In den letzten Monaten sind die Klagen über die Rückständigkeit Deutschlands in punkto Digital so stark angeschwollen, dass man meinen könnte, das Land wäre auf dem Weg zurück in die Steinzeit. Dem neuen „Digitalrat“ der Kanzlerin schlug harter Gegenwind entgegen, die Digitalministerin Dorothea Bär wurde erst einmal ausgiebig verspottet wegen Äußerungen zum Thema Flugtaxi, und nachdem jetzt auch noch seine Autobiografie erschien, gibt es endgültig keinen Kanal mehr, auf dem Frank Thelen („Die Höhle der Löwen“) nicht mahnt und poltert.
Aus Talkshows, Expertenkolumnen und Videoblogs bekommt man das Bild eines digital abgehängten, leicht vertrottelten deutschen Michels, der wieder und wieder vom schlauen Amerikaner (und neuerdings vom umtriebigen Chinesen) vorgeführt wird. Ein Bild des analogen Deutschen, der den Zug vor Jahren verpasst und es in seiner Bräsigkeit nicht einmal bemerkt hat. Man denke dagegen an Apple und Facebook oder sehe sich das Internetwunderland Estland an!
Und was macht er nicht alles falsch, der Michel! Er ist zu blöd für Breitband. Keine seiner Firmen befindet sich unter den zehn an der Börse wertvollsten Firmen. Er ist Google hilflos ausgeliefert, seine Autohersteller sind ewiggestrige, teils kriminelle E-Mobility-Dilettanten, und das Digitalverständnis seiner Politiker hört bei den Casio-Armbanduhren auf, die sie zur Konfirmation geschenkt bekamen.
Die Meckerer sind die Journalisten und die Berater
Weil diese Sicht der Dinge dem unbeteiligten Beobachter ziemlich die Stimmung – und die Zukunftsaussichten – verhageln kann, würde ich gerne ein paar Dinge zu bedenken geben. Deutschland ist digital nicht so weit hinten wie viele denken.
Zunächst: Der „dumm vs. klug“-Antagonismus, um den sich die Geschichte des analogen Deutschen rankt, wird von einer grundsätzlich falschen Arroganz getragen. Es stimmt: Die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft tut sich schwer mit dem digitalen Wandel – aber das völlig zu recht. Denn auch die Digital-Profis selbst – Start-ups, Gründer, VCs – tun sich damit schwer. Zwar gibt es seit etwa zehn Jahren eine Kodifizierung der Start-up-Lehre unter dem Schlagwort „Lean Start-up“ – ausprobieren statt planen, schnell mit knappen Mitteln Resultate erzielen.
Aber diese Lehre schützt selbst erfahrene Experten, Seriengründer und Serieninvestoren nicht davor, wieder und wieder falsch zu liegen und viel Geld zu verlieren. Selbst Unternehmer also, die alle Freiheiten haben und nicht Jahrzehnte gewachsene Firmenstrukturen berücksichtigen müssen, tasten sich nach dem „Trial & Error“-Prinzip voran. Auch die Stars des Silicon Valley tun das.
Entsprechend sind die, die den analogen Deutschen denunzieren, oft Berater und Journalisten, die selber nie gegründet haben. Wenn ein Experte den Finger in eine Wunde legt, die seine eigene Firma angeblich bestens verarzten kann, ist generell Vorsicht geboten. Erfahrene Gründer und Chefs von Start-ups sind mit solchen Äußerungen zurückhaltender, denn sie wissen: 90 Prozent aller Start-up-Gründungen sind nach vier Jahren vom Markt verschwunden. Da ist man lieber vorsichtig damit, sich in die Brust zu werfen.
Digitalisierung nützt nur, wenn es schon Produkte und Firmen gibt
Michael v. Roeder (49) zum Beispiel, CEO des Gebäudedigitalisierungs-Start-ups Sensorberg, der bei Vodafone und als CTO des Energiekonzerns Vattenfall auch reichlich Konzernerfahrung gesammelt hat, betont die „traditionelle Innovationskraft des deutschen Mittelstands, die zusammen mit dem Digitalwissen der Start-ups schon jetzt Produkte hervorbringt, die keinen Vergleich zu scheuen brauchen“. Und weiter: „Die Panikmache über den angeblich unverbesserlich-analogen Konservatismus der deutschen Wirtschaft teile ich überhaupt nicht.“ Das passt zu dem Umstand, dass auch eine preisgekrönte Digitalität nichts daran ändert, dass Estland pro Kopf bedeutend ärmer ist als Deutschland.
Denn Digitalisierung ist kein Wert an sich. Sie ist ein Werkzeug, mit dem man wettbewerbsfähige Produkte und Firmen wettbewerbsfähiger macht; dafür muss es diese Produkte und Firmen allerdings erst einmal geben. Aus diesem Zusammenhang nimmt auch Benjamin Thym (38), Gründer der Offerista Group, seinen Optimismus. Offerista macht digitales Handels-Marketing und ist gerade nach Österreich und Frankreich expandiert; im Rahmen dessen hat Thym viele europäische Märkte analysiert. „Die deutsche Industrie und der Handel sind sicher oft keine Early Adopter neuer Technologien. Aber wenn sie etwas angehen, zum Beispiel die Digitalisierung, dann in vielen Fällen mit beeindruckender Macht.“
Neue Unternehmen wie Uber, die von Anfang an Technologieprodukte anbieten, bekommen zwar 90 Prozent der Presse – aber nicht nur arbeiten 99 Prozent der Beschäftigten woanders, sondern man kann zumindest darüber diskutieren, wie hoch deren reale Wertschöpfung ist. Ein Besuch auf dem monumentalen BASF-Werksgelände in Ludwigshafen letzte Woche hat mich daran erinnert, dass diese Dinosaurier Dinge produzieren, die Eckpfeiler unserer Zivilisation sind. Was man von der Vermittlung von Fahrdienstleistungen möglicherweise nicht sagen kann. Dass der Börsenwert von Uber zwar fast so hoch wie der des Chemieriesen aus Ludwigshafen ist, der Umsatz aber nur ein Zehntel so groß, sollte man zumindest nicht völlig vergessen.
Die USA sind nicht der Standard, sondern eine Abweichung
Ohnehin ist die Fixierung auf den Vergleich mit Unternehmen aus den USA meiner Ansicht nach zweifelhaft. Natürlich ist es nicht falsch, Vorbilder dort zu suchen, wo viele der höchstbewerteten Internetunternehmen der Welt sitzen. Gänzlich falsch aber ist, so zu tun, als wäre die US-Digitalwirtschaft deswegen der Standard, den der analoge Deutsche nicht schafft, zu erreichen. In Wahrheit sind die USA eine extreme Abweichung, die in diesem Punkt vom Durchschnitt der entwickelten Welt so weit entfernt ist wie Nordkorea in die andere Richtung.
Ein wichtigerer Vergleich ist der mit ähnlich situierten Ländern. Und da steht Deutschland nicht schlecht da; es gibt Gründe, warum so viele Italiener, Spanier und Osteuropäer ihre Zukunft in der deutschen Start-up-Szene suchen. Es ist hier, im europäischen Umfeld, wo es untereinander viel zu lernen gibt darüber, was greifbar und machbar ist. Von der Zusammenarbeit der Stockholmer Hochschulen beim Thema Entrepreneurship über die schon genannte Digitalisierung von Verwaltung und öffentlichem Dienst im Baltikum bis zum Größenwahn der Pariser Start-up-Förderung: Überall gibt es Projekte, die in Deutschland anwendbar wären. Die hoch gepriesenen Vorbilder aus den USA und China dagegen sind nicht nur die Produkte genialischer Gründer, sondern auch eines Wirtschaftssystems, das sehr anders ist als das europäische.
Ohnehin – wer wieder und wieder die Paradebeispiele Amazon, Apple, Facebook aufwärmt, übersieht, dass die relevanten Wirtschaftszweige in Deutschland der Mittelstand und die exportierende Industrie sind und es hier keineswegs eine Dominanz von US-Unicorns gibt. Dass entsprechend über zwei Drittel der deutschen Start-ups im Bereich B2B/Industrie arbeiten, Tendenz steigend, wird gern verschwiegen.
Auf der anderen Seite unterrichte und unterstütze ich seit acht Jahren Firmen wie die Telekom, Bosch und BASF dabei, ihre Arbeitswelt unternehmerischer zu machen, und die Aufbruchstimmung ist enorm und unumkehrbar. Wir haben allen Grund, deswegen optimistisch zu sein – und es bleibt uns auch gar nichts anderes übrig, denn die Milliarden an privatem und fondsgebundenem Risikokapital, mit dem Amazon, Facebook oder Uber ihre Technologie bauen konnten, gibt es hier einfach nicht.
„Digitaler Wandel“ hat nichts mit Hard- und Software zu tun
Zuletzt: Das am lautesten öffentlich beweinte Problem ist der Breitbandausbau. Viele scheinen darin das einzige Kriterium zu sehen, nach dem Deutschland in Digitalisierungs-Rankings einzuordnen ist. Vielleicht, weil es jeder in seinem Wohnzimmer nachvollziehen kann: Modem war schlecht, DSL ist gut. Aber beim Thema „Digitaler Wandel“ geht es nicht um Hard- und Software, sondern um Arbeitsweisen. Den Gründer, der nicht gründet und lieber Sachbearbeiter bleibt, weil ihm in Deutschland das Internet zu langsam ist, gibt es nicht.
Digitalisierung von Prozessen und Produkten in der Wirtschaft scheitert aus vielen Gründen, aber „Breitband“ ist keiner davon. Ja, wir brauchen es, und es ist eine andauernde Blamage, dass sich so wenig rührt. Aber der Maßstab für die vielbeschworene Zukunftsfähigkeit ist es nicht. Die Maßstäbe sind andere und für alle Länder dieselben – Daten als Treibstoff, gut ausgebildete und interessierte Menschen, Infrastruktur, Geld und Unternehmergeist. Aber aus diesen Zutaten entstehen in Deutschland andere Dinge als in den USA und China. An diesen Dingen muss man arbeiten, anstelle ein europäisches Google oder ein deutsches Amazon zu fordern.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherfoto: iStock / mikkelwilliam).