„Braunschweig“, fragt der Flixbusfahrer, „was ist da los? Liegt das an der Luft da oben bei euch?“ Er steht im Mittelgang, die Arme links und rechts auf die Sitze abgestützt, als wären es die Schultern alter Kumpels. „Nee die Braunschweiger, die muss ich jetzt mal ausdrücklich loben. Da sieht der Bus immer top aus. Die nehmen ihren Müll mit, die machen die Rückenlehne wieder gerade, die machen die Gardinen wieder auf. Ich sag immer: Ihr dürft gern im Bus essen, ihr dürft das, weil ihr euch benehmen könnt.“
Der Busfahrer heißt Rudi, ist „aus dem Osten, immer auf dem Posten“, und ich bin schon oft mit ihm gefahren. Rudi redet immer viel, und er nimmt’s auch nicht persönlich, wenn ihm niemand zuhört oder antwortet. Ich höre Rudi gern zu, er hat die Stimme eines Country-Sängers, er klingt wie Malzkaffee und Landstraße, und während der Fahrt telefoniert er oft und lang mit alten Freunden und ehemaligen Kollegen. „Andi, altes Kraftwerk! Mensch, wie geht es dir?“
Sie sprechen über die Härten des Berufskraftfahrerlebens, wann es das letzte Mal Urlaub gab, wer beschissen wurde, darüber, wer eine neue Freundin hat oder wessen Ex auf dem Strich gelandet ist, über die Krankheiten der Eltern und die Sorgen der Kinder, die richtigen Übungen für die Bandscheiben, über Sonnenbrillen und Mineralwasser. „Mensch, halt die Ohren steif, Andi! Und nicht nur die! Haha! Wir müssen uns endlich mal wieder treffen. Ich umarm dich Großer, Umarmung, Umarmung!“
Im Flixbus fährt immer ein bisschen Genugtuung mit
Ich fahre viel mit dem Flixbus durch Deutschland, das ist manchmal eine ganz schöne Tortur, oft auch sehr nett, und vor allem schont es das Spesenkonto. Oft liegen die Flixbuspreise ein Vielfaches unter dem, was die Bahn verlangt. Für die Strecke von Jena nach Berlin zum Beispiel zahle ich selbst bei ganz kurzfristigem Buchen in der Regel zwischen neun und zwölf Euro. Mit der Bahn hingegen mindestens 20 Euro – und das auch nur, wenn ich noch ein Sparticket erwische. Wenn nicht, kostet es mit der Bahn auch schnell mal über 50 Euro. Und dabei wäre ich lediglich 20 Minuten schneller in Berlin als mit dem Flixbus, müsste mindestens einmal Umsteigen und hätte kein WLAN an Bord.
Da fällt die Entscheidung zwischen Bahn und Bus nicht schwer. Zumal die Deutsche Bahn meinen Wohnort Jena – einen seit Jahren boomenden Hochschul- und Wirtschaftsstandort mit 110.000 Einwohnern – gerade von ihrem ICE-Netz abgekoppelt hat. Als der letzte reguläre Hochgeschwindigkeitszug vom Bahnhof Paradies abfuhr, legten Leute Blumen nieder. In meiner Heimatstadt Zwickau (90.000 Einwohner) halten weder IC noch ICE. Ebenso wenig in Chemnitz (240.000 Einwohner), wo ich meine Ausbildung gemacht habe. Man fühlt sich abgehängt. Wenn ich ehrlich bin, fährt also immer auch ein kleines bisschen Genugtuung mit, wenn ich im Flixbus sitze.
Was ich mich aber bisher nie gefragt habe: Wie kann Flixbus auf Dauer so günstig sein? Wie kann ein Busunternehmen daran noch etwas verdienen? Unter welchem Druck stehen die Busfahrer, die nicht nur fahren, sondern auch saubermachen, Gepäck ein- und ausladen sowie Snacks verkaufen und Tickets checken müssen?
Flixbus ist der Branchenprimus
Flixbus gibt es in seiner heutigen Form erst seit 2013. Inzwischen bietet die Münchner Firma täglich 250.000 Verbindungen in 28 Ländern an, 2017 fuhren 40 Millionen Menschen in den grünen Bussen mit. Vor fünf Jahren hatte der gesamte Linienfernbusmarkt Deutschlands lediglich rund acht Millionen Kunden, heute sind es rund 25 Millionen.
Binnen weniger Jahre ist Flixbus zum Branchenprimus in Europa geworden, hat in Deutschland einen Marktanteil von 94 Prozent (Anteil Fahrplankilometer) und ist seit diesem Sommer auch in den USA am Start. Der Firmenwert wird auf eine Milliarde Euro geschätzt.
„Der Anfang ist schmerzgetrieben, man wächst, weil man wachsen muss“, sagte André Schwämmlein, einer der drei Flixbusgründer, vor Kurzem der Bloomberg Businessweek, „aber jetzt können wir uns mehr unseren Möglichkeiten widmen. Wir denken, wir können in den USA einen Markt aufbauen.“ Bis Ende des Jahres will Flixbus dort bereits 1.000 Verbindungen anbieten können. Und das soll natürlich schnell mehr werden.
Mit etwas Geld von den Großeltern ging es los
Heute steht Flixbus für Fernbusse, wie Facebook für soziale Netzwerke oder Tempo für Taschentücher steht. Dabei war es eine ganz andere Firma, die den Markt überhaupt geschaffen hat: das Start-up DeinBus, das drei Studenten der Zeppelin-Universität Friedrichshafen im Jahr 2009 gründeten. Die BWL-Studenten waren während ihrer Auslandssemester als Backpacker mit Überlandbussen über die romantischen Rumpelstraßen Spaniens und Osteuropas gereist, und als sie wieder in Deutschland waren, fragten sie sich: Warum gibt es das eigentlich nicht auch bei uns – billige Busverbindungen zwischen Großstädten?
Der Grund dafür lag in einem Gesetz aus dem Jahr 1934: dem Personenbeförderungsgesetz. Darin war geregelt, dass es im Fernverkehr zwischen deutschen Städten jeweils nur einen Anbieter geben dürfe. Das Gesetz sollte die Reichsbahn konkurrenzlos machen, wo immer man ihr gerade teure Schienen hingelegt hatte. Ein Monopol entstand, das lange niemand infrage stellte. Bis die drei Studenten aus Friedrichshafen kamen. Jana Gioia Baurmann erzählte die Geschichte 2010 in der Zeit:
„Die drei BWL-Studenten wälzten Gesetzestexte, telefonierten mit Behörden und fanden schließlich eine Lücke in besagtem Gesetz: Gemäß §49 darf jeder Mensch einen Bus mieten und sich mit anderen zusammentun. Die Mitfahrer müssen allerdings ein ‚zusammengehöriger Personenkreis‘ und sich über Ziel und Ablauf der Fahrt einig sein.“
Mit ihren Ersparnissen, mit Geld von Freunden, Eltern und Großeltern sowie mit dem Rat ihrer Dozenten starteten die Studenten ein Online-Portal. Wenn 15 Reisende für eine Strecke zusammenkamen, wurde ein Bus gemietet und los ging es. DeinBus war gegründet.
Sie sangen „Nieder mit dem Monopol!“
Es folgten jahrelange Rechtsstreitigkeiten mit Bahn und Behörden, doch DeinBus wuchs und vor allem Geringverdiener nutzten das Angebot. Weitere Unternehmen wurden auf den neuen Markt aufmerksam und in den Medien die Rufe nach einer Liberalisierung lauter. Schließlich brachte CSU-Verkehrsminister Peter Ramsauer die Gesetzesänderung ein, die mit Stichtag 1. Januar 2013 die fast 70 Jahre währende Monopolstellung der Deutschen Bahn beendete (ähnliche Marktliberalisierungen hatte es zuvor unter anderem im Post- und Telekommunikationswesen gegeben).
Die drei Jungunternehmer von DeinBus stießen mit Sekt auf diesen Tag an, das Fernsehen kam vorbei, sie trugen bunte T-Shirts und sangen „Nieder mit dem Monopol!“ Ein Jahr später drohte ihnen die Insolvenz. Auf dem Markt, den die drei BWL-Studenten liberalisiert hatten, tobte ein Preiskrieg, bei dem ein Unternehmen nach dem anderen auf der Strecke blieb. Nur Flixbus wuchs immer weiter.
Wolfgang Steinbrück führte früher ein Busunternehmen aus Gotha mit 90 Jahren Tradition, ein Familienunternehmen. Zu DDR-Zeiten fuhr man nebenbei noch Kohle aus, später die Ostdeutschen mit Schnitzel, Kartoffelsalat und Biergarnitur nach Paris und Amsterdam, Wochenendtrips mit Frühstück auf der Place de la Concorde. Stadt- und Regionalverkehr waren der Alltag, für das Zusatzgeschäft musste man ein Näschen haben. Steinbrück hatte immer einen guten Riecher. Zu Ostzeiten entging er der Verstaatlichung, nach der Wende gehörte er zu den ersten, die Busse aus dem Westen kauften, 1994 setzte er als erster Erdgasbusse ein, und als die drei DeinBus-Gründer die Reform des Personenbeförderungsgesetzes vorantrieben, nutzte auch er eine der lukrativen Ausnahmeregelungen.
Bustickets, billiger als Latte Macchiato
Gemeinsam mit BerlinLinienBus, einem Tochterunternehmen der Bahn, bot er bereits 2011 die Strecke Erfurt – München an. Für 29 Euro. „Die Busse waren voll. Wir dachten, jetzt werden wir reich“, sagt Steinbrück. Die Preise waren so kalkuliert, dass sechs Fahrgäste gereicht hätten, um die Kosten einer Tour zu decken. 2013 ging Flixbus an den Start und bot die gleiche Verbindung für 9 Euro an. Steinbrücks Busse waren plötzlich leer. Nach drei Monaten stellte er die Route ein. Später machte ihm Flixbus ein Angebot, Verbindungen für das Unternehmen zu fahren. Zu den Konditionen hätte er nicht wirtschaftlich arbeiten können, sagt Steinbrück, und lehnte ab.
Nur wenig später fragte sich auch Christian Janisch, einer der Gründer von DeinBus: „Wenn ein Latte macchiato mit Muffin teurer ist als ein Busticket, wie soll man da Geld verdienen?“ Während sein Unternehmen für eine Fahrt von München nach Hamburg einen Ticketpreis von 29 Euro kalkulierte, fuhr Flixbus für ein Viertel.
Die Gründungsgeschichte von Flixbus ist der von DeinBus eigentlich ziemlich ähnlich: drei junge Männer, die sich Gedanken machten über Mobilität in Zeiten des Internets. André Schwämmlein, Daniel Krauss und Jochen Engert gründeten bereits 2011 die Firma GoBus, aus der dann 2013 Flixbus wurde. Die drei kannten sich durch Schule und Studium in Nürnberg, sammelten schon an der Uni und später weltweit Erfahrungen als Wirtschaftsberater für die IT-Branche. Sie beobachteten den US-Markt genau und knüpften nützliche Kontakte. So haben sie sich ordentlich Finanzkraft ins Boot geholt: Zu den Investoren der Münchner gehört neben den US-amerikanischen Risikokapitalgebern General Atlantic und Silver Lake Management auch die Holtzbrinck Gruppe, die zum Beispiel in Zalando und Delivery Hero investierte. Das ist natürlich eine andere Nummer, als Oma und Opa anzupumpen.
Busse besitzen? Ein dreckiges Geschäft, Flixbus hält sich raus
Die aggressive Preispolitik des Unternehmens blieb nicht ohne Folgen. Nach und nach gaben die Mitbewerber auf, ADAC Postbus, city2go, Megabus, BerlinLinienbus – trotz millionenschwerer Investitionen. Als Flixbus 2016 schließlich mit dem Marktführer MeinFernbus fusionierte (und die Farbe der Busse von blau auf grün wechselte) hatten die Münchner das Monopol in Deutschland sicher.
„Angesichts des Marktanteils von mehr als 80 Prozent wäre es nicht schlecht gewesen, wenn die Fusion wenigstens vom Kartellamt geprüft worden wäre“, erklärte der Wettbewerbsökonom Justus Haucap damals der Süddeutschen Zeitung. Laut deutschem Kartellrecht wird jedoch erst geprüft, wenn eine der beteiligten Firmen mehr als 500 Millionen Euro Umsatz weltweit erwirtschaftet. Da Flixbus sich aber aus dem „dreckigen, kostenintensiven Geschäft, Busse zu besitzen und zu betreiben“, wie Bloomberg Businessweek das beschreibt, heraushält, ist der Umsatz des Unternehmens geringer als die Summe aller vermittelten Fahrten. Und damit kartellrechtlich nicht relevant. In den USA wird übrigens ab 80 Millionen Dollar geprüft.
Seit 2016 sind manche Tickets 60 Prozent teurer
Ökonom Haucap und andere Experten dringen seit Jahren auf eine Herabsetzung der Umsatzschwellen, weil sie nicht mehr zeitgemäß seien. „Sie stammen aus einer Zeit, in der Unternehmen anders expandierten als heute“, sagte Angelika Westerwelle, langjähriges Mitglied der Monopolkommission der Bundesregierung der SZ. Früher sei ein Busmarkt eher langsam gewachsen, Route für Route. „Heute verhält sich ein Unternehmen wie Flixbus wie ein Digital-Start-up: Es erkauft sich schnelles Wachstum mit sehr niedrigen Preisen.“ Wer länger durchhält, beherrscht irgendwann den Markt. Selbst mit niedrigen Umsätzen.
Und ist die Konkurrenz einmal ausgeschaltet, steigen die Preise für die Kunden: Seit 2015 sind die Flixbus-Tickets durchschnittlich 16 Prozent, auf einzelnen Strecken sogar mehr als 60 Prozent teurer geworden, berichtet die ARD unter Berufung auf Vergleichsstudien des Busreiseportals checkmybus.de.
Der Wirtschaftswoche sagte Flixbus-Gründer André Schwämmlein Ende 2017: „Der US-Markt funktioniert heute ähnlich wie der europäische Markt vor zehn Jahren. Das Image der Fernbusse ist verstaubt, die Kunden kommen aus dem Low-Income-Milieu. Fernbusse in den USA sind heute so uncool wie das in Europa früher der Fall war. Städte mit Colleges und Universitäten werden uns mit offenen Armen empfangen. Die Studenten warten auf uns.“
Seine Zahlen legt Flixbus nicht offen und hat immer bestritten, eine unfaire Preispolitik zu gestalten, Branchenverbände und Gewerkschaften haben aber wiederholt betont, dass das Unternehmen unmöglich kostendeckend unterwegs sein kann, und prangerten Preisdumping an.
Flixbus selbst besitzt nur einen einzigen Bus, und den auch nur aus Lizenzgründen. Es ist eigentlich gar kein Busunternehmen. Das Geschäftsmodell ähnelt eher dem von Uber und anderen Technologie-Start-ups.
„Flixbus hat viele vor dem Aus gerettet“
Flixbus stellt sein datensammelndes Buchungssystem, das freshe Marketing, die bequeme App und das umfangreiche Liniennetz bereit. Klein- und mittelständische Busunternehmen leisten die Fahrten, stellen die Busse, Fahrer und bekommen dafür einen Teil der Ticketeinnahmen. Flixbus verlangt unter anderem moderne Busse mit Internet und Bordtoilette. Wie die Vergütung an die Partnerunternehmen geregelt ist, gibt Flixbus nicht bekannt. Bloomberg behauptet, dass 75 Prozent der Ticketpreise an die Busfirmen gehen.
Dutzende Flixbus-Partner haben die Kooperation mit Verlusten beendet. Aber rund 300 arbeiten teilweise seit Jahren mit Flixbus, kauften zusätzliche Busse und stellten neue Fahrer ein. „Für manche lohnt es sich, für andere nicht“, sagt Wolfgang Steinbrück, der bis vergangenes Jahr Präsident des Verbandes der deutschen Omnibusunternehmer war. „Aber gut ist so ein Monopol sicher nicht.“
Jule Steinbrück ist im Unternehmen ihres Vaters aufgewachsen, baut nun ihre eigene Reiseagentur auf. Sie sagt: „Die Busunternehmer hatten Probleme, sie haben verschlafen, Antworten auf Billigflieger und Carsharing zu finden. Flixbus hat ihnen ein Geschäft vor die Nase gesetzt. Das hat viele auch vor dem Aus gerettet.“
Ihr Vater musste vergangenes Jahr Insolvenz anmelden. Nachdem Steinbrück jahrzehntelang im Auftrag der regionalen Verkehrsgesellschaft durch den Landkreis Gotha gefahren ist, kündigte ihm der Landrat von einem Monat auf den anderen den Vertrag auf, angeblich aus Kostengründen – zu Unrecht, wie inzwischen mehrere Gerichte festgestellt haben. Sein Geld bekam Steinbrück trotzdem nicht, seine Routen gingen an die Mitbewerber. Die konnten es auch nicht billiger, inzwischen hat die regionale Verkehrsgesellschaft ebenfalls Insolvenz angemeldet und sich damit auch der gegen sie laufenden Betrugsverfahren entzogen. Von einst 60 Bussen besitzt Steinbrück jetzt noch zwei.
„Wenn ich ankomme, sieht der Bus aus wie Sau”
„Wir haben nicht gewonnen, weil wir das meiste Geld hatten, und wir sind auch nicht immer die günstigsten. Wir haben uns auf den Kunden, die Marke und die Technologie konzentriert“, sagte André Schwämmlein, Flixbus-Gründer, der Deutschen Welle. Eine Monopolstellung seines Unternehmens könne er nicht erkennen, da man sich noch „auf einem Wettbewerbsmarkt mit allen anderen Verkehrsträgern befinde“ – womit Auto, Bahn und Zug gemeint sind. Seit vergangenen Sommer macht Flixbus der Bahn nun auch direkt Konkurrenz: Auf den Strecken Berlin –Stuttgart und Hamburg – Köln sind die Flixtrains bereits unterwegs, nächstes Jahr kommt Berlin – München dazu.
„Wenn ich in Berlin oder Hamburg ankomme, da sieht der Bus immer aus wie Sau. Die kommen da mit ihrem Burger-King-Zeug, und dann fliegt das Papier durch den Bus, da wird der Mund an den Gardinen abgewischt, die Hände am Sitz, die Krümel bleiben überall liegen. Nee, furchtbar. Ich hab doch keine Zeit, das sauberzumachen“, sagt Rudi.
Wir sind auf dem Weg nach Hamburg und haben gerade die gesetzliche Pause eingelegt, auf einem Rasthof kurz vor Braunschweig. Rudi hat noch zwei Minuten auf der Uhr, der Fahrtenschreiber protokolliert das alles ganz genau, deshalb steht er jetzt im Gang und erzählt aus dem Leben.
„Und das ist keine Frage von Jung oder Alt! Ich hatte hier einen mit 1.000 Ringen im Gesicht, die Haare gelb und grün, der hat sich astrein benommen, der kann gern bei mir im Bus essen. Aber dann hatte ich hier einen, feiner Herr mit Krawatte, und der war auf Klo und danach kommt eine Frau zu mir – während der Fahrt – und sagt, der hat sein großes Geschäft nicht mal runtergespült. Das muss man sich mal vorstellen. Da hab ich ihn dann beim nächsten Halt gefragt, das musste ich einfach wissen: „Was ist denn bei ihnen schiefgelaufen? Das ist doch nicht normal!“ Und er sagt: „Ich bin Doktor, Sie können mir gar nichts!“
Wird der Preiskrieg auf den Rücken der Fahrer ausgetragen?
Während der Pause am Rasthof hatte sich die Reisegesellschaft wie üblich so gleichmäßig um den Bus verteilt, wie das Klopapier rund um die Toilettenhäuschen. Alles in der Natur entspricht eben einem ähnlichen Muster, von Sanddünen über Schildkrötenpanzer bis zur Einsamkeit der Postmoderne. Es bleibt eine Ausnahme: Rudi, der Flixbusfahrer.
Unterwegs hat er seiner Freundin, die in Halle zugestiegen ist, erzählt, dass er einmal einen Job als Lkw-Fahrer verlor, weil er auf der gleichen Ladefläche, auf der er zuvor Klärschlamm transportierte, Äpfel für Hipp-Babynahrung fahren sollte. „Nur mal kurz mit Wasser abspritzen sollte ich die Ladefläche, stell dir das mal vor! Ich sag, Chef, das geht doch nicht, das soll mal Babybrei werden, das ist doch unverantwortlich! Da hat er mich rausgeschmissen. Hat dann jemand anderes gefahren.“
In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Medienberichte darüber, dass der Preiskrieg im Fernbusmarkt auf dem Rücken der Fahrer ausgetragen wird. Allerdings ist schwer mit Fakten zu beantworten, ob es sich um Ausnahmen oder eher die Regel handelt, dass Fahrer länger unterwegs sind, als sie eigentlich dürfen – denn es gibt erstaunlich wenig verfügbare Daten. Bei Kontrollen beanstandete das Bundesamt für Güterverkehr laut den letzten verfügbaren Zahlen von 2015 rund 30 Prozent aller überprüften Busse, unterscheidet aber nicht zwischen Linienbussen und Reisebussen.
Der NDR berichtete vor zwei Jahren über einen Flixbus-Subunternehmer aus Niedersachsen, dem innerhalb von drei Monaten 720 größtenteils schwerwiegende Verstöße von der Gewerbeaufsicht nachgewiesen worden waren. Er musste ein Bußgeld zahlen. Kürzlich kontrollierte die Bundespolizei zwölf Busse auf dem Zentralen Omnibusbahnhof von Hannover. Resultat: Vier Fahrer hatten ihre erforderlichen Ruhezeiten nicht eingehalten, fünf weitere Fahrer hatten ihre Arbeitszeit gar nicht erst festgehalten. An drei Fahrzeugen stellten die Beamten Mängel am Licht fest. Ein Reisebus aus Serbien war nicht nur zu schnell unterwegs, er hätte wegen fehlender Papiere gar nicht in Deutschland fahren dürfen.
Ich habe Dieter Schäffer vom Verband mobifair, der sich „für fairen Wettbewerb in der Mobilitätswirtschaft“ einsetzt, gebeten, solche Meldungen zu interpretieren: „Typische Verstöße sind nach unseren Beobachtungen Überschreitungen der Lenkzeiten und Unterschreitungen der Ruhezeiten. Das heißt: die Busfahrer fahren zu lange, machen zu wenige und zu kurze Pausen. In der Wachstumsphase des Fernbusmarktes gab es einen enormen Preisdruck und einen brutalen Verdrängungswettbewerb.“
„Das hat sich auf die Kostenstruktur ausgewirkt. Die Qualität und das Alter der Fahrzeuge wurde von Plattformbetreibern wie Flixbus vorgeschrieben. Da gab es wenig Einsparpotenzial für die Busunternehmen. Daher wurde an der Lohnschraube gedreht, da es keinen bundesweit einheitlichen Lohn/Tarif bei Busfahrern gibt“, sagt Schäffer.
Der Durchschnittslohn: rund 2.000 Euro
Inzwischen ist ein ganz anderes Problem hinzugekommen: Längst gibt es in Deutschland nicht mehr genügend Busfahrer. Ich habe vor meiner Recherche die Leserinnen und Leser von Krautreporter um ihre Fragen und Erfahrungen zum Thema gebeten. Und die Geschichte, die Robert mir mailte, passt hier ganz gut:
„Ich bin mal mit dem Flixbus gefahren, mit einer durchaus redseligen Busfahrerin, die selbst Kfz-Meisterin ist. Sie meinte, dass sie ihrem 16-jährigen Sohn lieber ein Bahnticket kauft. Sie hat ihren Bus an einer Raststätte abgegeben und sagte, sie habe jetzt vier Stunden Ruhezeit. Allerdings müsse sie in dieser Zeit den neuen Bus putzen, Klo entleeren, etc., so dass sie maximal eine halbe Stunde echte Ruhezeit habe. Wenn Busfahrer so händeringend gesucht werden, haben wir sie gefragt, müssten die Löhne dann nicht steigen? Da meinte sie nur: Nö, kommen genug aus dem Osten nach …“
Wie das läuft, erklärt Dieter Schäffer von mobifair: „Häufig wurden von den Busunternehmen eigene Unternehmen im angrenzenden europäischen Ausland gegründet. Flixbus selbst ist mittlerweile in fast allen angrenzenden Ländern mit eigenen ausländischen Töchtern präsent. Teilweise änderte sich hierdurch auch die Bedienrichtung der Buslinien: Wurden Linien früher zum Beispiel von Nürnberg nach Prag und wieder zurück durch einen deutschen Subunternehmer bedient, wird dieselbe Linien heute von Prag nach Nürnberg und zurück durch ein tschechisches Busunternehmen bedient. Da sich der Lohn der Busfahrer je nach Herkunftsland unterscheidet, ergibt sich allein aus dem Wechsel der Bedienrichtung ein Preisvorteil über niedrigere Lohnkosten. Fahrer werden in aller Regel nach den Lohnstandards der Herkunftsländer entlohnt.“
Der Durchschnittslohn in Deutschland für Busfahrer beträgt rund 2.000 Euro.
Zwischen Sprakensehl und Bienenbüttel ist man so allein wie im Weltall
Während Rudi seine Ruhezeit einhalten muss, hole ich mir einen Kaffee, drehe mir ein Kippchen und setze mich auf die letzte Bank am Rasthof, da, wo noch ein paar letzte Sonnenstrahlen hinkommen. Neben mir bereiten sich polnische, rumänische und tschechische Lkw-Fahrer auf die Nacht vor, schlappen in Badelatschen über den Parkplatz, mit Handtüchern, Obstmessern und Töpfen, spannen Wäscheleinen. Aus einem Kleintransporter dringt ein Hämmern, es klingt, als schlägt jemand Nägel ein. Arbeitet da jemand?
Dann stemmt ein Mann in kurzen Hosen mit einer Holzlatte die Plane des Kleintransporters hoch und öffnet die Ladefläche wie ein Zelt. Drinnen sitzt ein zweiter Mann in kurzen Hosen auf einem Feldbett und schneidet Tomaten. Das Hämmern stammt vom Deckel einer Mayonnaiseflasche, deren Inhalt der Kollege nun liebevoll wie ein Konditor auf dem Boden einer Glasschüssel verteilt. Während die beiden polnischen Kraftfahrer ihr Abendbrot vorbereiten, die Flixbusgäste wie depressive Schakale rund um den verschlossenen Bus herumlungern und in einem türkischen Truck der Samowar kocht, kommt Rudi Arm in Arm mit seiner Freundin angeschlendert. Die beiden bleiben im letzten Flecken Sonnenlicht stehen und knutschen, bis die Pause (fast) rum ist.
Dann beginnt unsere abenteuerliche Weiterreise nach Hamburg, eine mehrere Hundert Kilometer lange Fährtensuche, ein Kampf gegen Zeit und Raum und Stau und Baustellen und störrische Navigationssysteme, aber Rudi hat wie immer die Route vorher einstudiert. „Hier können wir auch mal privat langfahren”, sagt er seiner Freundin, die inzwischen mit dem Tablet auf dem Schoß als Co-Steuermann eingesprungen ist, denn zwischen Sprakensehl und Bienenbüttel ist man so allein wie im Weltall.
Entlang der B4, die ödeste Fernverkehrsstraße Deutschlands
Runter von der Autobahn und auf Ausweichrouten über Land, durch gottverlassene Nester und Backsteinsteppen, vorbei an Dutzenden „Fernfahrerficks“, wie Rudi die Dutzenden lichterkettenbehangenen Wohnmobile nennt, die alle paar Kilometer am Rande der Kiefernforste entlang der B4, der ödesten Fernverkehrsstraße Deutschlands, stehen. Wir weichen dem Stau aus wie Soldaten, die hinter feindliche Linien geraten sind, immer auf der Flucht vor dem Unsichtbaren, nur hier bestaunt von nachttrunkenen Niedersachsen in Metallica-Shirts, die alle paar Kilometer im Nichts stehen wie mongolische Gers.
Schließlich, Einfahrt in Hamburg, über die Elbe, im Bus geht das Licht an, Bonnie Tyler im Radio, „eine Stunde Verspätung, aber mindestens nochmal eineinhalb Stunden Stau eingespart“, verkündet Rudi triumphierend über das Busmikro und wünscht uns allen eine schöne Nacht.
„Und seid lieb zueinander.“
1000 Dank für eure Fragen, Erfahrungen und Tipps für die Recherche an die Krautreporter: Knut, Jörg und Holger, Vera, Robert, Peter, Berenike, Paula, Roland, Oliver, Enni, Alissa, Simone, Paul, Julia, Matthias, Michael Z., Michael C., Sascha, Andreas, Wolf, Malte und Nicolas!
Redaktion: Alexander von Streit. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherbild: Flixbus).