„Möglicherweise bin ich jetzt auch wahnsinnig, das öffentlich kundzutun“ – so geht es mir mit dem Thema Armut immer. Aufgrund des Stigmas stehen Arme immer in einem seltsamen Verhältnis: Vertrittst du dich selbst, outest du dich damit und beraubst dich selbst der Chance, aus der Armut zu entkommen. Die Armut selbst ist dabei so facettenreich und unterschiedlich, dass es keine einheitlichen Interessen gibt.
Arme können jahrelang nebeneinander wohnen, ohne dass sie selbst voneinander wissen. Zumindest hatte ich dieses Erlebnis vor einem Jahr: Es gibt bei uns in der Stadt einen Sozialpass. Dieser grüne Schein berechtigt zum Kauf eines Sozialtickets mit einer Kontrollnummer.
In der U-Bahn trafen meine Nachbarin und ich zufällig zusammen und redeten kurz miteinander. Währenddessen kamen Fahrkartenkontrolleure – und wir beide zogen unseren grünen Sozialpass, was sie mit einem verschämten Lächeln und „Ah, auch die Günstigen“ kommentierte. Obwohl wir schon über 20 Jahre im selben Haus wohnten, wussten wir beide nicht, dass der jeweils andere Haushalt arm ist. Man zeigt seine Armut nicht, redet nicht darüber, und wäre die Fahrkartenkontrolle nicht gewesen, wüssten wir weiterhin nichts voneinander.
Arme haben kein Interesse am Kontakt mit anderen Armen
Um sich Gehör zu verschaffen, müssten sich Arme untereinander solidarisieren und offen miteinander reden. Das kann aber nicht passieren, weil die Geschichten der Armut äußerst unterschiedlich sind. Hinzu kommt, dass ein Armer kein Interesse hat, den Kontakt zu anderen Armen zu suchen, da diese ihm garantiert nicht aus der Armut heraushelfen können. Der andere Arme kann einem weder eine Arbeitsstelle geben noch einen Geschäftskontakt herstellen. Vielleicht bin ich heute auch nur deswegen eher bereit, darüber zu reden, weil ich kein Selbstständiger mehr bin und deswegen auch nicht mehr auf Geschäftskontakte angewiesen bin.
Armut ist immer relativ. Im Gegensatz zu manchen anderen armen Haushalten ist meiner noch relativ reich. Ich habe keine Schulden, somit gehöre ich nicht zu den überschuldeten Haushalten. Außerdem verfüge ich sogar über eine Finanzreserve von drei Monatsgehältern, was mich schon ein paar Mal, wenn die Zahlungen des Jobcenters aufgrund von Bearbeitungsfehlern ausgeblieben sind, vor der Verschuldung gerettet hat.
Ich pendele zwischen Arbeitslosigkeit, Hartz IV und Unternehmertum
Allerdings stamme ich aus einem Unternehmerhaushalt und habe nach der Insolvenz meiner Unternehmen ein anderes Verhältnis zu Finanzen als zum Beispiel ein anderer Nachbar. Im Gegensatz zu mir scheint er nicht zwischen Arbeitslosigkeit, Unternehmertum und Hartz IV zu pendeln, sondern zwischen Gefängnis, Einzug bei der Mutter und eigener Wohnung – zumindest ist das mein Eindruck aus den letzten 20 Jahren. Das mit dem Gefängnis weiß ich aber auch nur aus Zufall, weil sich ein Polizist mit der Aussage „Halten Sie sich von dem fern“ verquatscht hat. Dabei lebe ich noch nicht einmal in einem sozialen Ghetto. Bei uns parkt durchaus mal ein Bentley auf der Straße, und im Haus gegenüber wohnt jemand mit einem Wohnmobil, das nicht unter 100.000 Euro zu haben ist.
Aber auch hier muss ich vorsichtig sein, denn äußere Statussymbole sagen nichts über den Reichtum oder die Armut aus. Woher ich diese Annahme habe, mag eine Geschichte aus den späten 80er Jahren verdeutlichen. Auf dem Weg von einer Reederei ins Büro der Firma meines Vaters saßen er und ich in einem S-Benz. Das Gespräch zwischen uns entwickelte sich so, dass meinem Vater irgendwann die Tränen über die Wangen liefen, weil wir grade 500.000 D-Mark verloren hatten. Der äußere Schein sagt über solche Verluste allerdings nichts.
Die Tränen meines Vaters wären geschäftsschädigend gewesen
Dazu kam, dass der Scheck einer anderen Firma über 100.000 D-Mark geplatzt war.
Der damalige Vorstandsvorsitzende wurde später deswegen verurteilt, was uns in dieser Situation aber gar nicht half. Heutzutage wäre das Ganze in der Gesetzeslage sogar noch eine Spur schlimmer. Hätten die heutigen Gesetze damals schon gegolten, wären unsere Unternehmen in die Insolvenz gegangen.
Dennoch waren die Tränen meines Vaters – und ich hatte ihn noch nie zuvor weinen sehen – alles andere als grundlos. Und damit kommen wir zum Schein, denn nach dieser Situation kamen wir im Büro an – die Tränen waren weggewischt und selbstverständlich bekam die Sekretärin von der ganzen Lage nichts mit. Im Geschäftsleben ist das alles Entscheidende sowas nicht durchsickern zu lassen, noch nicht einmal gegenüber der eigenen Angestellten oder gar denen gegenüber schon gar nicht.
Das Telefon klingelte und ein Kunde wurde durchgestellt, der ein Haus bauen wollte. Ich erlebte live, wie mein Vater, nachdem er im Auto noch geweint hatte, eine 180-Grad-Wende vollzog und sich in den solventen, agilen Bauunternehmer verwandelte. Ende der 80er Jahre hatten wir drei Firmen: eine Werbefirma, eine Lithographiefirma und eine Baufirma. Dieser eine Auftrag rettete uns, und es ging weiter, obwohl das Ganze zu diesem Zeitpunkt am seidenen Faden hing. Und wenn einer gespürt hätte, wie es tatsächlich um uns stand, wäre es zu Ende gewesen. Armut darf nicht sein, es allein zählt der Schein.
Was hat die Geschichte nun mit dem 100.000-Euro-Wohnmobil des Nachbarn zu tun? Nun, dessen Geschäft ist es offensichtlich, in einer Band Musik zu spielen, und genauso wie die S-Klasse meines Vaters ist das Wohnmobil in diesem Fall ein Betriebsmittel. Es lässt sich daraus nicht ersehen, wie es tatsächlich um die finanzielle Situation des Unternehmers bestellt ist.
Ich bin sozusagen eine faule Hartz-IV-Socke
Wäre ich nicht so dermaßen auf den Hund gekommen, dass ich für mich eh keine Chance mehr sehe, würde ich einen Teufel tun, diese Geschichten zu erzählen. Ich selbst bin nicht die ganze Zeit erwerbslos. Arbeitslos bin ich schon gar nicht, nur wird das, was ich mache, nicht bezahlt. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich eine große Demo mitorganisiert – hätte mir jeder Teilnehmer 50 Cent gegeben, wäre am Ende ein Jahreseinkommen dabei herumgekommen, von dem ich leben könnte – aber so funktionieren Demos ja nicht. Und alle Aktionen, die ich in den letzten Jahren gestartet habe sind brotlos. Im Gegenteil, ich stecke da noch Geld rein und bin froh, wenn sich irgendwer an den Kosten beteiligt, was nicht immer der Fall ist.
Ich habe den Fehler begangen kurz vor dem 11. September 2001 einem
Auflösungsvertrag zuzustimmen. Danach hatte ich Schwierigkeiten, einen Anschlussjob zu bekommen. Den letzten Job hatte ich bei einer Firma, die von einem Großkonzern geschluckt wurde. Im Rahmen der Umstrukturierung wurde mein Arbeitsvertrag nicht verlängert, und ich wurde vor die Tür gesetzt.
Ich habe kein Abitur, und meine IT-Kenntnisse sind praxisbezogen. Die
deutsche Arbeitslandschaft ist sehr zeugnisorientiert, so dass ich sehr
häufig gar nicht erst zum Bewerbungsgespräch komme. Also mache ich IT-Support für verschiedene soziale Projekte und Kleinstparteien – Geld bekomme ich für all das natürlich nicht. Ich bin sozusagen eine faule
Hartz-IV-Socke, die nichts tut …
Manche richten sich für Generationen in der Armut ein
Ich glaube nicht, dass irgendjemand die indifferente Situation der Armen überhaupt versteht. Ich glaube auch, dass es die typische Armut gar nicht gibt. Aber was aller Armut gemeinsam ist, sie outet sich nicht, da das jede Chance zerstören würde, sich aus der Armut zu befreien. Jeder Mensch hat die Hoffnung, der Armut zu entkommen. Manchen gelingt es, anderen nicht. Manche richten sich letztlich für Generationen darin ein.
Ein anderer Punkt, warum Arme in der Politik kein Gehör finden, ist die Position der Beamten. Diese sind von der Lebenswirklichkeit solcher Welten meilenweit entfernt, setzen aber Gesetze und Politik um. Denen fehlt jedes Verständnis für den Kampf ums Überleben. Sie bekommen selbstverständlich einen Kredit auf der Bank für das eigene Häuschen, denn das Beamtengehalt ermöglicht eine Kreditaufnahme zu Konditionen, von denen jeder Unternehmer nur träumen kann – wenn er denn überhaupt noch einen Kredit bekommt. Ich spüre das Unverständnis bei Beamten in der Verwandtschaft. Wenn ich die Unterschiede zu Armen noch nicht mal einem Verwandten klar machen kann, um wie viel weniger erst einem Wildfremden?
Menschen suchen immer nur die einfachen Erklärungen
Es ist fast unmöglich, das außerhalb der Filterbubble zu kommunizieren – ich für mich bezeichne das als „soziale Dissonanz“. Jens Spahn glaubt das, was er sagt, da bin ich mir ziemlich sicher. Er versteht die Aufregung nicht, weil in seiner Welt alles in Ordnung ist. Und nichts für ungut, auch im Journalismus ist das in gewisser Hinsicht so. Die Vertiefung in soziologische Verhältnisse ist auf der Jagd nach Neuigkeiten und Berichtenswertem gar nicht möglich.
Ich habe gerade „Die letzte Stunde der Wahrheit“ von Armin Nassehi gelesen. Der Mann hat für meine Begriffe hundertprozentig recht. Wir leben in einer komplexen Welt und sind offensichtlich nicht bereit, die Komplexität an sich anzuerkennen. Es sind immer nur die einfachen Erklärungen, und da sind die Armen halt die faulen Alkoholiker, die ihre Kinder verprügeln. Was nicht zählt sind die unterschiedlichen Motive und Lebensläufe und der Fakt, dass jeder einzelne Arme aus anderen Gründen und Lebensgeschichten arm wird. Sie verbindet letztendlich nur eins:
Armut darf nicht sein, allein es zählt der Schein.
Dieser Text ist Teil der Serie „Was ich wirklich denke“ von Theresa Bäuerlein. Darin lässt sie Menschen zu Wort kommen, die interessante Berufe haben oder in herausfordernden oder besonderen Lebenssituation stecken. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de
Redaktion Rico Grimm und Tobias Eßer, Schlussredaktion Vera Fröhlich, Bildredaktion Martin Gommel (Aufmacherfoto: unsplash / Shamim Nakhai) .