Da dieses Interview sehr ausführlich ist, haben wir es aufgeteilt.
Den zweiten Teil findest du hier: „Ich kann einem fremden Menschen nicht am Telefon erzählen, dass er jetzt mal sein Leben in die Hand nehmen soll“.
Marie Mertens hatte sich bei mir gemeldet nachdem ich mit dem arbeitslosen Peter gesprochen hatte. Der hatte kritisiert, dass deutsche Beamte keine Ahnung davon hätten, was es wirklich bedeutet, um seine Existenz kämpfen zu müssen. Marie glaubt, dass sie das sehr gut weiß. Weil sie jeden Tag Menschen begegnet, die kämpfen – und weil sie aus einer Familie kommt, die selbst kämpfen musste.
Ich habe das Interview anonymisiert, damit Marie frei sprechen kann. Normalerweise ist es unmöglich, einen so ehrlichen Einblick in die Arbeit eines deutschen Sozialamts zu bekommen. Die Pressesprecher der Ämter verhindern das.
Marie, ich habe noch nie von jemandem gehört, der Geld von einem Amt haben wollte, und hinterher gesagt hat: Das war wirklich angenehm.
Das hört man nicht. Das passiert aber auch. Nur melden die sich dann nicht bei unserem Vorgesetzten. In kein Online-Forum schreibt jemand, wie super die Sachbearbeiterinnen doch sind. Aber natürlich machen wir dauernd Dinge, die nicht super sind. Wir sagen oft Nein, weil wir es sagen müssen.
Wie sieht ein typischer Tag bei dir aus?
Ich habe eine 41-Stunden-Woche, bin verbeamtet. Die Kollegen, die nur angestellt sind, haben eine 39-Stunden-Woche. In unserem Landkreis gibt es drei Regionen. Und so haben wir drei Teams gebildet. In meinem Team arbeiten – nun ja …
Wir sind eigentlich acht Leute. Aber bei uns ist einer jetzt seit mehr als elf Monaten krank. Der andere Kollege ist gerade seit sieben Wochen wegen einer Sportverletzung ausgefallen. Und zwei sind im Urlaub. Wir haben zwar letzte Woche einen neuen Kollegen bekommen, der kann aber halt noch gar nichts. Also sind wir jetzt faktisch vier, und ich bin auch noch früher gegangen heute. Weil ich habe ja auch noch ein Leben, nicht? Wir haben auch Kollegen mit Kindern und allen Einschränkungen, die man da so kennt.
Wir haben zwar Telefonsprechzeiten, an die wir gebunden sind, aber insgesamt Gleitzeit, das heißt, wir können uns das gut einteilen. Nur stehen ständig Leute vor der Tür, ohne dass sie angemeldet waren. Stehen einfach da und sagen: „Ich habe kein Geld.“ Und du wolltest gerade einen wichtigen Bescheid schreiben. Ich komme morgens gerne früh, gegen sechs, halb sieben. Dann mache ich die ganzen Sachen, bei denen ich mich wirklich konzentrieren muss, denn zu dieser Zeit ist noch niemand da.
Wobei musst du dich „wirklich“ konzentrieren?
Ich habe „Fälle“. Aber jeder Fall ist das Leben eines Menschen. In diesen Leben passieren manchmal Dinge gleichzeitig. Und ich muss das abbilden in Euro oder in Familienkonstellationen.
Zum Beispiel: Da ist einer, der hat eine Frau und die haben drei Kinder und das vierte ist jetzt gekommen. Dann ist da also ein viertes Kind eingezogen. Das verändert die Art und Weise, wie ich die Mietkosten auf die Personen aufteilen muss. Dann hat sich sein Krankenkassenbeitrag geändert. Und dann ist noch die Nebenkostenabrechnung mit einer Nachforderung gekommen. Manchmal dauert es eine dreiviertel Stunde, bis der Computer das frisst. Das Computerprogramm ist eine Katastrophe.
Dann muss ich darüber noch Bescheide machen und einen Brief schreiben, indem das alles erklärt wird. Das muss so sein, dass es ein Richter theoretisch noch verstehen kann. Denn wir schreiben die Bescheide ja nicht für den Menschen, der das Geld bekommt. Der versteht kein Wort davon, das ist Beamtendeutsch.
Diskutiert ihr darüber, dass die Leute gar nicht verstehen, was ihr denen da schickt?
Es gibt diese Diskussion in zwei Richtungen. Die eine ist die: Die meisten Leute machen diesen Brief auf, gucken auf den Betrag und legen es weg, die interessiert gar nicht, wie das zustande kommt. Das ist natürlich durchaus problematisch, wenn die sich nur den Betrag angucken und sagen: Naja, dann ist es so. Manche sind von ihrer Vorbildung oder auch den Sprachkenntnissen vielleicht gar nicht in der Lage, das zu verstehen, und würden es sich sowieso nicht trauen, Widerspruch einzulegen.
Dann gibt es die andere Seite, und damit ist man häufig konfrontiert, wenn die Leute anrufen und sagen: „Ich habe den Bescheid bekommen. Ich hab da mal eine Frage.“ Manche Leute rufen auch an und sagen: „Du Geld schicken falsch.“ Ich weiß zum Glück oft, was gemeint ist. Dann versuche ich, das zu erklären. Und meine Kollegen versuchen das auch. Alle hängen am Telefon und sagen: “Verstehen Sie? Nein, Sie müssen … Hören Sie mir doch mal kurz zu.” Und die Leute sind völlig aufgebracht, weil sie denken, wir machen schon wieder was falsch. Aber es geht ja auch manchmal um ihre blanke Existenz: Wenn du auf einmal 20 Euro weniger bekommst, das ist deine Medikamentenzuzahlung.
Lass uns doch mal ein bisschen strukturieren: Wie viele Menschen betreust du insgesamt?
Ich habe 300 Fälle.
Ist das viel oder wenig?
Die meisten Behörden haben diese Fallzahl. Aber die Empfehlungen sagen, dass es nicht mehr als 220 sein sollten.
Was sind typischerweise Menschen, die zu dir kommen?
Bei uns wohnen viele Menschen zur Miete und haben fast keine Renteneinnahmen. Oft kamen sie irgendwann mal nach Deutschland und haben hier nicht so lang sozialversicherungspflichtig gearbeitet. Oder halt in Jobs, in denen man keinerlei Renteneinnahmen generiert. Nach meinem Eindruck gibt es da aber leichte Überrepräsentanzen. Es sind vor allem Frauen, Deutsche wie ausländische. Und die Selbstständigen. Bei einer afghanischen Frau hängt es zum Beispiel daran, dass sie keinen Rentenanspruch hat, weder hier noch in Afghanistan. Die hat nie gearbeitet, die hat fünf, sechs Kinder. Wenn ihr Mann verstirbt, dann landet die bei uns, falls die Kinder sie nicht unterstützen können.
Ich bekomme bestimmt zehn Neuanträge in der Woche, und ich mache vertretungsweise auch noch andere mit. Und von diesen zehn Neuanträgen sind in der Regel zwei, die nicht mal einen Hauptschulabschluss haben. Nichts gelernt, nichts gemacht und vielleicht noch ein Alkoholproblem. Dann sind da zwei Anträge von Leuten, die mal selbstständig waren mit etwas, wovon man nicht überleben kann, wenn man nicht wirklich gut ist. Künstler zum Beispiel. Aber die meisten sind tatsächlich Menschen, die nicht am Erwerbsleben teilnehmen können und noch nicht im Rentenalter sind. Menschen mit einer Krankheit zum Beispiel. Diese „Erkrankungsbedingten“ machen 75 Prozent unserer Fälle aus.
Wer sind die „Erkrankungsbedingten“?
Leute, die mit 50 einfach totgearbeitet sind. Oder eine Krebserkrankung haben und danach keine Möglichkeit mehr zurückzukommen. Und psychische Erkrankungen. Da gibt es einmal die depressive Seite und die mit den Psychosen, die dann teilweise auch schwierig im Umgang sind. Die Depressiven sind nicht so schwierig, die melden sich nämlich nie. Das klingt zynisch, aber man muss ja irgendwie damit umgehen, was den ganzen Tag so ist.
Jeder, der arbeitet, kennt diesen „Zynismus“.
Im Team werfen wir uns manchmal nur so Blicke zu. Und dann heißt es: „Ja, Frau G. steht wieder unten.“ Ist ja nicht so, dass wir sie diese Woche nicht schon drei Mal gesehen hätten. Was uns die Arbeit etwas erleichtert: Wir haben wenig Leute mit „Eigenheimproblematik“.
Hört sich an, wie eine ärztliche Diagnose.
Das Problem ist: Wir müssen die Kosten der Unterkunft komplett berechnen. Wenn du nur zur Miete wohnst, dann sagt dein Vermieter: Ich will 300 Euro plus 100 Euro Nebenkosten. Wenn du ein Eigenheim hast, geht es darum: Muss hier tatsächlich ein Austausch der Fenster erfolgen, um das Gebäude in seiner Substanz zu erhalten? Und kriegen die da einen Kredit für? Und das ist unter Umständen Aufgabe des Sozialamts …
… aber wie könnt ihr denn so etwas wissen?
Wir können das gar nicht wissen, das ist es ja. Das landet trotzdem bei uns auf dem Tisch. Weißt du, was ich machen muss, wenn ich herausfinden will, ob ein Auto als Vermögen oberhalb des Schonvermögens gilt? Dann gehe ich zu Autoscout24 und gebe die Eckdaten ein, die ich habe. Und wenn es drüber liegt, lehne ich ab wegen Vermögen. Und wenn die dann kommt mit einem Gutachten von einem Kfz-Sachverständigen, den sie vielleicht kennt oder sowas, dann muss ich das nehmen. Ich kann das nicht beurteilen. Da sind Grenzen gesetzt, wenn du an diese Grenzen stößt, dann denkst du dir: Ach kommt, lasst uns doch jedem tausend Euro geben und gut ist.
Aber bei medizinischen Fragen arbeiten wir mit dem Amtsarzt zusammen. Wir bekommen Gutachten, die wir auch lesen dürfen. Das ist nicht so optimal. Denn es ist eigentlich nicht notwendig, dass ich weiß, warum der- oder diejenige erwerbsunfähig ist.
Du kannst also gar nicht jeden Einzelfall prüfen?
Wenn ich jemanden frage: Haben Sie in den letzten zehn Jahren Vermögen auf ihre Verwandten übertragen? Dann sagt er Nein. Nun, ich könnte das Amtsgericht fragen. Aber da nimmt keiner ab, die sind Oberkante Unterlippe unterwegs in solchen Sachen. Wenn jemand irgendwelche Erbansprüche aus einem Testament hat, kriege ich das eigentlich nur durch Zufall raus. Manchmal aber auch, weil der Nachbar einen Brief schreibt.
Wirklich?
Ja. Das passiert öfter.
Was steht da drin?
„Die Frau B. verarscht euch, da müsst ihr mal gucken.“ Das wird wirklich so geschrieben. „Die hat nämlich ihre Eigentumswohnung verkauft und wohnt jetzt in Saus und Braus und bildet sich was ein und lädt alle Leute zum Essen ein.“ Und dann denkst du dir: Okay, dich hat sie wohl nicht eingeladen!
Aber die Frau A. hat mir alle Unterlagen geschickt. Sie wollte das gar nicht vor mir verschleiern. Die hat mir auch einen Mietvertrag für die Wohnung geschickt, die ja eigentlich ihre eigene ist. Und ich habe dann mal blöd nachgefragt, warum es einen Mietvertrag gibt, obwohl es ihre eigene ist. Und sie dann so: „Ach ja, die habe ich verkauft.“ Ich frage sie, wo das Geld geblieben ist. Sie: „Das musste ich meinen Kindern zurückgeben, weil das hatte ich mir von denen geliehen.“ „Aha, von jedem deiner Kinder hattest du dir 15.378,93 Euro geliehen? Von jedem deiner Kinder genau gleich viel?“ Die Frau A. ist jetzt auch nicht gerade Sherlock Holmes. Die muss doch wissen, dass das offensichtlicher Beschiss ist, was sie da macht. Aber ist ja gut, andere Leute machen es geschickter, das kriegst du nicht raus.
Was ist die eine Sache, die Leute immer missverstehen über deinen Beruf?
Dass die Leute vom Amt alle Beamte sind. In H. arbeiten vielleicht noch zwei Beamte in der Stadtverwaltung, alle anderen sind Angestellte. Und das mit den Privilegien: Natürlich haben Leute, die für eine Behörde arbeiten, regelmäßige Arbeitszeiten, können leichter Elternzeit nehmen, weil da kein Chef rumstresst wie in einem mittelständischen Unternehmen. Aber es ist ja eigentlich auch gut so, dass es solche Arbeitsplätze gibt. Wir sind deswegen aber nicht alle solche faulen Flunsen, und das Klischee des Beamten ist halt auch ein bisschen … Ich war früher in einem anderen Bereich tätig, in dem ich oft abends Dienst hatte. Wenn ich um elf nach Hause kam, sagte mein Opa zu mir: „Was machst du denn? Bist du auf der Tastatur eingeschlafen?“ Das war natürlich als Witz gemeint, aber das denken schon alle: Ah, die arbeitet auf dem Amt. Auf der Arbeit fällt uns manchmal ein, dass wir vor zwei Stunden aufs Klo wollten und es nicht geschafft haben, weil so viel los war.
Und was missverstehen die Leute, die zu dir kommen?
Was ich am häufigsten sagen muss in Konfliktsituationen: „Ich unterstelle Ihnen doch gar nichts.“ Dieses: „Nein, ich sage nicht, dass Sie Rente aus dem Ausland beziehen, und es hat mir auch niemand gesagt, sie würden das tun. Ich muss das jeden fragen.“ Das ist fast schon eine Überschrift für dieses Interview: „Ich muss das wirklich jeden fragen.“
„Der geschiedene Ehemann, hat der Unterhalt gezahlt?“ Antwort: „Ja, was meinen Sie denn?“ Die Leute werden wütend und erzählen dir ihr Leben. Ich versuche, sie zu beruhigen: „Entschuldige, ich muss das jeden fragen. Woher soll ich das denn wissen?“
Trotzdem überschreitest du mit deinen Fragen eine Grenze.
Ja, das mache ich. Zum Beispiel muss ich fragen, wie viele Kinder man hat. Dann kommt zurück: „Was geht Sie das an? Die sind alle schon groß.“ Die haben sofort Angst, dass ich im nächsten Moment von den Kindern Geld haben will, weil die Mama jetzt Sozialhilfe kriegt. Aber das will ich gar nicht. Das ist nicht der Grund meiner Frage. Der Grund ist: Ich muss in meiner Akte dokumentieren, dass keines dieser Kinder Pilot bei der Lufthansa ist, 100.000 Euro verdient und damit die Mutter unterstützen müsste.
Aber das heißt, du willst doch Geld von denen.
Ob und in welchem Umfang Kinder herangezogen werden, unterscheidet sich je nachdem, um welche Leistungsart es geht. Es geht aber auch darum, wenn du in keiner gesetzlichen Krankenkasse bist, dann ist die Anzahl der Kinder unter Umständen entscheidend, weil man dann im Rahmen einer Nachprüfung doch noch in die Krankenkasse aufgenommen werden kann. Deswegen frage ich das, eigentlich ist es Serviceleistung.
Erklärst du so etwas dann?
Das kommt auf mein Gegenüber an. Manchen Leuten kannst du es nicht erklären, die wollen sich an dir abarbeiten. Die schreien dich an. „Endlich erreiche ich Sie mal, seit Wochen versuche ich das.“ Und dann antwortest du: „Ich war hier, ich arbeite acht Stunden am Tag, da hatten Sie wohl kein Glück.“ Unsere Telefonanlage gibt leider auch kein Besetztzeichen, wenn gerade telefoniert wird. Die klingelt einfach durch.
Da sieht man als Anrufer direkt die leeren Flure vor dem inneren Auge. Die Kaffeemaschine blubbert verlassen vor sich hin.
Ja genau: Die sitzen da und trinken Kaffee. Und auf einmal kommst du dann doch telefonisch durch und dann hast du natürlich so eine Krawatte. Das kann ich ja auch verstehen. Das sage ich denen dann auch. Manche Kollegen sind in so etwas nicht so gut, aber ich würde sagen, dass ich schon extrem gut darin bin. Ich schaffe es meistens, dass die Leute am Ende sagen: „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag! Ich rufe wieder an.“
Hattest du zwei große Brüder, bei denen du das immer machen musstest, oder wie?
Nee, aber ich komme aus einer großen, lauten Familie. Empathie ist da lebensnotwendig. Ich bin natürlich auch nicht auf den Mund gefallen. Ich bin zwischen Leuten, die vom Amt gelebt haben, aufgewachsen, in so einem sozialen Brennpunkt. Wo du weißt, wie das ist, wenn die Leute sagen: „Ja, das klappt nicht, und die wollen mir das nicht bezahlen.“ Ich sage dann immer den Leuten, dass sie ihren Bundestagsabgeordneten kontaktieren sollen. Schreiben Sie einen Brief, aber nicht an den Landrat, der kann da auch nichts machen. Schreiben Sie meinetwegen der Frau Merkel, dass es ungerecht ist, dass das Nebenkostenguthaben immer abgezogen wird. Macht das bitte. Das ist zwingend notwendig, dass Ihr Euch äußert. Aber ich kann nichts ändern.
Wie hört sich das an, wenn jemand Leute, die zu euch kommen, von oben herab behandelt?
„Reichen Sie das mal schriftlich ein. Da kann ich jetzt nicht mit ihnen drüber diskutieren.“
So eine Antwort liegt in der Hälfte der Fälle daran, dass jemand einfach in diesem Job nicht richtig ist. In der anderen Hälfte liegt es aber auch daran, dass zum Beispiel die Jobcenter, die ja ähnliche Aufgaben wahrnehmen wie wir, nur eben für die Arbeitslosen, vermehrt Juristen einstellen, die nach dem Studium nicht gleich Fuß gefasst haben. Ich meine, du brauchst kein Jurist sein, um das zu machen, was ich mache. Das ist Quatsch. Ich habe ein Abitur gemacht, ich komme klar. Dann noch die Verwaltungsausbildung, klar. Aber ich kann auch einen Gesetzeskommentar lesen oder ein Urteil, das kriege ich hin.
Aber die setzen da Juristen hin, und gerade die bekommen keine Schulung. Weil das sind ja Juristen, die müssen das können. Dabei sind das völlig andere Teilbereiche, Leute, die Rechtswissenschaft studiert haben, und nicht gerade Sozialrecht.
Wir haben aber auch junge Menschen im Jobcenter, mit dem wir ja auch häufig Kontakt haben, die kommen gerade vom Studium, die sind einfach überfordert.
Inwiefern?
Vielen fehlt Fingerspitzengefühl. Die drohen gleich mit dem Sicherheitsdienst, wenn die Diskussion mal etwas energischer wird. Was soll man denn auch machen, wenn einem die Mama bis eben noch geholfen hat? In meinem Team gibt es zwei Leute, die schon 15 Jahre dabei sind. Da kommen immer noch Sachen, wo die sagen: Das habe ich noch nie erlebt.
Zum Beispiel?
Wir hatten einen, der ist durch ein Gerichtsverfahren zu Geld gekommen. Dadurch konnte er seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten und hat von uns nichts mehr bekommen. Ein Jahr später hat er aber einen neuen Antrag gestellt, weil das Geld weg war. So etwas kommt öfter vor. Wir müssen dann fragen, was er mit dem Geld gemacht hat. Wenn der in einem Monat 100.000 Euro verbraten hat, dann fragen wir: „Gut, das war jetzt Koks- und Nutten-Party oder was?“
In diesem speziellen Fall war es so, dass er in einem Zehn-Seiten-Brief uns das letzte Jahr seines Lebens nacherzählt hat. Wie er versucht hat, sich selbstständig zu machen. Also voll der lobenswerte Ansatz. Nur waren seine Ideen halt völliger Quatsch. Der hat mir alle möglichen Belege geben, von Maschinen und Reisekosten nach China zu einer Messe. Ich habe zwei Monate gebraucht, um abzugleichen, ob das hinkommen kann, was der uns erzählt, und am Ende habe ich geglaubt: Das war genau so. Der hat es nicht böse gemeint, der hat das Geld nicht verprasst.
Meine Vorgesetzten glauben ihm diese Geschichte nicht. Weswegen die ganze Sache jetzt vor Gericht hängt. Ich habe mit meiner Bereichsleitung um eine Pizza gewettet: Der Richter wird das so sehen wie ich.
Wie oft hast du Fälle, wo es eigentlich nur auf dein Bauchgefühl ankommt?
Letztens hatte ich einen Fall: Da kommen die Kontoauszüge eines Mannes zu uns, das ist normal, sah alles ganz unspektakulär aus. Dann sind da drei Einzahlungen von 100 Euro in drei Monaten. Da muss ich fragen: Was ist das, wo kommt das Geld her? Ist ja eine Einzahlung, hast du es auf der Straße gefunden, einen Jackpot geknackt? Es gibt ja tausend Erklärungen dafür. Unter Umständen würde ich es nämlich nicht mal anrechnen.
Dann ruft er mich an und sagt: „Aber das war doch ein Geschenk, ich wusste nicht, dass ich euch das sagen muss.“ Frage ich: „Was war das für ein Geschenk? Sie haben ja nicht drei Monate lang Geburtstag.“ „Das war von meine Kinner.“ Sage ich: „Schreiben Sie mir das mal auf, dann kann ich das prüfen.“
Ruft am nächsten Tag die Tochter an: „Sie haben gestern mit meinem Papa telefoniert. Das hört sich jetzt vielleicht ein bisschen komisch an, aber wir haben meinem Papa ein Geschenk gemacht. Er hat früher immer gerne gekocht. Und seit die Mama tot ist, kocht er nicht mehr. Und mit seiner kleinen Rente kann er sich bestimmte Dinge nicht mehr leisten. Seit die Mama tot ist, hat er auch Probleme mit Alkohol. Wir wollten ihm etwas Tolles tun und haben ihm das Geld aufgeteilt gegeben. Damit er sich ein richtig schönes Stück Hüftsteak holen kann.“
Also: Entweder die bescheißen mich, oder es ist so. Aber die Story ist so, ich glaube der das. Das klingt für mich, als könnte das so sein.
Ich habe vorhin nach Missverständnissen gefragt über eure Arbeit im Jobcenter. Welche Missverständnisse gibt es denn über deine Klienten?
Man sagt: Das sind „Asoziale“, also die RTL-II-Variante. Ich bin aber ja nicht im Jobcenter, sondern im Sozialamt. Da sehen viele auch nur die arme Omi vor sich, weil das jetzt mit der Altersarmut öfter in den Nachrichten kommt. Wenn sie kommen, fangen sie oft an: „Entschuldigen Sie, wenn ich störe.“ Ich sage dann immer: „Ich bekomme Geld dafür, wenn Sie mich stören. Also raus damit, was ist los.“ Ich muss die richtig aus der Reserve locken, die wollen eigentlich nicht erzählen, dass sie schon seit Langem auf dem Wasserschaden in dem Einfamilienhaus sitzen. Die wollen nicht betteln, nicht zum Amt gehen. Aber die arme Omi ist nur ein Teilbereich meines Klientels.
Das ist auch so ein schlimmes Wort. Aber ich sage so ungern Kunden, weil Kunden können sich ja eigentlich aussuchen, wo sie hingehen.
Man könnte auch sagen Bürger.
Ja, aber es sind ja nicht alles Bürger im Sinne des Grundgesetzes, Bürger mit vollem Wahlrecht und so. Da sind ja auch ausländische Staatsangehörige dabei, die sind Einwohner Deutschlands. Da macht man so Unterschiede, da wird man auch zum Wortklauber. Nee, die sind … also ich nenne die einfach immer Leute.
Gibt es Leute, die sich einfach nicht bei euch melden, obwohl sie es tun müssten?
Ja. Also manchmal habe ich Leute, man schwätzt so, die drucksen etwas herum, und ich bitte sie dann, einfach einen Antrag auszufüllen, und dann kommt dieser Antrag und dir wird klar: Dieser Mensch hat von 150 Euro im Monat gelebt. Wir reden von 150 Euro, die sie hat, wenn die Miete weg ist. Davon hat die noch GEZ und Strom bezahlt. Davon bleibt am Ende nichts übrig. Die ist ein Kämpfer-Kind.
So leben Leute in Deutschland, aus Scham. Oder auch aus dem Gefühl: Ich habe versagt und deshalb will ich keine Ansprüche stellen.
Das ist schon unvorstellbar, dass die Leute Hilfe nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie ihnen zusteht. Das sage ich manchmal dann auch: „Das steht Ihnen zu, schicken Sie mir das doch mal.“ Eine hatte einen Pflegedienst nur einmal die Woche kommen lassen, um sich waschen zu lassen. Sie hat halt versucht, auf dem Level zu bleiben, dass sie es gerade noch selber bezahlen konnte. Manche Leute gehen an ihre eigene Menschenwürde ran, obwohl genau dafür die Sozialhilfe da ist, für ein menschenwürdiges Leben.
Wobei: Die 416 Euro Regelsatz sind ja für einen Menschen Mitte 40 gedacht, der Satz wird ermittelt aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Das Absurde daran ist, bei dieser Stichprobe nehmen sie die Leute raus, die Sozialleistungen beziehen. Zugleich bleiben aber die drin, die „arm genug“ für Sozialleistungen wären aber keinen Antrag stellen. Und ermittelt wird dabei der Regelsatz fürs SGB II, „Hartz IV“, also einen durchschnittlichen ledigen Alleinstehenden im erwerbsfähigen Alter.
Das sind aber ja nicht die Leute, die ich betreue. Rentner etwa müssten eigentlich einen ganz anderen Regelsatz haben. Die müssen sich Teststreifen für ihr Akku-Check-Gerät holen. Oder das Rezept wird vom Arzt schon so ausgestellt, dass du was dazugeben musst. Wo sollen die Rentner das denn hernehmen? Und die Leute reichen das ein und ich muss Nein sagen.
Den zweiten Teil meines Interviews mit Marie könnt ihr in der nächsten Woche lesen.
Redaktion: Christian Gesellmann; Transkription: Christian von Stülpnagel, Mia Kruska. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Fotoredaktion: Martin Gommel (Aufmacherfoto: iStock / Anna_Isaeva).