Zwischen den kahlen Bäumen der Ritterstraße in Berlin-Kreuzberg liegt ein eher unspektakulärer Bau: Ein Wohnhaus, wie man es bereits hunderte Male gesehen hat – minimalistisch mit Stahlgerüst und Holzfassade. Hinter den Balkons, die sich rund um das sieben Stockwerke hohe Gebäude winden, vermutet man kaum Antworten auf die dringende Frage: Wie kann man nachhaltig und ressourcenschonend bauen? Und das obendrein für möglichst viele Menschen?
Denn in den deutschen Großstädten sind bezahlbare Wohnungen Mangelware. In Deutschland fehlen, nach aktuellen Schätzungen, eine Million Wohnungen. Es gibt kaum Bauland, und wenn doch, wird es zu Höchstpreisen versteigert. Die Regierung hat den „sozialen Sprengstoff”, der in der Wohnungsfrage liegt, erkannt und mit der Wohnraumoffensive im aktuellen Koalitionsvertrag angekündigt, den benötigten Wohnraum zu schaffen. Dazu möchte die GroKo ein Baukindergeld in Höhe von 1.200 Euro je Kind und pro Jahr einführen, um Familien beim Ersterwerb eines Zuhauses zu unterstützen. KfW-Banken, also Förderbanken, werden Bürgschaftsprogramme einführen, mit denen der notwendige Eigenkapitalanteil für den Hauserwerb gesenkt wird.
Allerdings sind selbst die fünfmonatigen Verhandlungen der Koalitionsregierung, hinzugerechnet zu den Versäumnissen der vergangenen zehn Jahre, wertvolle Zeit, die bei der Schaffung von bezahlbaren Wohnungen vergeudet wurde. Bei so einem Zögern des Staates kann man es manchen nicht verübeln, wenn sie ihre Existenz in der Stadt auf eigene Faust sichern wollen.
Mal beim Nachbarn reinschauen – kein Problem
Nähert man sich dem Wohnprojekt R50, wie der Bau am Ende der Kreuzberger Ritterstraße heißt, wird langsam offensichtlich, dass hier mehr im Gange ist, als das Wohnhaus auf den ersten Blick vermuten lässt. Der Balkon rund um das Gebäude scheint kaum markiert oder getrennt zu sein. Die großen Glasflächen dahinter stehen für alle Augen offen und einladend da. Einfach mal beim Nachbarn reinschauen? Kein Problem.
Hier wohnen überwiegend freiberuflich tätige Menschen, die irgendwann realisierten, dass sie sich ihr Leben in der Innenstadt aufgrund der steigenden Mieten und wegen ihres schwankendes Einkommens vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr würden leisten können. Als die Baulücke zwischen den riesigen Wohnhäusern der Otto-Suhr- Siedlung 2010 vom Senat konzeptgebunden angeboten wurde, bewarb sich die zunächst zehn Mitglieder zählende Baugruppe beim Liegenschaftsfonds um das Kreuzberger Grundstück. Die Jungen, Kreativen, Architekten, Journalisten und Designer – ausschließlich Paare – hatten Erfolg. Ihr Ziel: Eine Gemeinschaft bauen, nicht nur ein Haus. Und günstig genug, damit sich das nicht nur „Bonzen“ leisten können.
Alle lieben den großen Gemeinschaftsraum
In den unteren Stockwerken dominiert eine breite Glasfront das Bild des Hauses. Sie erstreckt sich über zwei Etagen. Hinter der Glasfassade befindet sich ein Raum, der wie eine Designer-Bar aussieht, samt Klavier und Tischtennisplatte.
Vor dem Eingang steht Christoph Schmidt, Architekt und Bewohner des Baugruppenprojekts R50 in Berlin-Kreuzberg. Eifrig schließt er die Tür zu dem „Prachtstück” seines Werkes auf – dem Gemeinschaftsraum. „Hier finden unsere Kindergeburtstage und Haustreffen statt”, sagt Schmidt und zeigt auf die gestapelten Ameisen-Stühle. „Der Mieterbund der Otto-Suhr-Siedlung trifft sich hier. Außerdem haben wir im Gemeinschaftsraum auch ein Gästezimmer. 2015 hatten wir über ein halbes Jahr eine elfköpfige geflüchtete Familie hier bei uns”, erzählt der 49-Jährige stolz.
Der Gemeinschaftsraum ist für Schmidt der wichtigste Aspekt des Gebäudes. Eine Fusion zwischen alltäglicher, gemeinschaftlicher, aber auch öffentlicher Nutzung. An der man aber arbeiten muss. Schon lange versuchen die Bewohner, den Raum der umliegenden Siedlung zu öffnen und auch die Nachbarn an den Aktivitäten von R50 zu beteiligen. Dabei sahen sie selbst, am Anfang, den 130 Quadratmeter großen Gemeinschaftsraum eher skeptisch: „So ein großer Raum stellt einen auch irgendwie unter Druck. Was machen wir da? Ist da etwas los? Findet heute Nachmittag etwas statt?”, erklärt Schmidt.
Eine durchaus erfolgreiche Variante der Gemeinsamkeit bietet die Waschküche. „Wir haben schleichend versucht, die Idee einer gemeinsamen Waschküche vorzuschlagen. Darauf haben die Bewohner erstmal negativ reagiert. Sie waren das einfach nicht gewohnt”, berichtet der Architekt. Langsam setzte sich das Konzept durch. Mittlerweile benutzen 60 bis 70 Prozent der Bewohner die Waschküche und die gemeinsamen Waschmaschinen. „Die Umstellung auf ein gemeinschaftliches Wohnen, auch wenn dies nur das Wäschewaschen oder einen Gemeinschaftsraum betrifft, fällt einigen schwer. Es lohnt sich aber”, sagt Schmidt.
„Ich liebe unseren Gemeinschaftsraum”, quietscht Stephanie vergnügt. Die Journalistin und Übersetzerin war von Anfang an dabei. Sie, ihr Mann und ihre beiden Töchter waren die ersten, die im Wohnprojekt R50 eingezogen sind. „Ich nutze den Raum für meine Italienisch-Kurse. Andere Bewohner machen Partys hier. Da habe ich Tür gemacht – richtig mit Bomberjacke und allem Drum und Dran.” Ihr Enthusiasmus kommt in der Gruppe gut. „Zwei Mal hatten wir uns bereits ohne Erfolg für ein Grundstück bei der Stadt beworben. Das dritte Mal hat es dann endlich geklappt.”
Gefällt Stephanie eigentlich alles an dem Wohnprojekt? „Na ja, eigentlich wünsche ich mir ein paar Türen. Wir haben in unserer Wohnung nur zwei in den Kinderzimmern. Mein Mann mag die Zugänglichkeit unserer Wohnung sehr, aber so eine Tür hinter sich zumachen zu können, wäre schon gut”, sagt Stephanie und grinst dabei breit.
Das sieht nicht fertig aus, sagten die meisten
Auch das fast brutalistische Bild der Räume machte den Bewohner anfänglich zu schaffen. „Der Zement-Estrich ist den Bewohner erstmal komisch vorgekommen”, sagt Architekt Schmidt. „Das sieht nicht fertig aus, sagten die meisten.” Dabei ist es genau dieses Gefühl des Unvollendeten, das den günstigen Bau ermöglicht hat. Dass überall die letzte Schicht fehlt, ist ein wesentlicher Beitrag zur Ressourcenschonung. Keine Holz- oder Granitböden. Hier galt es günstig zu bauen.
Um das gesetzte Ziel von 2.000 Euro Baukosten pro Quadratmeter nicht zu überschreiten, wurde ein gemeinsamer Standard für alle Wohnungen ausgesucht. Die Individualität der Bewohner sollte nicht durch verschiedene Materialien, sondern durch räumliche Variabilität zum Ausdruck kommen. Jede einzelne der 19 Wohnungen, die um die 100 Quadratmeter Fläche haben, besitzt eine unterschiedliche Raumaufteilung, die nach längeren Gesprächen der Architekten mit den Bewohnern vereinbart wurde.
Die Genossen wurden letztendlich doch Eigentümer
Jede Etage sollte ursprünglich über einen gemeinschaftlichen Raum von 20 Quadratmeter verfügen, der als Arbeitsraum oder als Zimmer für Gäste oder ältere Kinder gedacht war. Diese Idee wurde jedoch im Laufe des Prozesses aufgegeben. Stattdessen gibt es jetzt den Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss. Und eine andere Anfangsidee ging leider nicht auf: Die Interessenten, die das Projekt gestartet hatten, wollten eigentlich eine Genossenschaft gründen. Eigentumsbildung stand eigentlich nicht auf dem Plan.
Am Ende wurden die Bauherren doch Eigentümer. Die Kosten waren in beiden Fällen, ob Genossenschaft oder Eigentum, ohne externe Förderung gleich hoch. „Eine Genossenschaft scheint unter den gegenwärtigen Bedingungen für ein Einhausprojekt kaum direkte soziale Vorteile zu bringen”, sagt Schmidt. „R50 ist jetzt eine Eigentumsgemeinschaft. Jeder kann mit seiner Wohnung machen, was er will”, fügt der Architekt hinzu. Der Nachteil: Die Idee, mit der die Gruppe an den Start gegangen ist – ein Haus zu bauen und eine Gemeinschaft zu schaffen – wird juristisch nicht durch eine Genossenschaft geschützt.
Trotzdem ist man bei R50 stolz über das, was man erreicht hat. „Die Leute kennen sich hier von Anfang an”, sagt der Architekt. 2010 entschlossen sich die Interessenten, in das Projekt zu investieren, und zwar nicht nur Geld, sondern auch Zeit. 2013 war das Wohnhaus dann fertig und einzugsbereit. Nach immerhin drei Jahren. „Dadurch entwickelt sich Zusammenhalt. Bevor die Leute zusammen wohnen, lernen sie sich zwei bis drei Jahre kennen. Es entstehen Hemmschwellen, die Wohnungen nicht dem Markt auszuliefern. Man ist eben eine Schicksalsgemeinschaft.”
Mit den Nachbarn scheint sich auch Stephanie recht gut zu verstehen, man teilt ja auch den Balkon und trifft sich dort vor allem im Sommer täglich. Trotzdem ist es nicht immer einfach: „Manchmal kriegt man den Dreh zum Freund einfach nicht so gut hin, wenn man Nachbar ist”, sagt sie. Eine Baugemeinschaft zu haben, hat auch eine ganz andere Bedeutung als bloß Eigentümer zu sein. „Das heißt, du musst deine Türen öffnen”, sagt die Autorin. „Dich jedem Problem und jeder Angst stellen. Ich habe hier gelernt, mich zu öffnen.”
Die Baugenossenschaft Spreefeld entwickelt ein Experiment direkt an der Spree
Etwas nördlicher, in der Köpenicker Straße und direkt an der Spree, steht die Wohngenossenschaft Spreefeld. Auf dem alten Gelände der Strandbar Kiki Blofeld ragen seit 2014 drei fast identische Wohnhäuser in die Höhe. Doch auch hier findet man keine Lofts, Büros und Luxusapartments, sondern gemeinschaftlichen Lebensraum.
Zeitnah zum R50 begann auch die Baugenossenschaft Spreefeld, ihr Projekt zu entwickeln. 2007 entstand – im Zusammenhang mit der Initiative „Mediaspree versenken!“, die sich gegen eine massive Bürohaus-Bebauung des Spreeufers in Kreuzberg-Friedrichshain wandte – die Idee, das Spreeufer und die daran angrenzenden Flächen öffentlich zugänglich zu machen. 2008 wurde das Projekt der Allgemeinheit vorgestellt, bevor 2011 das 7.500 Quadratmeter große Gelände von der Stadt erworben wurde.
Die Wohnhäuser der Baugenossenschaft Spreefeld liegen an diesem späten Märztag sonnenverwöhnt am Ufer. Auf dem großen Hof tummeln sich Kinder der Kita Spreefeld im Freien und spielen vor dem Wintergarten, der aussieht, als ob er aus einem Märchen der Brüder Grimm stammt.
Michael LaFond geht eilig durch den Garten der Siedlung. Der gebürtige Amerikaner betreibt die Gartengemeinschaft der Genossenschaft und plant gerade einen Feldweg, der die Köpenicker Straße mit dem Spreeufer verbinden soll, um so den Zugang von Besuchern zu erleichtern. „Manchen in der Genossenschaft gefällt das nicht unbedingt.” Ihn stört die Aufmerksamkeit rund um die Genossenschaft allerdings nicht. „Die Offenheit unseres Projektes war von Anfang an Teil der Vereinbarung. Klar nerven einen die Touristenboote, und manchmal hat man auch genug von den Besuchern, aber deswegen haben wir ja auch keine Wohnungen im Erdgeschoss.” Im Erdgeschoss befindet sich eine Kita, eine Kantine und mehrere Coworking Spaces. Das gemeinschaftliche Wohnen schließt das gemeinschaftliche Arbeiten nicht aus.
Den Platz zum Kochen, Essen, Sitzen und Waschen teilen
Christian Schöningh, Architekt und Entwickler des Bauprojekts, hatte ein Schild auf dem Gelände der Strandbar entdeckt. „Die BIMA, die Bundesanstalt für Immobilien, hatte hier eines Tages ein Schild angebracht, etwa so groß wie ‘Rasen nicht betreten’, und darauf stand: ‘Grundstück zu verkaufen’, erzählt Schöningh.
Aus diversen Baugruppen-Projekten hatte der 57 Jahre alte Architekt gelernt, wie man gewagte Projekte realisiert und die dabei entstandenen Probleme angeht. Die Idee dahinter war einfach: Es gibt Dinge, die jeder in einer Wohnung braucht – einen Platz zum Kochen, Essen, Sitzen und Waschen. Warum sollte man diese Räume nicht teilen? Die restlichen Räume sind privat. Dadurch spart man Material und verringert den sowieso bereits knappen beanspruchten Raum.
Die Wohnungen hier sind ganz verschieden, je nach Bedürfnis: Für einen Single rund 30 Quadratmeter, für Pärchen etwa 70 Quadratmeter und für Familien gut 100 Quadratmeter Platz, alles mit kleiner Küche und Bad. Wer sich aber vor seine Haustüre stellt, steht nicht im Treppenhaus, sondern in den Räumen, die man gemeinsam nutzt – zwei Küchen, ein Wohnzimmer, ein Balkon. Aber es gibt auch Wohngemeinschaften, die ein wenig anders aussehen. In den Wohnräumen auf zwei Stockwerken, in denen bis zu zwölf Menschen leben, wird auch das Bad und die Küche geteilt, eben typisch WG, in einer aber eher ungewohnten Form.
Die Baukosten im Spreefeld lagen bei rund 2.100 Euro pro Quadratmeter, weniger also als die Hälfte der üblichen Baukosten. Das liegt auch daran, dass die Genossenschaft vor sechs Jahren für das Grundstück nur 2,3 Millionen Euro gezahlt hat – nach heutigen Maßstäben einen günstigen Preis.
Außerdem brachten die Bewohner viel Eigenkapital mit, umgerechnet 40 Prozent für das 17-Millionen-Euro-Projekt. Aber auch Genossen ohne Eigenkapital bekamen die Möglichkeit, in das Projekt einzusteigen. Die Genossenschaft hat das Grundstück als Sicherheit angeboten, um auch ihnen mit einem Kredit zu helfen.
Eines war Schöningh jedoch äußerst wichtig: „Kein Wohneigentum!” Im Rahmen der Genossenschaft gibt es ein lebenslanges Dauerwohnrecht, das aber auch an die Kinder der Genossen weitergegeben werden kann. „Nur wenn wir uns von gewissen individuellen Eigentumsstrukturen lösen, gelingen vielleicht auch andere Formen des gemeinschaftlichen Wohnens”, sagt der Architekt.
Auch Michael LaFond teilt diese Ansicht und schätzt das gemeinschaftliche Leben sehr, gibt aber zu, dass es nicht für jeden tauglich ist. Seit 30 Jahren ist der US-Amerikaner in Berlin; seit vier Jahren wohnt er in einer der WGs des Wohnprojekts. Heimweh hat er, seitdem er ins Spreefeld eingezogen ist, bisher noch nicht. Denn was im Spreefeld und im naheliegenden R50 entstanden ist, ist genau das, was viele Wahlberliner wie LaFond gesucht haben – ein wenig Gemeinschaft und ein Stück Heimat.
Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel; Aufmacherfoto und Fotos im Text: Efthymis Angeloudis.
Meinen Dank an den Architekten Ioannis Siopidis für die wissenschaftliche Unterstützung.