niemand auf der Straße schlafen”, sagt der 30-Jährige stolz, dessen Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg aus Lettland und dem Sudentenland flüchten mussten.
Ich frage Artmann, was ihn denn ausgerechnet zur CSU getrieben hat. „Edmund Stoiber”, sagt er sofort, und selbst unter Einfluss mehrerer Maß Bier werden mir das später noch mehrere Mitglieder der JU fast wortgleich erzählen: Stoiber habe die Fähigkeit gehabt, Politik nicht nur verständlich zu machen, „auch wenn er sich mal verhaspelt hat”, so Artmann, sondern der einzigartigen Verbindung zwischen Moderne und Tradition in Bayern einen Slogan zu verpassen, der ähnlich identitätsstiftend war wie Klaus Wowereits „Arm aber sexy” für Berlin: „Laptop und Lederhose.” Söders Variante lautet im Übrigen: „Reich aber sexy.” Dafür gab es auch in Rosenheim nur sehr zaghaften Applaus.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherbild: Christian Gesellmann); Schlussredaktion: Vera Fröhlich.