Was Radfahren so gefährlich macht – Meine Straße, meine Vorfahrt

© Martin Gommel

Geld und Wirtschaft

Was Radfahren so gefährlich macht – Meine Straße, meine Vorfahrt

Früher war ich wohl das, was man einen „Kampfradler“ nennt. Dann habe ich mich selbst hinters Lenkrad eines Autos gesetzt. Seitdem halte ich an jeder roten Ampel. Aber meine Serie zeigt: Wenn wir Radfahren in Deutschland sicher machen wollen, reicht es nicht, nur an die Verantwortung des Einzelnen zu appellieren.

Profilbild von Christoph Dorner

Der schwarze Mercedes, dessen Kennzeichen mit den Ziffern 6666 endet, ist nur noch vier Meter hinter Jannis. Der schießt auf seinem Lastenrad an parkenden Autos vorbei, als er eine Lücke am rechten Straßenrand entdeckt. Gleich könnte er auf den Gehweg ausweichen, um sich vor seinem Verfolger zu retten. Dann knallt es.

Es ist ein Samstag im Oktober 2016, als im Berliner Stadtteil Tempelhof zwei Radfahrer mit einem Autofahrer aneinandergeraten, der sie mit wenig Sicherheitsabstand passiert. Es kommt zum Streit, es fallen Beleidigungen. Einer der Radfahrer soll schließlich auf die Windschutzscheibe des schwarzen Mercedes S-Klasse-Coupés gespuckt haben. Es ist die Ouvertüre für Jagdszenen zwischen ungleichen Gegnern.

Jannis, damals 30, ist jahrelang als Fahrradkurier durch Berlin gefahren. Er ist einer der Radfahrer, der andere ist sein Mitbewohner. Mehmet S. sitzt in dem Mercedes. Er ist Kfz-Mechaniker und Gutachter, ihm gehört ein Autohaus für Gebrauchtwagen ein paar Straßen weiter. Er wendet nach dem Streit und setzt den Radfahrern nach, beschimpft und bedrängt sie mit seinem 455 PS starken Sportwagen. „Ich rufe jetzt meine Söhne an und wir machen euch kalt“, soll S. den Radfahrern zugerufen haben. Tatsächlich taucht bald ein weiterer Kleinwagen mit zwei Insassen auf. Ein Mann steigt aus und versucht die Radfahrer zu schnappen, weshalb sie sich nach einer Verfolgungsjagd über mehrere hundert Meter an einer Kreuzung in Panik trennen.

Zeugen beschreiben später, wie Jannis in eine Straße einbiegt und von dem schwarzen Sportwagen verfolgt wird, ehe beide hinter einer Häuserwand verschwinden. Als Jannis seinen letzten Schulterblick macht, hat ihn der Mercedes beinahe eingeholt. Dann verlässt ihn seine Erinnerung.

Autofahrer und Radler – zwei Gruppen, die nur auf sich schauen

Wenn ich in Berlin ins Büro radle, dann ist das nicht bloß eine 3,6 Kilometer lange Strecke vom Stadtteil Neukölln nach Kreuzberg, die über eine neue Fahrradstraße, eine zweispurige Straße mit holpriger Radspur sowie über neun Kreuzungen führt. Es ist eine Prüfung, wie gut unsere Gesellschaft auf den Straßen funktioniert.

Und mein Eindruck zu Beginn dieser Recherche ist: Sie funktioniert nicht gut. Täglich erlebe ich Autofahrer und Radfahrer, die um den begrenzten Raum kämpfen, den ihnen die Stadt lässt. Die einander schneiden, abdrängen, anhupen, anschreien. Die nur auf sich gucken: ihre Straße, ihre Vorfahrt. Die nur bremsen, wenn es gar nicht anders geht. Ich schaue auch irritiert auf mich selbst: Wie ich mich über das Fehlverhalten anderer aufregen kann und mich in der nächsten Situation selbst noch mit dem Rad bei Rot über die Kreuzung schummle. Ups. Dabei habe ich mich schon gebessert.

Ich kämpfe mit anderen Radfahrern und Autofahrern um den begrenzten Raum, den uns die Stadt lässt.

Ich kämpfe mit anderen Radfahrern und Autofahrern um den begrenzten Raum, den uns die Stadt lässt.

Es ist nicht einfach zu bestimmen, was auf unseren Straßen los ist. Ist es ein Kleinkrieg? Oder „das Gemetzel des Guerilla-Krieges, das wir euphemistisch Verkehr nennen?“ So drückte es der Soziologe Helmut Schelsky in den 1970er Jahren aus. Auf unseren Straßen geht es um individuelle Freiheit, um Politik. Und zu oft um Leben oder Tod. Denn der Verkehr ist durch technische Innovationen seit Jahrzehnten zwar immer sicherer geworden. Aber nur für eine Gruppe: Autofahrer. Die Zahl der getöteten und schwerverletzten Radfahrer ist in den letzten paar Jahren kaum gesunken. Und die technischen Schutzmaßnahmen, die Leben retten, sind in erster Linie in den Autos für die Fahrer verbaut – der Schutz von Radlern spielt keine Rolle.

Der Verkehr ist vor allem in den wachsenden Städten dichter geworden. Der Fahrradboom sorgt für immer vollere Wege. In einer repräsentativen Umfrage für die Berliner Zeitung gaben Ende Juni 2018 insgesamt 84 Prozent der Radfahrer an, sich im Verkehr der Hauptstadt nicht sicher zu fühlen. Ich gehöre auch zu diesen 84 Prozent, die im Grunde ein jedes Mal froh sind, wenn sie heil an ihrem Ziel angekommen sind.

7.700 Radfahrunfälle allein in Berlin – die Polizei arbeitet langsam

Jannis, der Radfahrer, muss von hinten gerammt worden sein. Von einem Auto mit etwa 50 Stundenkilometer. Das hält der Sachverständige im schweren Anzug für plausibel, als ich an einem Donnerstagnachmittag im Juli den Prozess am Amtsgericht Tiergarten, Saal 2115, besuche. Jannis muss nach der Kollision mit Wucht auf die Motorhaube des Autos geschleudert worden sein, ehe er auf die Straße knallte. Was genau passierte, weiß er nicht mehr. Erst im Krankenwagen fällt ihm das Kennzeichen des Autos wieder ein. Mit schweren Kopfverletzungen – offener Schädelbruch, Schädelbasisbruch, Schädelhirntrauma – landet er auf der Intensivstation. Am Ende wird Mehmet S. freigesprochen. „Ihnen ist ein großes Unrecht geschehen“, sagt der Richter in seiner Urteilsbegründung zu Jannis. Auch er ist der Meinung, dass der Radfahrer bestimmt nicht von sich aus gestürzt ist. Doch es fehlen Zeugen und Beweise für eine vorsätzliche Tat des Autohändlers. Jannis muss die Kosten des Verfahrens tragen, während Mehmet S. eine Entschädigung für den vorsorglichen Entzug seiner Fahrerlaubnis erhalten wird.

Mehmet S. hatte zwar einen Krankenwagen gerufen. Aber als die Polizei eintrifft, ist der schwarze Mercedes verschwunden, der zweite Wagen mit seinen zwei Insassen ebenfalls. Der Autohändler behauptet, dass Jannis von sich aus gestürzt sei. Und obwohl die Verformungen an Jannis Lastenrad auf eine Auffahrkollision hindeuten, das sagt vor Gericht auch der Polizist, der als erster am Unfallort ankommt, wird nicht in Richtung eines absichtlich herbeigeführten Unfalls ermittelt. Das hieße: Schwerer Eingriff in den Straßenverkehr plus gefährliche Körperverletzung. Dafür hätte Mehmet S. bei einer Verurteilung mehrere Jahre ins Gefängnis gemusst. Aber die Polizei arbeitet langsam.

Sein Mercedes wird erst gar nicht sichergestellt. Auch das beschädigte Fahrrad will sich der Kriminalhauptkommissar nicht ansehen, ihm reichen ein paar Fotos. Als Beamte nach der ersten Befragung von Jannis den Sportwagen fast drei Wochen später doch noch begutachten, steht er frisch gewaschen und poliert im Autohaus von Mehmet S.. Ob und wann das Auto repariert wurde, habe er nicht mehr beweisen können, sagt der Sachverständige. Es sei seine Pflicht, darauf hinzuweisen, dass S. auch einfach das Nummernschild des Wagens getauscht haben könnte, sagt der Gutachter.

Die Autos mussten sich nach dem Krieg die Straßen mit Schwärmen von Fahrrädern teilen

Es ist ein extremer Fall aus dem Berliner Straßenverkehr. Was kann ich aus ihm lernen? Dass ich mich als Radfahrer besser nicht mit den Macho-Typen in den Oberklasse-Limousinen anlege? Dass wir uns neben dem Grundgesetz wenigstens auf Paragraf 1 der Straßenverkehrsordnung verständigen sollten? „Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder, mehr als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“ Zwischen Radfahrern und Autofahrern liegt einiges im Argen. Wie können wir es verbessern?

Deutschland ist kein fahrradfreundliches Land. Es ist ein Autoland. Hier wurden der Ottomotor, das erste Automobil und die Autobahn als Raser-Mythos erfunden. Hier wurden Filme wie „Manta, Manta“ und „Superstau“ gedreht und Dieselfahrzeuge mit einer Abgasmanipulationssoftware ausgerüstet. Jeder siebte Arbeitsplatz im Land hänge direkt oder indirekt an der Autoindustrie, rechnete die Branche jahrelang vor – und Politiker und Medien wiederholten die Zahl so lange, bis sie sich als statistische Augenwischerei herausstellte. Die milliardenschwere Industrie hatte sich mächtiger gerechnet, als sie es ohnehin ist.

Dabei waren einmal die Radfahrer deutlich in der Überzahl. Bis in die 1950er Jahre war das Zweirad das wichtigste Verkehrsmittel. Die wenigen Automobile, die es nach dem Zweiten Weltkrieg gab, mussten sich im Berufsverkehr der Städte mit Schwärmen von Radlern arrangieren. Allerdings wurde schon im Jahr 1934 in der „Reichs-Straßenverkehrsordnung“ bereits eine erste „Radwegebenutzungspflicht“ festgeschrieben. Nicht, um den kleinen Arbeiter zu schützen, wenn er auf dem Drahtesel zur Arbeit in die Fabrik fuhr, sondern um Platz für den motorisierten Verkehr zu schaffen.

In den 1970er Jahren wurde die Diskussion ideologisch

In den Wirtschaftswunderjahren entstand die „autogerechte Stadt“ mit mehrspurigen Stadtautobahnen, Umgehungsstraßen und Parkleitsystemen. Radfahrer und Fußgänger, häufig auf Gehwegen nur durch einen symbolischen Strich voneinander getrennt, sollten diesem als fortschrittlich empfundenen Verkehr möglichst wenig in die Quere kommen. Erst nachdem die Bundesregierung während der Ölkrise 1973 vier autofreie Sonntage verhängte, wurden die Schattenseiten dieser Wirtschafts- und Verkehrspolitik erstmals thematisiert: die Umweltbelastungen durch den Verkehr, aber auch die vielen Todesopfer.

Mehr als 21.000 Menschen, darunter 1.835 Radfahrer, starben im Jahr 1970 auf den Straßen der alten Bundesrepublik. Nacheinander führte die Regierung eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Landstraßen, eine Promillegrenze, die Anschnallpflicht und Verkehrsunterricht an Grundschulen ein. Schnell sanken die Unfallzahlen. Die Niederländer debattierten damals auch über ihren Verkehr, nur reagierten sie anders, ganzheitlicher. Sie reduzierten die Zahl der Autos in den Städten mit gezielten Investitionen. Es entstand ein Netz aus eingefärbten Radwegen, die so breit sind, dass zwei bis drei Radfahrer nebeneinander fahren können. Sie wurden mit ausreichend Abstand zur Straße angelegt und haben eigene Übergänge und radfreundliche Ampelschaltungen an den Kreuzungen. Radschnellwege, Fahrradbrücken und Fahrradparkhäuser mit integrierten Werkstätten folgten.

In Deutschland nahmen die Spannungen im Straßenverkehr zu. Die Umweltbewegung hatte zuvor gute Argumente gegen das Auto geliefert: Lärm, Schadstoffe, auch den Bewegungsmangel. Nun wollten viele Radfahrer ihre untergeordnete Rolle nicht mehr akzeptieren und drängten in den Verkehr. Ende der 1970er Jahre verdoppelte sich der Radverkehr innerhalb von zwei Jahren. Nun waren es längst nicht mehr nur die „Öko-Freaks“, die nur mit ihrer Muskelkraft unterwegs waren. Das Rad wurde vom Freizeitgerät zu einem alltäglichen Verkehrsmittel, zum Symbol politischer Ermächtigung und zu einem vielfach beworbenen Kulturgut.

Aber die deutschen Straßen blieben wie sie waren. Der Verteilungskonflikt um die Straßen war vorprogrammiert. In einer Spiegel-Geschichte aus dem Oktober 1985 wurden Radfahrer zu den eigentlichen „Verkehrsrowdies“ der Zeit erklärt. Es seien immer dieselben Verstöße, die auf das Konto der Radfahrer gingen, heißt es in dem Artikel: Verletzung der Vorfahrt, Benutzung der Fahrbahn in der falschen Richtung, Fehler beim Abbiegen, Missachtung des Rechtsfahrgebots. An jedem zweiten Unfall mit Radbeteiligung seien die Radfahrer selbst schuld, rechnete die Polizei vor, was zu einem Evergreen in der Auseinandersetzung zwischen Auto und Rad werden sollte. Vor allem die Jungen seien „umweltfreundlich, aber umwegfeindlich“, schimpfte Berlins damaliger Polizeidirektor. Damit war auch der Ton in einer Debatte gesetzt, die sich ideologisch aufladen sollte: Das Gefühl, den Autofahrern moralisch überlegen zu sein, weil Fahrräder eben gut für das Klima sind, ermächtige ihre Halter zum fortwährenden Regelbruch.

In der Grundschule noch der Ehrenwimpel der Verkehrswacht – und heute ein „Verkehrsrowdy“?

Von all diesen Konflikten konnte ich nichts wissen, als ich knapp neun Jahre später, im Sommer 1988, in der Einfahrt unseres Einfamilienhauses das Radfahren lernte. Nach hunderten Runden auf meinem gelben Kinderfahrrad löste mein Vater die Stützräder und etwas wackelig und mit einigen Stürzen begann meine Verkehrskarriere.

Als ich zwei Jahrzehnte später nach Berlin zog, wurde in der ersten Woche mein Mountain-Bike aus einem Hinterhof in Friedrichshain gestohlen. Ich hatte zwar einen Führerschein, aber wie die meisten jungen Leute in der Hauptstadt kein eigenes Auto. Das Hauptverkehrsmittel meiner Wahl wurde aber ein rostendes Herrenrad mit lila Stahlrahmen. Damit rauschte ich mit fliehenden Haaren und schweißnassem Rücken durch die Stadt. Ich fuhr über rote Ampeln, erst probeweise, um zu sehen, ob ich mich ertappt oder gar schuldig fühlte. Tat ich nicht, machten ja eh alle. Das war zumindest meine Wahrnehmung. Ich hörte Musik unter dicken Kopfhörern, während der Asphalt unter mir dahinschoss, war alkoholisiert oder anderweitig benebelt, wenn ich aus den Clubs der Stadt nach Hause fuhr.

Auch wenn ich "benebelt" war ... ich war "fast and furious" unterwegs

Auch wenn ich “benebelt” war … ich war “fast and furious” unterwegs

Ich war unterwegs wie ein Höllenjockey: Das Vorder- und das Rücklicht meines Fahrrads waren kaputt. Ich hatte keine Klingel, abgenutzte Bremsbeläge und abgefahrene Reifen. Ständig sprang die Kette ab, auch wenn ich gerade Kreuzungen überquerte. Ich musste dann mit den Füßen über den Asphalt paddeln wie ein Schwan auf dem Wasser, kurz vor dem Abflug. Einen Helm trug ich natürlich auch nicht. Der verstaubte unter meinem Bett. Nach dem Verkehrsunterricht in der Grundschule hatte ich noch den blau-weißen Ehrenwimpel der Verkehrswacht bekommen, weil ich im Theorieteil und der Fahrradprüfung ohne Fehler geblieben war. Nun brach ich ständig Regeln der Straßenverkehrsordnung. Ich trat zwar keine Spiegel von feindlichen Autos ab und spuckte auch nicht auf Windschutzscheiben. Aber ich fuhr „fast and furious“. Ich fühlte ich mich wendig, anonym, meiner Umwelt überlegen. Hatte die Stadt einen dieser Kampfradler aus mir gemacht, auf die der damalige Bundesverkehrsminister von der CSU, Peter Ramsauer, ständig schimpfte?

Erst Jahre später sollte ich ob meines Fahrstils doch noch ins Grübeln kommen. Und zwar in einem Auto. Ich war ein paar Mal abends mit meinem gebrauchten Peugeot durch Berlin gefahren, den ich mir mittlerweile gekauft hatte, und darüber erschrocken, wie viele Radfahrer ohne Licht und ohne Gedanken an den gefährlichen Autoverkehr unterwegs waren. So, als wollten sie mich mit meinem Peugeot zu aktiver Sterbehilfe bewegen. Dieser Perspektivwechsel hatte mich demütig gemacht. Ich machte mein Fahrrad nach und nach verkehrssicher. Mittlerweile halte ich wieder an roten Ampeln – und lasse die anderen fahren.

Appelle an den Einzelnen helfen nicht – es braucht eine andere Verkehrsplanung

Verkehrspsychologen haben festgestellt, dass es dieser fehlende Rollenwechsel ist, der häufig zu Spannungen im Straßenverkehr führt. Nun benutzen viele Menschen zwar Rad und Auto. Mit dem Verkehrsmittel wechseln sie jedoch auch elegant ihr Rechtsempfinden. Dieses schizophrene Verhalten kann so weit gehen, dass ich mich auf dem Fahrradsattel fürchterlich über rücksichtslose Autofahrer ärgere – und dann kurze Zeit später hinter dem Steuer des eigenen Autos über übermütige Radfahrer schimpfe. Immer sind es die anderen, die im Weg sind. Es ist ein Konflikt, der sich mit gegenseitiger Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen auflösen ließe, sagen Verkehrspsychologen.

Weil das in einer Leistungsgesellschaft, in der viele nur auf ihr eigenes Vorwärtskommen schauen, aber nur ein frommer Wunsch ist, braucht es eine andere Verkehrsplanung und damit eine andere Politik von Bund bis zu den Kommunen.

Es liegt an Unfällen wie jenem an einem Mittwoch im Juni, dass sich Radfahrer auf den Straßen nicht sicher fühlen. Es ist halb acht Uhr morgens, als im Berliner Stadtteil Spandau eine 39 Jahre alte Mutter ihren achtjährigen Sohn mit dem Rad zur Schule bringt. Sie fahren auf einem Radweg, der durch einen Zaun von der Fahrbahn getrennt ist. Als sie an einer Kreuzung bei Rot anhalten, kommt neben ihnen, leicht nach hinten versetzt, auch ein weißer Mercedes-Lkw an der Halteline zum Stehen. Nachdem die Radfahrer-Ampel auf Grün springt, tritt zuerst das Kind auf seinem Fahrrad in die Pedale. Wahrscheinlich ist Mutter und Kind die Gefährlichkeit der Situation nicht bewusst, weil sie nicht wissen, was Lkw-Fahrer vom Steuer aus alles nicht sehen können.

Sekundenbruchteile später muss der 59-jährige Fahrer den Abbiegevorgang eingeleitet haben. Er tritt sanft aufs Gaspedal, greift ins Lenkrad. Vermutlich hat er auch den Blinker gesetzt und in die rechten Außenspiegel gesehen. Doch den kleinen Radfahrer unterhalb seines Führerhauses nimmt er nicht wahr, vielleicht auch wegen des Zauns, der die Sicht auf das fahrende Kind verdeckt hat. Es ist nur ein Moment der Unachtsamkeit, ein Augenblicksversagen – der Junge hat keine Chance. Er wird von dem Lkw erfasst, stirbt noch an der Unfallstelle. Und die Mutter muss zusehen. Ein Fernsehbericht zeigt, wie ein grünes Kinderfahrrad unter der Vorderachse des Lastwagens eingeklemmt ist.

Allein zwischen 30 und 40 Radfahrer sind deshalb zuletzt Jahr für Jahr gestorben: Kinder, junge Frauen, erfahrene Radler, Rentner. Nicht viel angesichts von etwas mehr als 3.200 Verkehrstoten im Jahr, könnte man meinen. Nur gibt es seit ein paar Jahren eine Technik, die solche Unfälle mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindern könnte. Berufskraftfahrer werden dabei über visuelle und akustische Signale vor Radfahrern im toten Winkel gewarnt. Nur sind elektronische Abbiegeassistenten bislang in die wenigsten Lastkraftwagen eingebaut, obwohl der öffentliche Druck über Jahre zugenommen hat. Das ist nicht nur ein Versäumnis der Industrie, sondern auch der Politik. Warum ging das nicht anders?


In der nächsten Folge beschreibe ich den Lobbykampf um die Abbiegeassistenten und treffe einen Mann, der nicht auf die Politik warten wollte, sondern seine eigene Technik entwickelt und in Lkw eingebaut hat.

Redaktion: Rico Grimm; Produktion: Vera Fröhlich; Fotos: Martin Gommel.